E-Book, Deutsch, Band 15, 372 Seiten
Pirker / Böhler Flucht vor dem Krieg
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-381-10513-7
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg
E-Book, Deutsch, Band 15, 372 Seiten
Reihe: Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs
ISBN: 978-3-381-10513-7
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vorarlberg war im Zweiten Weltkrieg ein Hotspot der Desertion von Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS aus dem gesamten Deutschen Reich. Die vermeintlich leicht zu überwindende Grenze zur Schweiz lockte Hunderte kriegsmüde Soldaten in das Montafon, an den oberen Rhein und den Bodensee. Das Buch dokumentiert neben gelungenen Fluchten die Verfolgung durch die zivile Sonderjustiz und die Militärjustiz, Solidarität und Denunziation von Seiten der Bevölkerung sowie den Nachkriegsumgang mit den ungehorsamen Soldaten und ihren Helfer:innen durch die österreichischen Sozial- und Justizbehörden. Neben einer Gesamtdarstellung zu Wegen und Bedingungen der Flucht, zur Identität der Deserteure und zur Aufnahme in der Schweiz analysieren Fallstudien tiefergehend die Entscheidungen von Deserteuren und ihren Helfer:innen, von Richtern und Polizisten und beleuchten besondere Schauplätze des Phänomens. Abgerundet wird der Band mit zahlreichen historischen und aktuellen Fotos.
Priv.-Doz. Mag. Dr. Peter Pirker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt.
Mag. Dr. Ingrid Böhler ist Senior Scientist am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und seit 2018 dessen Leiterin.
Autoren/Hrsg.
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I. Einleitung
„[…] ich bin Deserteur. Vom Kriege habe ich über und über genug“, erklärte der Obergefreite Hermann Hannemann aus Berlin, nachdem ihn Polizisten der Schweizer Grenzwache am 26. Mai 1942 um ein Uhr früh in der Nähe des Alten Rhein in St. Margarethen aufgefunden hatten. Hannemann war völlig durchnässt und erschöpft. Er blickte auf eine illegale Reise von mehr als 800 Kilometern zurück. Seinen Fluchtgenossen Werner Busse hatte er beim Durchschwimmen des Rheins verloren. Ihm selber war der letzte Schritt auf der Flucht aus der Wehrmacht, der Grenzübertritt in die Schweiz, geglückt. Es war nicht die erste Grenze, die Hannemann auf verbotene Weise gekreuzt hatte und es sollte nicht die letzte bleiben. Österreichische und deutsche Soldaten, die der Kriegsführung der deutschen Streitkräfte entkommen wollten, um ihr Leben abseits der anbefohlenen Bahnen von Töten und Sterben neu auszurichten, mussten viele Arten von Grenzen überwinden, durchbrechen, durchlöchern oder umgehen. Sie gaben die Sicherheit eines militärischen Systems auf, das ihnen Versorgung und Sinn versprach, mussten sich Brot und Orientierung selbst verschaffen, sie verließen den Männerbund des Militärs und gingen verbotene Beziehungen – vielfach zu Frauen – ein, sie wechselten in fremde Umgebungen, deren Sprache und Gepflogenheiten ihnen fremd waren, sie verletzten und brachen militärische Gesetze, die von der Drohung mit der Todesstrafe gestützt waren, sie verließen die „deutsche Volksgemeinschaft“ und begaben sich ins Reich der Schande, der Ächtung und des Verrats, sie nahmen den Verlust der Bürger- und Ehrenrechte in Kauf und sie riskierten die Verfolgung von Verwandten und Helfer*innen. Was nach den Grenzüberschreitungen kam, war meist ungewiss. Wie die Nachkriegsgesellschaften ihre Handlungen bewerten würden ebenso. All das machte Desertieren zu einem hochriskanten Unterfangen mit offenem Ausgang. Dass die Fahnenflucht das Programm nur einer kleinen Minderheit war, kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern. Die Forschung zur Praxis des Desertierens aus den deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg ist relativ jung. Die erste Phase in den 1990er- und 2000er-?Jahren stand weitgehend im Zeichen einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung zwischen althergebrachten Anschauungen, die Desertieren als illegitimen Regelbruch und die Verfolgung von Deserteuren als legitime Sanktion jeder Militärjustiz betrachteten, und – wenn überhaupt – nur bei Nachweis ganz bestimmter Motive als nicht zu verdammendes Handeln durchgehen ließen. Bei Deserteuren wurden moralische Messlatten angelegt, die bei der Beurteilung von bis zuletzt gehorsam gebliebenen Soldaten wieder in der Schublade verschwanden. Umgekehrt blieb bei Vorwürfen gegen die „Pflichterfüller“ bisweilen unbeachtet, dass der Handlungsspielraum von (Front-)Soldaten stark limitiert war, vor allem jener der unteren Ränge. Gegen die Ablehnung der Deserteure wandten sich seit den 1990er-?Jahren Positionen, die Desertieren als Beitrag zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Wehrmachtsjustiz als eines der Instrumente eines verbrecherischen Unrechtsstaats sahen. Die Forschung konzentrierte sich angesichts der jahrzehntelangen Weißwaschung der Wehrmacht und ihrer Justiz durch Militärs, Politiker und Veteranenverbände weitgehend auf die Beschreibung und Analyse der radikalen Verfolgung von nonkonformistischen Soldaten durch eine terroristische Militärjustiz. Mit der Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht durch den österreichischen Nationalrat im Jahr 2009 setzte sich die neue Sichtweise zumindest auf politisch-?symbolischer Ebene mehrheitlich durch und es gelang, Zeichen der Erinnerung für jene, die sich der deutschen Kriegsführung früher oder später entzogen, und Menschen, die ihnen dabei geholfen hatten, im öffentlichen Raum in Wien, Bregenz und anderen Orten zu schaffen. Selten blieb jedoch Zeit und Raum dafür, die Praxis des Desertierens und ihre Rahmenbedingungen – abgesehen von der Repression durch die NS-?Militärjustiz – genauer und systematisch auszuleuchten, also den Fragen nachzugehen, wem und wie die Flucht aus dem Krieg möglich war, welche Wege dabei beschritten wurden und wer auf welche Weise aus der zivilen Gesellschaft heraus Deserteuren „hilfreiche Hand“ bieten konnte, um eine damals negativ besetzte Formel der Militärjustiz neu zu verwenden – unter dem Strich: die Verengung auf das Opferwerden auszuweiten, um das antisystemische, widersetzliche und widerständige Handeln in den Blick zu nehmen. Einen fruchtbaren Ansatzpunkt für eine sozialhistorische Beschäftigung mit dem Phänomen des Desertierens bot der Historiker Felix Römer, der in seiner wegweisenden Studie „Kameraden“ über die Soldaten der Wehrmacht zwar auf den hohen Grad des Konformismus und den starken Truppenzusammenhalt hinwies, zugleich aber auch betonte, dass der Konformismus der Soldaten vielgestaltig war. Handlungsoptionen vor allem der unteren Ränge waren zwar sehr limitiert, konnten aber unter bestimmten Umständen so genutzt werden, dass es für die einzelnen einen Unterschied machte: „Wie sie ausgenutzt wurden, war oft zufällig und spontan, aber selten einheitlich, sondern viel häufiger individuell.“ Fast alle Wehrmachtssoldaten teilten einen gewissen militärischen Konsens, davon abgesehen fand Römer jedoch merkliche Unterschiede im Verhalten, die er auf deren Geschichte, also ihre Erfahrungen vor dem Krieg und als Soldaten, zurückführte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Deserteure, bevor sie abweichend handelten, im Krieg nicht unbedingt und durchwegs ganz „anders“ als bis zuletzt gehorsame Soldaten waren, etwa was Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung und Auszeichnungen betraf. Spezifische Erfahrungen, so kann man im Anschluss an Römer weiter postulieren, beeinflussten auch, ob und wie Soldaten Chancen erkannten, um sie für Fluchtbewegungen nutzen zu können. Handlungsspielräume existieren nicht per se. Sie entstehen erst im Erkennen von Situationen. Dieser Gedanke führte dazu, Römers Plädoyer, die Soldaten als denkende und handelnde Subjekte ernst zu nehmen, für die Forschung über Deserteure zu adaptieren – sie in ihren biographischen Prägungen, persönlichen Erfahrungen, sozialen und militärischen Situationen und auch in ihren Kenntnissen von Raum und Landschaft, gerade in einer alpinen Grenzregion, zu erfassen und zu verstehen. Ob es patriotische, ideologische oder persönlich-?individuelle Impulse waren, welche die Deserteure und ihre Helfer*innen motivierten, tritt dabei in den Hintergrund des Forschungsinteresses. Die alte Frage nach den Motiven transportiert eine Hierarchie männlich geprägter moralisch-?politischer Bewertungen, die der staatlichen Perspektive von Justiz und Sozialbehörden eigen war, für eine sozialhistorische Betrachtung aber unbrauchbar ist. Desgleichen blieb in der Forschung zu den Deserteuren der Wehrmacht die Rolle von Frauen oft unterbelichtet. Dabei ermöglichten in vielen Fällen gerade sie es, dass desertionsbereite Männer die maskuline Kriegskameradschaft hinter sich lassen und stattdessen auf Solidarität bauen konnten. Aus geschlechtshistorischer Sicht folgt aus der Überlegung, dass Desertieren in vielerlei Hinsicht bedeutete, Grenzen zu überschreiten, die Notwendigkeit, den Übergang von maskuliner Kameradschaft zu Hilfsangeboten und der Solidarität von Frauen zu rekonstruieren und deren aktive Rolle in diesem widerständigen Prozess zu beleuchten. Welche Umstände und Faktoren begünstigten die Wahrnehmung und das Erkennen von abweichenden Handlungsmöglichkeiten? Welche Erfahrungen befähigten unzufriedene, widerwillige oder kriegsmüde Soldaten dazu, das Wagnis der Desertion einzugehen? Im vorliegenden Beitrag wird im vierten und fünften Kapitel der Versuch unternommen, diese Fragen vorwiegend am Beispiel von Soldaten aus Vorarlberg und streckenweise auch von ortsfremden Soldaten in Vorarlberg zu beantworten. Dabei werden vor allem gelungene Desertionen entlang verschiedener Fluchtwege analysiert. In manchen Fällen entstanden aus Fluchtwiderstand offensive Widerstandsleistungen gegen das Regime. Diesen Übergang zeichne ich genauer und vergleichend an vier Gemeinden nach, die relativ viele Deserteure hervorgebracht haben. Es können Erfahrungsräume beschrieben werden, die Desertionen begünstigten, und es können Unterschiede herausgearbeitet werden, die glückliche Verläufe auszeichneten und traumatische kennzeichneten. So alt wie die Frage nach den Motiven, ist die Frage, ob Deserteure als Widerstandskämpfer gelten können oder nicht. Sie soll hier nicht mehr weiter diskutiert werden. Die Flucht aus der Wehrmacht wird als eine Form widerständigen Handelns betrachtet – als fugitiver Widerstand bzw. Fluchtwiderstand im Sinne einer individuellen bis kleinkollektiven Selbstbehauptung in einem System, das mit einem kriegerisch-?aggressiven völkischen Gemeinschaftskonzept die totale Verfügung über das Leben der darin eingeschlossenen Menschen beanspruchte. Man kann Desertieren mit diesem Verständnis auch in eine Tradition der persönlichen...