E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Pigliucci Das Handbuch des glücklichen Lebens
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98609-172-9
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
53 kurze Lektionen, um gut zu leben
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-98609-172-9
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Massimo Pigliucci ist Professor für Philosophie am City College of New York. Er ist Autor oder Herausgeber von 13 Büchern und wurde unter anderem in der New York Times, dem Wall Street Journal, Philosophy Now und dem Philosophers' Magazine veröffentlicht. Er lebt in New York City. N/A
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I.4
Einführung in die Philosophie von Epiktet
Epiktet lebte mehrere Jahrhunderte nach Zenon und führte eine Reihe von Neuerungen in den Stoizismus ein, darunter eine radikal neue Art, ihn zu praktizieren. Das ist nicht weiter überraschend, denn Philosophien (und sogar Religionen) sind dynamische Ideengebilde, die ständig von innen und außen infrage gestellt werden. Folglich verändern sich alle Philosophien, sie passen sich an, um auch in veränderten Zeiten einen praktischen Nutzen zu liefern und relevant zu bleiben.
Tatsächlich hatte Chrysipp von Soloi, einer der größten Logiker der antiken Welt, nur zwei Generationen nach Zenon so viele Anpassungen am ursprünglichen Stoizismus vorgenommen, dass Diogenes Laertios sagt: »Ohne Chrysipp hätte es keine Stoa gegeben«, womit er zum Ausdruck bringen will, dass Chrysipp das stoische System erheblich umgestaltet und verbessert hat.10 Sowohl davor als auch danach sahen sich die Stoiker der Konkurrenz durch die Epikureer und die akademischen Skeptiker ausgesetzt. Mit den Entwicklungen, die er durchmachte, lässt sich der Stoizismus in drei große Perioden einteilen (die etwas einfallslos als alte, mittlere und junge Stoa bezeichnet werden).
Eine der Neuerungen, die Epiktet in den Stoizismus einbrachte, ist die Entwicklung einer ausgefeilten »Rollenethik«, eines ethischen Ansatzes, der darauf beruht, die verschiedenen Rollen, die wir alle im Leben spielen, ernst zu nehmen: die allgemeine Rolle eines Menschen in der Gesellschaft als Ganzes; Rollen, die wir uns selbst aussuchen, etwa Vater oder Freundin zu sein; und Rollen, die uns die Umstände zuweisen, etwa Sohn oder Tochter zu sein. Mit seiner Rollenethik hat Epiktet wiederum ein ähnliches Konzept von Panaitios – einem Philosophen der mittleren Stoa, der von 185 bis 109 v. Chr. lebte – ausgearbeitet und weiterentwickelt.
Es gibt zwei entscheidende Aspekte der epiktetischen Philosophie, auf die ich mich hier konzentrieren möchte, weil sie für das Verständnis und die richtige Anwendung dieses Handbuches von zentraler Bedeutung sind: die sogenannte Dichotomie der Kontrolle und die drei Disziplinen der stoischen Praxis.11
Die Dichotomie der Kontrolle wird von Epiktet gleich zu Beginn des Handbüchleins der Moral eingeführt:
Manche Dinge liegen in unserer Macht, andere nicht. In unserer Macht liegen unsere Meinung, unsere Motivation, unser Begehren, unsere Abneigung und, mit einem Wort, alles, was unser eigenes Werk ist; nicht in unserer Macht liegen unser Körper, unser Besitz, unser Ansehen, unser Amt und, mit einem Wort, alles, was nicht unser eigenes Werk ist.
Anders ausgedrückt heißt das, dass wir ausschließlich für unsere bewusst gefällten Urteile, unsere eigenen Meinungen und Werte und unsere Entscheidungen, zu handeln oder nicht zu handeln, verantwortlich sind. Für nichts anderes. Wir haben nicht einmal die Kontrolle über einen Großteil unseres eigenen Geistes, da die mentalen Prozesse nach den Erkenntnissen der modernen Kognitionswissenschaft weitgehend automatisch ablaufen. Alles andere – vor allem äußere Dinge wie Gesundheit, Reichtum, Ansehen und so weiter – können wir zwar zu beeinflussen versuchen, letztlich hängen sie aber von einer Kombination aus den Handlungen anderer Menschen und den Umständen ab. Wie das oben erwähnte Gelassenheitsgebet besagt, besteht die grundlegende Erkenntnis hierzu also darin, dass wir die Weisheit erlangen müssen, zwischen dem, was in unserer Macht liegt, und dem, was nicht in unserer Macht liegt, zu unterscheiden, den Mut, Ersteres anzugehen, und den Gleichmut, Letzteres zu akzeptieren, also hinzunehmen.
Die Dichotomie der Kontrolle ist keine Erfindung von Epiktet, obwohl er sie zum Kernstück seiner Version des Stoizismus machte. Im Vergleich zu seinen Vorgängern formulierte Epiktet die Dichotomie der Kontrolle am deutlichsten, widmete der Erforschung ihrer Konsequenzen viel Zeit und wandte sie konsequent in seinen Lehren an. Aber man kann frühere Versionen dieses Gedankens bei Seneca finden, wann auch immer er die Tugend (die in unserer Macht liegt) den äußeren Dingen (die in der Macht des Schicksals liegen) gegenüberstellt.12 Die Dichotomie der Kontrolle wird auch in Ciceros Über das höchste Gut und das größte Übel angedeutet. Obwohl Cicero – der zwischen 106 und 43 v. Chr. lebte – Skeptiker und kein Stoiker war, sympathisierte er doch mit dem Stoizismus und lernte ihn aus erster Hand von einem Lehrmeister der mittleren Periode der Stoa – Poseidonios – kennen. Cicero brachte eine Metapher auf, die meiner Meinung nach immer noch die beste ist, die ich kenne, um die Dichotomie der Kontrolle richtig zu verstehen:
Wenn es sich jemand zur Aufgabe macht, mit einem Speer oder einem Pfeil wohin zu treffen, würde sein Endziel, in Entsprechung zum höchsten Gut, wie [die Stoiker] es bezeichnen, darin bestehen, alles in seiner Macht Liegende zu tun, genau zu zielen. Die Person in diesem Beispiel müsste alles daransetzen, das Ziel zu treffen, doch ihr ultimatives Ziel läge einfach darin, gut zu zielen. So ist es auch mit dem, was wir als das höchste Gut im Leben bezeichnen. Man muss darauf zielen, aber das Treffen ist nur »zu bevorzugen«, aber nicht »zu begehren«.13
Überlegen Sie genau, was der Kontrolle des Bogenschützen unterliegt und was nicht. Die Auswahl und sorgsame Behandlung des Bogens und der Pfeile, das Üben des Schießens auf ein Ziel und die Wahl des genauen Zeitpunktes, zu dem der Pfeil abgeschossen wird, liegen in seiner Hand. Über alles, was danach kommt, hat er jedoch keine Kontrolle: Das Ziel, beispielsweise ein feindlicher Soldat, könnte den Pfeil bemerken und ausweichen; oder ein plötzlicher Windstoß könnte den perfektesten Schuss zunichtemachen.
Es liegt nahe, diese Dichotomie für zu streng zu halten: Sicherlich gibt es doch eine Reihe von Dingen, die zwischen die beiden Kategorien »Kontrolle« und »keine Kontrolle« fallen. Das veranlasste William Irvine, einen Stoiker unserer Zeit, eine »Trichotomie« ins Spiel zu bringen, die Kontrolle, Einfluss und keine Kontrolle umfasst.14 Meiner Meinung nach ist dieser Vorschlag ein Fehler, der dazu führen könnte, dass eine der Grundlagen des Stoizismus zerstört wird. Denn wie in Ciceros Passage deutlich wird, lässt sich alles, was wir beeinflussen, wiederum in die beiden Komponenten Kontrolle und keine Kontrolle zerlegen: Das Üben des Bogenschießens gehört zur ersten, ein Windstoß zur zweiten; die Entscheidung, wann man den Pfeil loslässt, zur ersten, ein plötzliches Ausweichmanöver der Zielperson zur zweiten. Und so weiter. Wenn wir sagen, dass wir ein Ergebnis »beeinflussen« können, meinen wir damit genau, dass einige Komponenten der Handlung unserer Kontrolle unterliegen und andere nicht – wenn wir also unser Verständnis von etwas in kleinere Teile zerlegen, erkennen wir, dass genau das wahr ist, was Epiktet sagte.
Die wichtigste Passage in Ciceros Metapher ist die allerletzte: Man sollte es zwar bevorzugen, das Ziel zu treffen, es aber nicht begehren. Natürlich will der Bogenschütze das Ziel treffen, darum geht es ja auch. In ähnlicher Weise ziehen wir es vor, gesund statt krank zu sein, wohlhabend statt arm und so weiter. Da diese Ergebnisse jedoch nicht gänzlich unserer Kontrolle unterliegen – und angenommen, dass wir unser Bestes in Bezug auf das getan haben, was unserer Kontrolle unterliegt –, sollte unser Selbstwert nicht davon abhängen, ob wir das Ziel treffen (oder gesund, wohlhabend und so weiter sind). Im Leben gewinnen wir manchmal, und manchmal verlieren wir. Deshalb ist Gleichmut gegenüber den Ergebnissen (wir »bevorzugen« sie, aber wir »begehren« sie nicht) die einzig vernünftige Haltung, die wir uns aneignen sollten.
Der zweite entscheidende Aspekt der Philosophie Epiktets, mit dem wir uns hier befassen wollen, sind seine sogenannten drei Disziplinen, die im Wesentlichen die vier bereits erwähnten Tugenden als unseren moralischen Kompass ersetzen. Die drei Disziplinen sind:
Die Disziplin des Begehrens (und der Abneigung)
Den Stoikern zufolge neigen wir dazu, die falschen Dinge zu begehren (beziehungsweise abzulehnen), was eine der Hauptursachen für unser Unglücklichsein ist.15 Insbesondere begehren wir die bereits erwähnten äußeren Dinge wie Gesundheit, Reichtum, Ansehen und so weiter. Das heißt, wir begehren etwas, das letztlich nicht unserer Kontrolle unterliegt. Ebenso verspüren wir eine Abneigung dagegen, ebendiese Dinge zu verlieren. Das Problem sei, so Seneca, dass wir unser Glück in die launischen Hände des Schicksals legen, wenn wir etwas begehren, das nicht unserer Kontrolle unterliegt.
Das ist ein sehr großes Wagnis. Viel besser ist es, unsere Wünsche, unser Begehren auf das zu richten, was wir tatsächlich kontrollieren können, mit anderen Worten, auf unsere wohlüberlegten Urteile und Meinungen. Und warum? Weil wir auf diese Weise unsere Chancen auf ein eudaimonisches Leben nur von unseren eigenen...




