Picoult Serenitys Gabe
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-20803-5
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Short Story
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-20803-5
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie mehr als zwanzig Romane, von denen viele Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste waren. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa 2003 mit dem renommierten New England Book Award. Picoult lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und zahlreichen Tieren in Hanover, New Hampshire. Serenitys Gabe ist eine Kurzgeschichte um eine Hauptfigur des Romans Die Spuren meiner Mutter.
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Serenity, 1993
Im Alter von vier Jahren erzählte ich meiner Mutter immer wieder, dass der kleine Junge in unserem Haus Sachen stahl. Ich sollte vorausschicken, dass ich ein Einzelkind war – und somit frühreif. Ich sagte auch, dass ich einmal auf dem Mond leben, Haarverlängerungen erfinden würde, die im Dunkeln leuchteten, und Donny Osmond heiraten würde – und kann deshalb verstehen, warum meine Mutter mir nicht glaubte, wenn ich ein imaginäres Kind dafür verantwortlich machte, dass ich meine Barbiepuppe nicht fand oder die emaillierte Schnupftabakdose, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte und die einfach verschwunden war. Soweit ich mich erinnere, habe ich wegen der Geschichten, die ich erzählte, sogar eine Tracht Prügel bekommen, obwohl ich nur allzu gut wusste, dass das, was ich sagte, der Wahrheit entsprach. Und als ich dann eines Tages einen Blick in mein Zimmer warf und den Jungen entdeckte – diesmal durchwühlte er meinen Schreibtisch und kehrte mir dabei den Rücken zu –, schlich ich deshalb auf Zehenspitzen über den Flur und schleifte meine Mutter mit, damit sie es mit eigenen Augen sehen konnte.
Durch die offene Tür zeigte ich auf den Jungen. Er dürfte etwa sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, war aber nicht so gekleidet wie ich oder andere mir bekannte Kinder. Er trug Hosen, die ihm nur bis zu den Knien reichten, und diese schienen aus demselben schwarzen Samt zu sein wie auf unserem Elvis-Gemälde im Wohnzimmer; außerdem lag um seinen Hals ein Spitzenkragen, dessentwegen man ihn zum Mädchen abgestempelt hätte, wenn er einen Fuß in meine Vorschulklasse gesetzt hätte. »Hey!«, rief ich, als er aus der Schublade gerade ein Stirnband mit aufgeklebten rosa Gänseblümchen zog, das ich am liebsten mochte.
Er riss den Kopf herum und sah mir direkt in die Augen. Und als ich blinzelte, war er weg.
»Ich habe es dir doch gesagt«, sagte ich zu meiner Mutter, aber die blickte nicht auf die Stelle, an der sich der kleine Junge befunden hatte. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen mich an.
Wäre das heute passiert und nicht in den frühen Siebzigerjahren, hätte man mich womöglich zu einem Kinderpsychiater geschleppt und mir tolle Medikamente verschrieben, vielleicht sogar ein MRT an mir durchgeführt. Aber meine Mutter, deren übersinnliche Fähigkeiten nicht größer waren als die einer Seegurke, hatte noch immer einen Sinn für das, was sie bei ihrer eigenen Großmutter erlebt hatte, einer Irokesenschamanin, die den Schnee schon eine Woche im Voraus spürte und Todesdatum und Todesart für jeden Mann vorhersagte, für den sie sich je interessiert hatte. »Serenity«, sagte sie und packte mich dabei an den Schultern. »Dieser Junge ist nicht real.«
Ich lachte sie nur aus. »Für mich ist er es«, erwiderte ich.
So etwa würde ich in aller Kürze meinen Beruf als Medium zusammenfassen. Nur weil du etwas nicht sehen kannst, bedeutet das nicht, dass ich es nicht sehe. Ich kann es nicht erklären, ich kann es nicht verstehen und ich kann es nicht leugnen.
Und ich werde einen Teufel tun, dagegen anzukämpfen.
Niemals treffe ich meine Gäste vor der Show. Ich habe Sendeleiter, die dafür sorgen, dass sie sich in ihrem Aufenthaltsraum wohlfühlen, wo Tabletts mit erlesenen Früchten für sie bereitstehen und es einen Minikühlschrank mit Mineralwasser und Fruchtsäften und Bechern mit dem SERENITY!-Logo darauf gibt, die sie als Souvenir mit nach Hause nehmen können. Mir ist wichtig, dass die erste Interaktion zwischen uns so unverstellt wie möglich stattfindet. Auf diese Weise spüre ich bereits, wenn ich die Hand meines Gasts ergreife, diesen Energiewirbel, diese Verbindung, und nichts schiebt sich dazwischen.
Heute ist Bethany – die Assistentin der Assistentin der Regieassistentin oder was sie sonst für einen albernen Titel haben mag – diejenige, die klopft und ihren Kopf in meine Garderobe streckt. Sie ist klein, verhuscht und von allem hingerissen, vom Herstellungsleiter bis zur Kaffeemaschine. An diesen Job ist sie über einen Onkel gekommen, der ein hohes Tier in der Wirtschaft ist. Als sie die Tür öffnet, höre ich das Summen des Studiopublikums. Im Unterschied zu den meisten anderen Talkshows versuchen wir nicht, einfach die Sitze mit Laufpublikum vom Hollywood Boulevard zu füllen. Unser Publikum muss ins Röhrchen blasen, damit wir sicher sein können, dass alle nüchtern sind, und wir stellen Hintergrundrecherche an. Unter dieser Voraussetzung ist es mir überhaupt erst möglich, im Fernsehen eine mediale Deutung zu machen, denn bei der Verbindung mit der paranormalen Welt geht es einzig und allein um Energie, und wenn die Energie des Studiopublikums wegen Drogen und Alkohol durcheinander ist, wird es schwerer für mich, die Geister zu hören. Doch trotz dieser klaren Regel haben wir eine dreijährige Warteliste voller Leute, die ganz scharf darauf sind, in die Show zu kommen.
Ganz zu schweigen von der langen Liste derjenigen, die bereits tot sind.
»Tut mir leid, wenn ich Sie störe, Serenity«, sagt sie. »Es sind noch fünf Minuten bis zur Aufnahme.«
Als ich einen prüfenden Blick in den Ganzkörperspiegel werfe und meine auf dem Kopf aufgetürmten rosafarbenen Haare, mein Markenzeichen – je höher die Haare, desto näher an Jesus –, meinen farblich dazu abgestimmten Hosenanzug aus Shantungseide und meine hochhackigen Louboutinschuhe mit Plateausohle betrachte, sehe ich darin auch ihr Spiegelbild. »Was halten Sie von diesen Schuhen, Bethany?«, frage ich sie.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie so teuer sind wie ihre Miete. »Die sind super«, antwortet sie.
»Und Sie glauben nicht, dass das Rot der Sohle sich beißt?«
»Die wird gar keiner sehen«, sagt Bethany und errötet. Da hat sie recht. Aber ich werde es wissen. Und mich daran erinnern, dass meine Mutter, nachdem mein Vater sich umgebracht hatte, für uns Campbell-Wochen verkündete, in denen wir alle nur Suppe aßen, bis sie ihren nächsten Lohn bekam. Ich werde mich daran erinnern und diese Schuhe betrachten und mir sagen, wie passend es ist, dass dieser sechste Sinn, mit dem ich gesegnet bin, manchmal ein Geschenk genannt wird.
Ich kann Lucinda spüren, einen meiner Geistführer, sie gibt mir einen medialen Rempler, und ich verdrehe die Augen. »Bethany«, sage ich und weissage ungebeten – obwohl ich das nur ganz selten mache. »Sie werden jemanden kennenlernen. Er ist aus Finnland … Schweden … von irgendwo dort oben, wo es kalt ist und wo es Heringe und so gibt. Es wird in einem Bus passieren. Wenn er Sie fragt, ob Sie Hilfe brauchen, sagen Sie Ja, auch wenn es nicht nötig ist.«
»Ich fahre nicht mit dem Bus«, sagt Bethany.
»Vielleicht sollten Sie das tun«, erwidere ich barsch. »Und zwischen den Haltestellen können Sie vielleicht darüber nachdenken, warum man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen soll.«
Bethany bleibt der Mund offen stehen. Dann schluckt sie und verlässt den Raum.
Beruhige dich Kind, sagt Lucinda, eine sehr vornehme ältere Afroamerikanerin.
Mein anderer Geistführer ist Desmond, ein frecher, streitlustiger Schwuler. Auch ihn kann ich hören, er lacht in den tiefen Winkeln meines Gehirns. Da ist heute Morgen aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden.
»Oh, lass stecken«, erwidere ich, aber voller Zuneigung. Er und Lucinda sind meine Wächter. Ich vertraue auf ihren Schutz, so wie ich Felix – der in etwa die Größe des Mount Everest hat – dafür bezahle, dass er mich hier auf Erden bewacht. Sie sind Wächter des Übersinnlichen und können, wenn ein Geist sich meldet und meint Ich muss mit Serenity sprechen, sagen: Sie ist nicht da. Ohne sie würde ich mit Anfragen aus beiden Richtungen – dieser Welt und der nächsten – bombardiert, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Ich bin dazu bereit, mich auf dieser gestrichelten Linie zwischen zwei metaphysischen Ebenen zu bewegen, aber zu meinen Bedingungen. Ich möchte nicht, dass die Geister den ganzen Tag über durch die Wände kommen und sagen: »Oh, da ist mein Enkelkind, richten Sie ihm doch Grüße aus.«
Ich glaube, dass jedermann einen Geistführer hat – nur bemüht sich nicht jeder darum, ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Geistführer haben als Menschen gelebt. Sie verfügen über einen sehr hoch entwickelten Seelenzustand und haben im Leben viele Lektionen gelernt. – Das ist der Sinn des Lebens, wissen Sie, dass man sich auf die nächste Ebene hocharbeitet, bis der Seelenzustand so rein wie möglich ist. – Geistführer werden jedenfalls damit betraut, uns Irdischen zu helfen – nicht, um uns zu sagen, wie wir unser Leben führen sollen, sondern um die Dinge zwischen dieser Welt und der nächsten zu vereinfachen. Desmond erzählt mir ständig, es sei nicht sein Job, mir Ratschläge zu erteilen, ob ich nun ein Primetime-Spezial mache oder nicht, sondern er sei einfach nur da, um mich aufzuheben, wenn ich vom bockenden Ross des Lebens falle.
Vor jeder Show sind Desmond und Lucinda die Letzten, mit denen ich spreche, bevor ich meine Garderobe verlasse. »Gehen wir’s an«, fordere ich sie heraus, und diese Worte habe ich noch jeder medialen Sitzung vorangestellt, die ich je gemacht habe – sogar schon damals, als ich noch am Old Orchard Beach im Zelt saß oder bei MetaphysiGals.com mediale Telefonberatung machte. Jawohl, und jetzt habe ich die zweitgrößte Talkshow im Privatfernsehen; jawohl, jetzt wohnt meine Mutter in einem Bungalow nicht weit entfernt von meinem Zuhause in Malibu und kann anstatt Tomatensuppe Kaviar essen, wenn sie möchte; jawohl, jetzt erkennt man mich auf der...




