E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Platzgumer / Hans Die ungeheure Welt in meinem Kopf
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-9505435-3-7
Verlag: Elster & Salis Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-9505435-3-7
Verlag: Elster & Salis Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sascha Konjovic, ein psychisch angeschlagener Taxifahrer
wartet vor dem Wiener Westbahnhof auf Kundschaft, hört Jazzmusik und schmökert in Kafkas gesammelten Tagebuchnotizen. Bis die Tänzerin Eduardowa mit ihrem Liebhaber zusteigt und eine zweitägige atemberaubende Fahrt beginnt, die alle Beteiligten weiter fortträgt, als sie es für möglich gehalten hätten.
„Ich kann nicht schlafen. Nur Träume, kein Schlaf.“
Franz Kafka, Tagebuchnotiz, 21.7.1913
Hans Platzgumer hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben und mit ihm eine außergewöhnliche Hommage an Franz Kafka. Nicht nur greift er auf eine Figur aus Kafkas Träumen zurück und katapultiert sie in die Jetztzeit mitten in das Leben eines Wiener Taxifahrers. Nicht nur führt er mit Saschas irrem Trip vor, wie schnell Grenzen überschritten und Schleusen geöffnet werden können – ein wiederkehrendes Thema in seinem Werk. Auch wählt er eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Form.
Die Geschichte wird ausschließlich in direkten Reden erzählt. Der einsame Taxler unterhält sich mit seinen Fahrgästen, und auch andere sprechen mit, Lebende, Tote, sogar Franz Kafka höchstpersönlich. Es ist durchaus kafkaesk, was sich in diesem unaufhaltsamen Sog zuträgt, absurd, schrecklich, tröstlich und zum Schmunzeln zugleich. Ein rastloser Text über Randexistenzen, ihre Sinnesfragen und Überlebensstrategien. Ein Pageturner über die Überforderung des Daseins, die uns alle trifft, im heutigen Wien wie in Kafkas Prag vor hundert Jahren.
Autoren/Hrsg.
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1AM ENDPUNKT
„Jetzt erzählen wir deine Geschichte, Sascha.“ „Muss das sein?“ „Ja, es muss.“ Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund. „Also los ging’s am Westbahnhof. Vorgestern Abend. Montag, zweiter Feber 2015. Es regnete. Ich saß in meinem Wagen, Standplatz 1505. Ich wartete auf Kundschaft. Gegen 21 Uhr kamen die beiden dann auf mein Taxi zu.“ „Was hast du während des Wartens im Taxi getan?“ „Musik gehört. McCoy Tyner.“ „Und?“ „Und gelesen.“ „Eben.“ „Was, eben?“ „Die Details sind wichtig, Sascha. Du willst wissen, wie du jetzt hierhergekommen bist.“ umpanzert „Du darfst nichts verschweigen. Du weißt, ich versuche immer, eine Lösung für dich zu finden.“ „Ich bin mir nicht sicher, Milo, ob deine Lösungen immer …“ „Was hast du gelesen, Sascha?“ „Kafka.“ „Was von Kafka?“ „Die gesammelten Tagebuchnotizen aus den Jahren 1910 bis 1923.“ „Typisch. Autobiografien, Tagebücher, Briefwechsel, nie hast du etwas anderes gelesen.“ „Mich interessiert das echte Leben von echten Menschen, festgehalten in ihren eigenen Worten.“ geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben „Du willst dich mit Hilfe anderer Leben von deinem eigenen ablenken.“ „Ich will Echtheit, so viel Echtes wie nur möglich, Reales.“ ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. „Mit dieser Fülle fremden Lebens in dir verlierst du den Überblick. Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht. So ist es doch, Sascha?“ „Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.“ „Welchen Journaleintrag hast du gelesen, als die beiden aus dem Westbahnhof kamen?“ „Ich weiß es nicht mehr.“ „Sascha!“ Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen. „Die Beschreibung eines Traums, den er Anfang 1910 hatte.“ „Kafkas Träume haben dich am meisten interessiert.“ „Ich habe das ganze Buch von vorne bis hinten gelesen.“ „Studiert!“ „Von vorn bis hinten genau gelesen. Das war gar nicht einfach. Du weißt, wie dieses Buch aussah. Inzwischen habe ich es ja nicht mehr. Es war eine alte, abgegriffene Taschenbuchausgabe. Das Deckblatt war ramponiert, das Papier vergilbt. Die Schrift war klein und dünn und so weit hinaus bis zu den Rändern der Seiten gedruckt, dass es wirklich anstrengend war, diese Texte zu lesen.“ „Und trotzdem hast du nicht aufgehört, die Journaleinträge bis ins kleinste Detail zu studieren.“ „Sie fesselten mich. Die Art und Weise, wie da ein Weltautor vollkommen unstrukturiert seine persönlichsten Überlegungen und Erfahrungen festhielt, beeindruckte mich.“ „Vor allem seine Träume.“ „Einundzwanzig. Ich habe sie gezählt. Einundzwanzig Träume hat Kafka in diesen Tagebüchern festgehalten.“ „Und der Traum aus dem Jahre 1910, den du, nicht zum ersten Mal, zum wiederholten Male gerade gelesen hast, als die beiden aus dem Bahnhofsgebäude kamen …“ „Genau 105 Jahre später.“ „Genau 105 Jahre später, er handelte von der Tänzerin Eugenie Platonowna Eduardowa, einer russischen Ballerina, die damals über die Grenzen des russischen Kaiserreichs hinaus bekannt war.“ „Eduardowa.“ „Du nennst sie jetzt bei ihrem Nachnamen.“ „Kafka nannte sie immer bloß beim Nachnamen.“ „Und doch kennst du ihren Vornamen ganz genau.“ „Eugenie.“ „Hast du, wenn du von Kafkas Eduardowa gelesen hast, dieses Eugenie immer mitgelesen?“ „Vielleicht.“ „Sei ehrlich, Sascha. Sonst kommen wir nicht weiter.“ „Eugenie Eduardowa. Diese Wörter bilden eine Einheit. Ich hatte beide Namen bis dahin noch nie gehört. Für mich gehören sie zusammen. Sie sind eins.“ „So wie wir eins sind, Sascha, du und ich.“ „Ich wäre, so wie es inzwischen ist, lieber ohne dich, Milo.“ „Sascha, es ist nicht meine Schuld. Was zum Teufel hätte ich tun können?“ „Ich weiß. Ich weiß ja.“ „Es war eine enge, kurvige Bergstraße. Ich hatte die Nebelscheinwerfer an. Ich fuhr langsam und vorsichtig hinauf. Claudia neben mir, sie sagte gerade noch, dass es wohl ein Blödsinn war, bei diesem Wetter den Ausflug in die Rax zu machen. Der Nebel könne sich jeden Moment lichten, sagte ich. Ich war nicht abgelenkt, ich konzentrierte mich auf die Straße. Doch der andere kam viel zu schnell. Er schnitt die Kurve. Die Fahrbahn war nass. Es gab nichts, gar nichts, was ich tun hätte können.“ „Das behaupte ich auch nicht, Milo.“ „Er tauchte plötzlich vor uns auf. Von einer Sekunde auf die andere.“ „Ich weiß.“ „Doch hier nun geht es um dich, nicht um mich, Sascha. Du willst hier wieder herauskommen.“ „Ich weiß nicht, ob ich jemals hier wieder herauskommen sollte, Milo. Ehrlich.“ „Blödsinn.“ „Ich bin eine Gefahr. Ich stelle eine Gefahr für meine Mitmenschen dar.“ „Woher hattest du das Buch?“ „Ein paar Wochen vorher, bevor es am Westbahnhof losging, im Jänner muss das gewesen sein, da stöberte ich ohne bestimmte Absicht in der Bücherwand in meinem Wohnzimmer herum. Ich konnte mich gar nicht erinnern, wo ich und wann ich dieses Buch erstanden hatte. Ich hielt es plötzlich in den Händen. Wie ein Zeichen.“ „Geh noch weiter zurück, Sascha. Erzähl uns, wer du bist, wo du wohnst, was du tust.“ Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge „Das ist doch kindisch, Milo. Du weißt doch, wer ich bin.“ oder „Wir können uns, nach allem, was passiert ist, nicht mehr hundertprozentig sicher sein.“ wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. „Oder findest du, dass ich übertreibe?“ „Nein, das stimmt schon.“ „Also: Wer bist du? Wie alt bist du?“ „Sascha K. 38 Jahre alt.“ „Sag nicht K zu uns, Sascha. Sprich den Namen ganz aus.“ „Konjovic. Sascha Konjovic.“ „Wo wohnst du, Sascha Konjovic?“ „Ich weiß nicht, ob ich weiterhin dort wohne. Weiterhin dort wohnen kann, alleine.“ „Du wohnst in der Kellinggasse 5 in Wien-Sechshaus.“ „Im ersten Stock. Die Fassade dieses Hauses ist braun und grau, schmutzig, abgebröckelt, bei den oberen Stockwerken aber ist ein buntes Wandbild aus den 60er-Jahren noch gut erkennbar. Es zeigt zwei tänzelnde Lämmer unter Sonnenstrahlen. Manchmal betrachte ich es von der Straße aus und denke mir, dass ich nur ein paar Meter darunter wohne, und dass sich dorthin, wo ich bin, die Sonnenstrahlen niemals verlieren, weder die gemalten noch die echten.“ „Du hast...