E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Petitcollin Mein Kind denkt und fühlt zu viel
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96121-563-8
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie geforderte Eltern ihre Kinder bedürfnisorientiert und achtsam begleiten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-96121-563-8
Verlag: mvg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kinder, die wenig schlafen, sich sehr viel bewegen oder stundenlang in einer Ecke sitzen bleiben, immer wieder Blockaden oder plötzliche, nicht nachvollziehbare Wutanfälle haben, werden bei der Suche nach konkreter Hilfestellung oft problematisiert und in eine Schublade gesteckt. Gerade das ist kontraproduktiv, wie die französische Psychotherapeutin Christel Petitcollin aus eigener Erfahrung weiß. In diesem Buch vermittelt sie ein tiefes Verständnis für die komplexen Denk- und Gefühlsstrukturen von Kindern mit Hochsensibilität, ADHS, Dyslexie, Autismus und Hochbegabung - der erste wichtige Schritt für eine liebevolle und unterstützende Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern. Anhand einfacher und konkreter Lösungsvorschläge erfahren Eltern, wie sie für ihr Kind einen vertrauensvollen Rahmen schaffen und seine Gefühle ernst nehmen, sodass es trotz aller Schwierigkeiten eine gesunde und starke Persönlichkeit entwickelt.
Christel Petitcollin ist Psychotherapeutin, Kommunikationstrainerin und Coach für zwischenmenschliche Beziehungen. Seit 25 Jahren ist sie Lehrerin und begleitet Eltern, deren Kinder besondere Bedürfnisse haben. Die Autorin von »Ich denke zu viel« (2017) lebt und arbeitet in Montpellier, Frankreich.
Weitere Infos & Material
Kapitel 4
Aus der Praxis
Mental hocheffiziente Kinder brauchen vor allem einen Erwachsenen, der sich die Zeit nimmt, um ihnen zu erklären, wer sie sind, wie sie funktionieren und inwiefern sie anders sind. Diese Offenbarung wirkt Wunder. Jedes Mal, wenn ich das gemacht habe, haben mir die Eltern gesagt, ihr Kind sei wie verwandelt. Ein Workshop mit »hyperaktiven« Kindern
In der Schweiz machte ich mit zehn als »hyperaktiv« geltenden Kindern eine wichtige Erfahrung. Auf Initiative von Claude-Hélène, einer Sonderschullehrerin, habe ich einen Workshop in einer Grundschule veranstaltet. Zehn Kinder im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren haben daran teilgenommen. Das Ziel bestand darin, sie in die Lage zu versetzen, mit ihrer Hyperaktivität so gut wie möglich umzugehen. Ich stand am Eingang des Mehrzweckraums der Schule und begrüßte sie nacheinander, in der Reihenfolge, in der sie hereinkamen, und begann, sie zu beobachten. Simon, sieben Jahre alt, war ein kleines Energiebündel. Fröhlich, lebendig, sprudelnd und ein absoluter Dinosaurierfan. Er konnte alle Dinosaurierarten aufzählen und sprach von nichts anderem! Mathieu, zehn Jahre alt, neckte ihn gutmütig, indem er ihm erzählte, es gäbe noch einen Dinosaurier (dem er einen gelehrt klingenden Namen gab), den Simon nicht kannte. Simon wurde wütend und schrie: »Ich sage dir, dass ich alle Dinosaurier kenne! Den gibt es nicht!« Mathieu ritt aber weiter darauf herum, einfach weil er Lust hatte, Simon zu ärgern, aber Simon ließ nicht locker. Unterdessen traf Ludovic ein, 14 Jahre alt, finsterer Blick, die Kiefer zusammengepresst. Ich begrüßte ihn und versuchte, ihm ein willkommenes Gefühl zu geben: »Hallo, Ludovic. Weißt du, warum du hier bist?« – »Ja«, antwortete Ludovic wütend, »ich bin hier, weil ICH ein Problem bin!« Dann kam Marie, ein junges Mädchen, bei dem ein Aufmerksamkeitsdefizit diagnostiziert wurde und das große Probleme in der Schule hatte; sie wirkte sehr zurückgezogen. Dann kamen Chloe, Nathan usw. Als alle da waren, setzten wir uns auf Stühle, die im Kreis aufgestellt waren, und ich begann, diesen zehn Kindern zu erklären, warum sie als »hyperaktiv« bezeichnet wurden. Im Grunde hatte ich mich entschieden, ihnen einfach den Inhalt meines Buches Ich denke zu viel zusammenzufassen. Ich habe ihnen von einem Gehirn erzählt, das anders funktioniert, und habe begonnen, das System ihrer Sinneswahrnehmung detailliert zu beschreiben. »Ihr seid ›hochsensibel‹«, erklärte ich. »Das bedeutet, dass eure fünf Sinne stärker entwickelt sind als bei den Durchschnittsmenschen. Ihr seht zum Beispiel sehr viel mehr, weil ihr einen ausgeprägteren Sinn fürs Detail habt.« Simon rief lebhaft: »Zu Hause nennen sie mich ›Adlerauge‹!« Mathieu rief begeistert: »Bei mir heißt es, ich hätte ›Augen wie ein Luchs‹!«, und andere fügten hinzu: »Ja, ja, bei mir auch: ›Augen wie ein Luchs‹!« Wir sprachen über das Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen und jedes der Kinder hatte eine Anekdote als Beweis für seine hochsensiblen Sinne. Und so ging der Workshop weiter: Nach und nach erzählte ich ihnen den Inhalt des Buches, und die Kinder stimmten allem zu und bestätigten es mit persönlichen Beispielen. Ludovics finsterer Blick verschwand nach und nach, und er begann, ein wenig Interesse zu zeigen. Wir sprachen über alles, einschließlich des Multitasking-Gehirns, das mehrere Dinge gleichzeitig tun muss. Simon rief aus: »Es stimmt, ich lasse mich gern mit dem Kopf nach unten baumeln, weil ich so besser lernen kann!« Ein anderes Kind fügte hinzu: »Ja, ich mag es, während ich Hausaufgaben mache, Musik zu hören oder fernzusehen, das hilft mir. Aber meine Eltern wollen das nicht!« Anschließend besprachen wir die Geschwindigkeit ihres Denkens. Ich erklärte ihnen, dass ihnen mit einem so schnellen Gehirn die Schulstunden vielleicht manchmal langweilig erscheinen, weil die Lehrerin gezwungen ist, langsamer vorzugehen und mehrfach zu wiederholen, aus Rücksicht auf die anderen Schüler. Die Kinder bestätigten es mir einstimmig. Um es mit ihren Worten zu sagen: »Im Unterricht langweile ich mich so sehr, dass ich schreien könnte, ich langweile mich zu Tode! Mir ist so langweilig, dass ich mich zwinge einzuschlafen, damit ich mich nicht mehr langweile!« Chloe fügte eine Variante hinzu: »Meine Lehrerin ist sehr nett. Sie erlaubt es mir, auf den Flur zu gehen, um dort zu schreien. Also gehe ich manchmal aus dem Klassenraum und schreie ganz laut auf dem Flur! Danach fühle ich mich besser.« Und Claude-Hélène bestätigte mir, dass sie manchmal Chloe schreiend auf dem Flur antrifft. Das hat mir einen heftigen Stich verpasst, von ihrem unermesslichen Leid zu hören, sich ständig zurückhalten und dermaßen zügeln zu müssen. Das sind so lebendige, brillante Kinder, so aufgeweckt – und sie sind gezwungen einzuschlafen, um die Folter dieser endlosen Schulstunden ertragen zu können! Was für ein Horror, was für eine Verschwendung! Dann sprachen wir über das Thema Angst. Ich habe das bereits im Kapitel über Gefühle angesprochen. Mit einem mäandernden Gehirn, das so kreativ und fantasievoll ist, gibt es selbstverständlich viele Ängste, die sehr schwer zu steuern sind. Mental hocheffiziente Kinder haben einen ständigen Angsthintergrund. Ich habe bei dieser Gelegenheit entdeckt, dass diese Kinder, in der Hoffnung, eines Tages die Angst zu beherrschen, ständig versuchen, sich mit ihr zu konfrontieren. Mit ebenso viel Angst wie Aufregung fielen sie sich gegenseitig ins Wort, um mir von Zombie-Filmen zu erzählen. Der Zombie schien für sie der Gipfel dessen zu sein, was ihnen Angst machte, aber es gestanden gleich mehrere von ihnen, dass sie traumatisiert waren durch die Bilder dieser Filme und dass ihre Ängste noch schlimmer geworden waren statt besser. Ich denke, Eltern von mental hocheffizienten Kindern, die von ihrer Hochsensibilität und überbordenden Fantasie wissen, müssen besonders vorsichtig sein und sie nicht Horrorfilme gucken lassen, trotz der morbiden Anziehung, die davon ausgeht. Nach etwas mehr als einer Stunde im Workshop hob Mathieu seine Hand: »Madame, wir sind hyperaktive Kinder, könnten wir jetzt ein bisschen draußen rumlaufen?« Die anderen Kinder stimmten ihm sofort zu. Aber natürlich! Wieso war ich nicht selber darauf gekommen? Wir machten eine Pause. Sie eilten in den Hof, um zu rennen, zu springen, zu klettern ... Zehn Minuten später ging ich hin, um zu sehen, ob sie genug hatten, aber die Kinder flehten mich an, ihnen noch mehr Zeit zu geben. Fünf Minuten später kamen sie freiwillig wieder in den Raum. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie ihr Bedürfnis nach Bewegung sehr gut kannten – die Erwachsenen sollten ihnen hier voll vertrauen – und auch, dass dieser Workshop sie wirklich interessierte. Als Nächstes sprachen wir über Dyslexie (Legasthenie), und ich verteilte ihnen dazu einen kleinen Text, in dem die Buchstaben in den Wörtern vertauscht waren. Die Jüngsten, die gerade erst lesen lernten wie Simon oder Nathan, konnten den Text nicht lesen, aber die Größeren waren angeregt und amüsiert. Marie kam endlich aus ihrer Reserviertheit heraus. Sie strahlte. Später erzählte sie ihren Eltern, dass »es ausnahmsweise mal lustig und interessant war, was zu lesen, weil es kompliziert war!« Na sowas! Und stellen Sie sich das vor: Dieses junge Mädchen, das an einer »Aufmerksamkeitsdefizitstörung« litt und in der Schule versagte, hat sogar einen Rechtschreibfehler in meinem Text entdeckt! Sie war die Einzige, die ihn gesehen hat. Am Abend, auf der Elternkonferenz, konnten die Erwachsenen den Fehler nicht finden, obwohl ich ihnen gesagt habe, dass sich einer im Text verbirgt. Die Kinder fühlten sich verstanden und fragten, ob sie zeichnen dürften, während sie mir zuhörten, »weil ich ja gesagt hatte, dass sie Multitasking beherrschten und mehrere Dinge gleichzeitig tun müssten«. Das Ende des Workshops fand also mit auf dem Bauch liegenden Kindern statt, die zeichneten und malten, während sie mir zuhörten. Es ist nicht leicht, von der Theorie zur Praxis überzugehen. Mir fiel es schwer, zu Kindern zu sprechen, die mich anscheinend nicht beachteten. Aber sie waren aufmerksam bei der Sache. Als ich den Workshop mit der Frage abschloss »Habt ihr noch Fragen? Habt ihr verstanden, wie euer Gehirn funktioniert?«, antwortete Mathieu für die ganze Gruppe: »Natürlich haben wir alles verstanden, denn wir sind mental hocheffizient!« Und wie recht er hatte! Sie stimmten ihm alle stillschweigend zu. Ludovic lächelte breit. Ich fragte ihn: »Also, Ludovic, ist es ein Problem, so zu sein, wie du bist?« Er antwortete strahlend: »Nein, es ist toll, ein solches Gehirn wie meines zu haben!« Dem stimme ich uneingeschränkt zu! Der Workshop fand am Nachmittag statt. Am selben Abend hielt ich einen Vortrag in der Schule zum gleichen Thema, diesmal für die Erwachsenen. Die Eltern waren da und der Schuldirektor, aber nur vier von 30 Lehrern (darunter Claude-Hélène, die alles organisiert hatte) und keiner der beiden Logopäden. Das finde ich ziemlich entmutigend. Sogar Simons Lehrerin, die behauptete, große Schwierigkeiten mit einem Kind wie ihm zu haben, das »so manipulativ sei«, hat sich nicht die Mühe gemacht, zu kommen. (Ich hätte ihr geraten, Simon einen Aufsatz über Dinosaurier schreiben zu lassen, das hätte dieses bezaubernde Kind besänftigt!) Die teilnehmenden Eltern bestätigten mir, dass die Kinder nach dem Workshop sehr zufrieden und bereits verändert waren. Ein paar Wochen später hat mir Claude-Hélène erzählt, dass die Kinder aus unserem Workshop mehr Selbstvertrauen hatten, die Noten hatten sich verbessert wie auch die Beziehungen zu den anderen Schulkindern. Am Ende des Trimesters...