E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Picoult Wir schreiben unsere Namen in den Wind
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32837-5
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. »Jodi Picoult ist einzigartig! Ihre Romane berühren das Herz und erweitern den Verstand.« Emily Henry
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-641-32837-5
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England im frühen 17. Jahrhundert: Emilia Bassano liebt das Schreiben, doch als Frau hat sie keine eigene Stimme. Nur für einen hohen Preis kann sie ihre Geschichten heimlich auf die Bühne bringen: Sie muss einen Mann finden, der sich als Autor ihrer Werke ausgibt. Und dieser ist niemand anders als Englands berühmtester Dramatiker: William Shakespeare.
New York in der Gegenwart: Melina Green ist fest entschlossen, ihr Theaterstück zu veröffentlichen, inspiriert vom Leben ihrer Vorfahrin Emilia Bassano. Auch vierhundert Jahre später wird die Stimme einer Frau immer noch nicht so gehört wie die eines Mannes. Doch wie weit kann Melina gehen, um ihren Traum zu verwirklichen?
»Jodi Picoult ist einzigartig! Ihre Romane berühren das Herz und erweitern den Verstand.« Emily Henry
Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie neunzwanzig Romane, von denen viele auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Die Autorin versteht es meisterhaft, über ernste Themen unterhaltend zu schreiben. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem renommierten New England Book Award. Jodi Picoult lebt mit ihrem Mann in Hanover, New Hampshire.
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MELINA
Mai 2013
Wenn Melina sich viele Jahre nach ihrem Abschluss am Bard College zurückerinnerte, hatten weder ein Schreibseminar noch ein theaterwissenschaftlicher Intensivkurs den größten Eindruck hinterlassen, sondern ein Anthropologiekurs. Die Professorin hatte das Dia eines Knochens mit neunundzwanzig winzigen Einkerbungen gezeigt. »Der Lebombo-Knochen wurde in den 1970er-Jahren in einer Höhle Swasilands gefunden und ist über vierundvierzigtausend Jahre alt«, erläuterte sie. »Er wurde aus dem Wadenbein eines Pavians angefertigt. Über viele Jahre galt er als der erste einem Mann zugeschriebene Kalender. Und jetzt frage ich Sie: Welcher Mann benutzt einen Kalender mit neunundzwanzig Tagen?« Der Blick der Professorin schien direkt auf Melina gerichtet zu sein. »Geschichte«, ergänzte sie, »wird von den Mächtigen geschrieben.«
Im Frühjahr ihrer Abschlussklasse suchte Melina wie jede Woche ihren betreuenden Professor auf. Professor Bufort hatte in den 1980er-Jahren ein Theaterstück mit dem Titel Wanderlust geschrieben, das den Drama Desk Award gewonnen hatte, am Broadway zur Aufführung kam und für einen Tony Award nominiert wurde. Da es ihn jedoch angeblich schon immer zur Lehre gezogen habe, sei für ihn ein Traum wahr geworden, als das Bard College ihm die Leitung des Theaterprogramms angeboten habe. Melina ging allerdings davon aus, dass die weniger positiven Kritiken seiner weiteren Stücke auch eine Rolle gespielt haben könnten.
Als sie klopfte und eintrat, begrüßte er sie mit den Worten: »Meine Lieblingsstudentin.«
»Ich bin Ihre einzige Abschlussstudentin.« Melina zog einen Haargummi von ihrem Handgelenk, verknotete damit die Haare am Hinterkopf und kramte dann aus ihrem Rucksack zwei kleine Glasflaschen mit Schokomilch von einer lokalen Molkerei. Sie kosteten ein Vermögen, aber sie brachte Professor Bufort jede Woche eine mit. Wegen seiner Blutdruckmedikation hatte er seinen früheren Lastern – Alkohol und Zigaretten – abschwören müssen und meinte scherzend, dass dies nun sein einziges Vergnügen sei. Melina reichte ihm eine Flasche und stieß mit ihm an.
»Meine Retterin«, sagte er und nahm einen großen Schluck.
Wie die meisten Highschool-Kids, die von Hexenjagd und Ein Mittsommernachtstraum geprägt worden waren, war auch Melina mit dem Ziel ans Bard College gekommen, Schauspiel zu studieren. Doch nach einem Schreibkurs realisierte sie, dass sie als Theaterautorin weitaus wirkmächtiger wäre als in jeder noch so genialen Darbietung. Sie begann Einakter zu schreiben, die von Studentengruppen aufgeführt wurden. Vertiefte sich in Molière und Mamet, Marlowe und Miller. Nahm Sprache und Struktur ihrer Stücke auseinander wie ein Schachgroßmeister, dessen Erfolg vom Verständnis des Spiels abhing.
Sie schrieb ein modernes Pygmalion mit einer Schönheitsköniginnen-Mama als Bildhauerin, die ein Abbild der Kinder-Schönheitskönigin JonBenét Ramsey kreiert, aber erst mit ihrer Version von Warten auf Godot, einem Stück, in dem alle Charaktere während eines Parteitags auf den Präsidentschaftskandidaten mit Erlöserzügen warteten, der aber nie kam, sicherte sie sich die Aufmerksamkeit von Professor Bufort. Er ermutigte sie, ihr Stück bei diversen Festivals einzureichen, und obwohl die Wahl nie auf sie fiel, stand für Melina und alle anderen im Fachbereich fest, dass sie eine der wenigen sein würde, die es als Theaterautorin schaffte, auch aufgeführt zu werden.
»Melina«, erkundigte sich Bufort, »was werden Sie nach dem Abschluss machen?«
»Ich bin für Vorschläge offen«, erwiderte sie in der Hoffnung, ihr Mentor würde ihr jetzt ein paar fabelhafte Jobangebote unterbreiten. Schließlich war sie nicht so naiv zu glauben, dass sie ohne einen wie auch immer gearteten Tagesjob in New York überleben konnte, und Bufort war ihr schon früher behilflich gewesen. Einen Sommer lang hatte sie in der Stadt für einen berühmten Regisseur gearbeitet – ein Mann, der eine Kostümbildnerin, die einen Saum nicht gerichtet hatte, mit einem geeisten Latte bombardiert hatte und Melina, obwohl minderjährig, mit in Bars nahm, weil er es vorzog, seinen Lunch in flüssiger Form zu sich zu nehmen. Während anderer Sommer saß sie an der Kasse des Signature-Theatercafés und bediente am Verkaufsstand im Zweiten Rang. Professor Bufort hatte Verbindungen.
Das ganze Geschäft lief über Verbindungen.
»Das ist kein Vorschlag«, sagte Bufort und reichte ihr einen Flyer. »Das ist eher ein Befehl.«
Das Bard College war Ausrichter eines Wettbewerbs unter Collegeabsolventen, mit dem garantierten Hauptpreis eines Zeitfensters beim Samuel French Off Off Broadway Festival.
Gegen den Schreibtisch gelehnt, die Beine knapp vor denen Melinas, stellte er seine Schokomilch ab, verschränkte die Arme und sah sie lächelnd von oben an. »Ich denke, Sie könnten gewinnen«, sagte er.
Sie sah ihm in die Augen. »Aber …?«
»Aber.« Er zog eine Braue hoch. »Muss ich mich wiederholen? Noch mal?«
Melina schüttelte den Kopf. Sie kannte seinen Kritikpunkt an ihren Arbeiten, die er zwar sauber und aussagekräftig, aber emotional steril fand. Als stünde zwischen der Autorin und dem Stück eine Wand.
»Sie sind gut«, bekräftigte Bufort, »aber Sie könnten hervorragend sein. Es reicht nicht, die Gefühle Ihres Publikums zu manipulieren. Sie müssen es davon überzeugen, dass es einen Grund gibt, warum Sie diese Geschichte erzählen. Sie müssen ein wenig Herzblut in Ihr Werk einfließen lassen.«
Aber genau da lag das Problem: Man konnte nicht bluten, ohne den Schmerz des Schnitts zu spüren.
Um seinem Blick auszuweichen, begann Melina den Saum ihres T-Shirts zu kneten. Bufort stieß sich vom Schreibtisch ab und umkreiste sie, bis er hinter ihr stand. »Ich bin nun seit drei Jahren mit Melina Green bekannt«, sagte er dicht hinter ihr. »Aber in Wirklichkeit kenne ich sie überhaupt nicht.«
Sie liebte am Stückeschreiben aber vor allem, dass sie jede andere außer sie selbst sein konnte, ein jüdisches Mädchen aus Connecticut, das während ihres Heranwachsens zu Hause eine unbedeutende Randerscheinung war. Während sie in der Pubertät war, lag ihre Mutter mit einer tödlichen Krankheit darnieder und ihr Vater litt unter vorweggenommener Trauer. Sie lernte, leise zu sein, und sie lernte, selbstgenügsam zu sein.
Keiner wollte Melina Green kennen, am wenigsten Melina selbst.
»Gutes Schreiben geht tief und tut weh – sowohl der Stückeschreiberin als auch dem Publikum. Sie haben Talent, Melina. Ich möchte, dass Sie für diesen Wettbewerb etwas schreiben, das Sie … verletzlich macht.«
»Ich werde es versuchen«, sagte sie.
Buforts Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten zu. Wie jedes Mal, wenn das geschah, redete sie sich ein, dass es nichts zu bedeuten hatte, nur seine Art war, sie seiner Unterstützung zu versichern, wie er das auch machte, als er ihr dank seiner Verbindungen die Jobs in der Stadt verschafft hatte. Als Mann im Alter ihres Vaters dachte er nicht an Grenzen wie Jüngere das taten. Sie sollte nichts hineininterpretieren.
Und wie um das zu unterstreichen, ließ er los. Professor Bufort hob wieder seine Schokomilch an. »Zeigen Sie mir, was Ihnen Angst macht«, sagte er.
Melina lebte damals in einer Wohngemeinschaft mit ihrem besten Freund Andre über einem Thai-Restaurant. Sie hatten sich im zweiten Studienjahr in einem Schreibkurs kennengelernt und zueinandergefunden, weil sie Unsere kleine Stadt für überschätzt, das Musical Carrie für unterschätzt empfanden und sich darin einig waren, dass man Das Phantom der Oper lieben und es dennoch unangenehm gewalttätig finden konnte.
Sobald sie durch die Tür kam, löste Andre seinen Blick von den »Real Housewives«. »Mel! Entscheide, was wir essen«, sagte er.
Andre benutzte als Einziger ihren Kosenamen, der im Griechischen süß bedeutete.
»Welche Wahlmöglichkeiten habe ich?«, fragte Melina.
»Mayo, Vanillecremekekse oder was vom Thai.«
»Schon wieder?«
»Du bist doch diejenige, die über dem Golden Orchid wohnen wollte, weil es so gut duftet.«
Sie sahen einander an. »Thai«, sagten beide gleichzeitig.
Andre schaltete den Fernseher aus und folgte Melina in ihr Schlafzimmer. Sie wohnten nun zwar schon seit zwei Jahren in dieser Wohnung, aber es standen noch immer Kisten auf dem Boden und sie hatte weder irgendwelche Kunstwerke aufgehängt oder wie Andre Lichterketten um das Kopfteil des Betts gewunden. »Kein Wunder, dass du was auf die Reihe kriegst«, murmelte er. »Du lebst in einer Zelle.«
Andre war Stückeschreiber wie sie. Nur dass er im Gegensatz zu ihr noch kein einziges Theaterstück zu Ende gebracht hatte. Er schaffte es gerade mal bis zum zweiten Akt, meinte dann aber, den ersten überarbeiten zu müssen, bevor er weitermachen konnte, und verlor sich schließlich in endlosem Umschreiben. Während des vergangenen Semesters hatte er an einer Nacherzählung von König Lear gearbeitet, mit einer schwarzen Matriarchin, die herauszufinden versuchte, welche ihrer drei Töchter ihr Geheimrezept für Gumbo verdient hatte. Für die Hauptfigur hatte seine Großmutter Patin gestanden.
Er übergab ihr die Post, in der sich heute ein Umschlag, adressiert in der krakeligen Schrift ihres Vaters, befand. Die Beziehung zwischen Melina und ihrem Vater war während der Krankheit ihrer...




