Pohrt | Honoré de Balzac | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Pohrt Honoré de Balzac

Der Geheimagent der Unzufriedenheit
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86287-043-1
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Der Geheimagent der Unzufriedenheit

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-86287-043-1
Verlag: Fuego
Format: EPUB
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Über Geld und Geist bei Balzac, über Journalismus und Halbwelt, über Moral und Erfolg, über Bildung und Zeitung und über Liebe und Geld. 'Für immer vorbei ist der Moment, wo es möglich war, den betörenden Zauber des Geldes so darzustellen, wie Balzac es tat, oder wie Marx und Engels das Kapitalverhältnis als von einem automatischen Subjekt vorangepeitschtes Ausbeutungsverhältnis zu dechiffrieren. Und eben deshalb, weil Balzacs Werk den vergänglichen und unwiederbringlichen Augenblick bannt, darf es als zeitlos gelten, solange die bestehende Gesellschaft eine Verfallsform der bürgerlichen ist.' Wolfgang Pohrt Sechs Essays, die unter dem Titel 'Der Geheimagent der Unzufriedenheit. Balzac' 1984 als Buch erschienen und ursprünglich Radiobeiträge für den WDR waren, die 1981 unter dem Titel: 'Rückblick auf die Moderne' gesendet wurden.

Wolfgang Pohrt, 1945 geboren, ist Soziologe und lebt in Stuttgart.

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»Das Gold ist der Spiritualismus eurer heutigen Gesellschaften!« Geld und Geist In einem oft zitierten Brief an die Schriftstellerin Margaret Harkness schrieb Friedrich Engels, er habe von Balzac mehr über die französische Gesellschaft gelernt als von allen zeitgenössischen Historikern, Ökonomen und Statistikern zusammen. Man hat dies immer für eine Anerkennung und Würdigung gehalten und folglich Balzac für eine fortschrittliche kulturschaffende Kraft. Tatsächlich aber ist dieses Lob ungefähr so schmeichelhaft, wie wenn man einen Tenor mit der Behauptung preist, er könne lauter als der beste Marktschreier brüllen. Balzac als Oberbuchhalter der zeitgenössischen französischen Verhältnisse zu rühmen nämlich heißt, seine wahre Leistung zu verschweigen, die zunächst darin bestand, als Schriftsteller ohne Schonung der eigenen Person, ohne Rückversicherungsvertrag mit dem ewigen Wahren, Schönen, Guten Zeitgenosse zu sein. Weil das Paris des frühen 19. Jahrhunderts in Balzacs Werk nicht bloße Kulisse bleibt, sondern stets präsent ist im Gang der Handlung, in den handelnden Figuren, ihren Motiven und Impulsen, und schließlich in der Form der Romane selbst, verkennt dies Werk, wer es als Nachschlagewerk, Materialsammlung oder Fundgrube begreift. Wenn Kunst gestaltete Wahrheit ist, dann ist Balzacs Werk die gestaltete Wahrheit über die Zeit, wo die Triebkräfte der bürgerlichen Gesellschaft, die heute so blass und grau geworden sind, für einen Augenblick Intensität, Farbe und Prägnanz besaßen. Was ewig währt, kann man immer haben, was man immer haben kann, wird nicht kostbar sein. Für immer vorbei jedoch ist der Moment, wo es möglich war, den betörenden Zauber des Geldes so darzustellen, wie Balzac es tat, oder wie Marx und Engels das Kapitalverhältnis als von einem automatischen Subjekt vorangepeitschtes Ausbeutungsverhältnis zu dechiffrieren. Und eben deshalb, weil Balzacs Werk den vergänglichen und unwiederbringlichen Augenblick bannt, darf es als zeitlos gelten, solange die bestehende Gesellschaft eine Verfallsform der bürgerlichen ist. Denn weder ist der Wunsch verschwunden, unermesslich reich zu sein, noch wurde das Kapitalverhältnis von einem Verein freier Menschen abgelöst. Verschwunden und unwiederbringlich dahin ist nicht die Sache, sondern nur die Möglichkeit, sie zu erkennen, weil diese Sache in keinem Kontrast zu einer andersgearteten mehr steht, und weil sie selber zu einer abgesunkenen, überlagerten, verwässerten wurde. Vom Zauber des Geldes und von der Erlösungshoffnung auf einen großen Spekulationsgewinn blieb schließlich der stumpfe, instinktive Reflex, das samstagabendliche Vergleichen des Tippzettels mit den Lottozahlen etwa, ein kümmerliches Ritual, und umso unbegreiflicher, als die fröhlichen Gewinner mit der Million auf dem Konto kaum anders leben würden als zuvor. So muss, wer heute die fantastische Macht des Geldes verstehen will, bei Balzac nachlesen, was es für den Wucherer Gobseck, für aufstiegssüchtige junge Talente wie Rastignac oder Lucien de Rubempré, für die ruinierte Gräfin Anastasie de Restaud oder ihren Vater, den »Vater Goriot« einmal bedeutet hat. Ganz dumm und seicht ist deshalb die halbgebildete Redensart, Marx sei widerlegt, Freud überholt, Balzac passé und heute sei man viel weiter. Balzacs Darstellung der ebenso glanzvollen wie dämonischen Macht des Geldes ist hier also das Thema. Was aber – so dürfte im Lande Spitzwegs und anderer armer oder festbesoldeter Poeten der gängige Einwand lauten – was aber in aller Welt versteht ein Dichter und Denker denn von den profanen Dingen des Lebens, von den schmutzigen gar, und eines der schmutzigsten ist das Geld. Zunächst versteht Balzac, dass Geld kein profanes materielles Ding ist, sondern ein sehr mystisches, metaphysisches, spirituelles, und in dieser Einsicht bestätigt ihn 30 Jahre später Karl Marx. Geld und Geist – das hielt man in Deutschland stets für eine unmögliche Liaison. Wie ähnlich sie einander sind – beweglich, flüchtig, unzuverlässig und nicht bodenständig –, das haben erst die Nazis in ihrem Hass auf die Juden gespürt, die angeblich von beidem, vom Geist und vom Geld mehr besaßen, als ein Deutscher bei seinem Nachbarn ertragen kann. In Frankreich jedoch lagen die Dinge anders, dort übte die herrschende Klasse sich niemals in scheinheiliger Leutseligkeit, sondern sie führte guten Gewissens ein üppiges Leben. Daran teilhaben zu wollen war legitim und nicht ganz aussichtslos, denn zu Balzacs Zeit befanden sich die Vermögensverhältnisse in Frankreich im Umbruch. Es gab den verarmten Adel, den nur noch ein bedeutender Name zierte, und es gab den anderen, der sich durch kluge Politik und geschickt geführte Prozesse vor Gericht unermessliche Entschädigungen erstritt. Es gab den Bürger als Spekulanten, der wie Vater Goriot als Kriegsgewinnler unter Napoleon reich geworden waren, und es gab den Bürger als rechtschaffenen Kleinunternehmer, der wie César Biroteau seinen Wohlstand einem umsichtig geführten Handwerksbetrieb verdankt. Es gab den Bankier Nucingen, der sein Vermögen mit einem geschickt eingefädelten betrügerischen Bankrott gemacht hatte, der Hunderte von Handwerker und Kleinunternehmer ruinierte, und es gab den Wucherer Gobseck, dem die Crème der Gesellschaft zum Opfer fiel, welche von ihrer Verschwendungssucht, von ihren Lastern und unglücklichen Leidenschaften in sein schäbiges Büro getrieben wurde. In dieser Vielfalt ökonomischer Formen drücken sich unsicher gewordene, noch nicht wieder verfestigte Eigentumsverhältnisse aus, und die Labilität der Vermögensverhältnisse wiederum bringt die Parvenus und Glücksritter hervor, denen zugerechnet zu werden Balzac nicht als Beleidigung, sondern als Auszeichnung empfunden hätte. Frankreich befindet sich im Übergang von feudalen Produktionsverhältnissen zum Kapital, und im Übergang gewinnt die Zirkulationssphäre eine herausragende Bedeutung. Das feudale Eigentum, der unangreifbare, für Jahrhunderte in sich ruhende Grundbesitz und die erblichen, Einkünfte garantierenden Titel existieren nicht mehr, das in große Fabriken und Produktionsanlagen vergegenständlichte Kapital existiert noch nicht. Das Eigentum hat noch keine feste Gestalt angenommen, sondern es befindet sich im Schwebezustand, es existiert gleichsam in flüssiger Form, als Geld, um welches sich für eine Weile alles dreht. Es wird zur Triebfeder auch für Balzac, dessen 80 bis 100 Romane in 20 Jahren (die Angaben schwanken) oder 2.000 Druckseiten jährlich kein schriftstellerischer Ehrgeiz hervorgebracht haben könnte, sondern die vielmehr unter dem Druck eines riesigen und immer weiterwachsenden Schuldenbergs entstanden. Schreiben ist für den gescheiterten Geschäftsmann und talentierten Schreiber nicht Berufung, sondern das brauchbarste Mittel zum Gelderwerb, und in der Tat strich Balzac als einer der ersten Autoren, deren Werke als Serien in Zeitschriften erschienen, gewaltige Summen ein. In den Jahren 1841 und 1842 zum Beispiel schrieb er jeweils 70.000 Romanzeilen, und für den Vorabdruck jeder Zeile zahlten ihm die Zeitschriften und Revuen zwei bis drei Francs; hinzu kamen die Honorare für die Buchausgaben. Weit mehr Geld aber, als er einnahm, gab er für seine unerhört kostspielige Lebensführung aus. Er ließ sich von den teuersten Schneidern kleiden, hielt sich einen Groom, besaß eigene Pferde und einen eigenen Wagen und stattete sein Haus mit antiken Möbeln, kostbaren Teppichen, mit Silbergerät und chinesischem Porzellan aus. Er finanzierte diesen Luxus durch den Verkauf von Büchern, die noch nicht geschrieben waren, durchs Ausstellen von Wechseln, durch neue Schulden, mit dem Effekt, dass ihm ständig Gläubiger, Wucherer und Gerichtsvollzieher auf den Fersen waren. »Bisweilen musste er flüchten und sich verborgen halten, um der Schuldhaft zu entgehen, bis ein Honorar ihm die Bewegungsfreiheit wiedergab«, berichtet Ernst Sander. Als Opfer seiner Verschwendungssucht wiederum erhörte und vollstreckte Balzac nur den Willen des Geldes, welches in der Form einer endlichen, bezifferbaren Summe nicht existieren kann, ohne diese Daseinsweise als eine willkürliche Einschränkung und als Beleidigung seines ehrgeizigen, kein Maß akzeptierenden Charakters zu erleben. Mit 50.000 Francs Schulden begann der bankrotte Unternehmer seine Karriere als Schriftsteller, und als er zwanzig Jahre später starb, betrugen seine Verbindlichkeiten ungefähr eine halbe Million. Die Schulden oder der Protest des Geldes gegen die Fesseln, welche eine feste Summe von Einnahmen ihm anlegen will, waren der äußere Antrieb für jene Schinderei, aus der in zwanzig Jahren hundert Bände wurden. Als verborgenes Motiv dahinter aber darf ein Ehrenkodex vermutet werden, wie man ihn in Deutschland, wo von den Dingen umso mehr geschwafelt wird, je weniger sie existieren, allenfalls aus Melville-Filmen oder amerikanischen Western kennt. Nicht auszusteigen aus dem Spiel ums große Geld, auf welches sich einzulassen eine moralische Verpflichtung für jeden war, der vor der Zeit nicht davonlaufen wollte, war für Balzac gleichsam Ehrensache. Modernität ohne Rückversicherung und mit allen Konsequenzen hieß dies reizvolle, aber riskante Spiel, und Balzac respektierte die Regeln, wie eben seine heroische Weigerung beweist, sich aus Gründen des Selbstschutzes bei Bedarf hart und unempfindlich für die Haupttriebkraft einer Zeit zu machen, in welcher das Geld nicht als bloßes Zirkulationsmittel, sondern in der emphatischen Bedeutung des Begriffs als allgemeiner Reichtum existiert, deshalb in jede Gemütsregung und jede Hirnfaser eindringt und mit atemberaubender Macht alle Verhältnisse durcheinanderwirbelt. Zu solcher von Vernunftgründen unbeirrbaren Liebe zum Geld wiederum ist nur fähig, wer über sein...



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