Polonsky | Und mittendrin ich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Polonsky Und mittendrin ich


Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-641-11436-7
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-11436-7
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn du dir etwas wünschst, das du noch nie hattest, musst du etwas tun, das du noch nie getan hast ...
Was wäre, wenn ... dein Äußeres das genaue Gegenteil deines Inneren wäre? Was, wenn du deine Sehnsucht einfach nicht mehr länger geheim halten könntest? Würdest du dann den Mut haben, du selbst zu sein? Bisher hat sich der 12-jährige Grayson in der Schule unsichtbar gemacht und zu Hause in seinen eigenen wunderschönen Träumen verloren. Doch nach und nach flattert Graysons wahres Selbst immer stärker in seiner Brust. Als eine unerwartete Freundschaft und ein verständnisvoller Lehrer Grayson ermutigen, ins Rampenlicht zu treten, findet Grayson endlich einen Weg, ihre Flügel auch im wahren Leben zu entfalten.

Ami Polonsky arbeitet als Schreibtutorin, wenn sie nicht gerade an ihren eigenen Buchprojekten arbeitet oder sich um ihre beiden Kinder kümmert. Als ehemalige Lehrerin ist es ihr schon immer ein Anliegen gewesen, Kinder an Bücher heranzuführen und sie zu lebenslangen Lesern zu machen. Ami lebt zusammen mit ihrer Familie in der Nähe von Chicago. 'Und mittendrin ich' ist ihr erstes Jugendbuch.
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KAPITEL 6


AUF DEM WEG ZUR BUSHALTESTELLE ziehe ich den Reißverschluss meines dunkelvioletten Sweatshirts bis zum Kinn und setze die Kapuze zum Schutz gegen den Wind von Chicago auf. Ich schaue auf meine weite, graue, glänzende Jogginghose. Das undeutliche Bild von dem Rock, den ich heute Morgen im Spiegel gesehen habe, verblasst in meiner Erinnerung immer mehr. Ich kann fast spüren, wie mich Tante Sally, Onkel Evan, Jack und Brad vom Wohnzimmerfenster im fünfzehnten Stock aus beobachten, aber ich drehe mich nicht um, um nachzusehen.

Amelia kommt die Straße entlang auf mich zu. Ich versuche nicht mehr daran zu denken, dass meine Hose nichts weiter als eine Hose ist, und winke ihr lächelnd zu. Sie hat sich bis zum Kinn in eine rote, lange Jacke eingemummelt. Ich hätte etwas Wärmeres anziehen sollen. Es ist eiskalt.

»Hi«, begrüße ich sie, als sie sich zu mir unter das Glasdach des Wartehäuschens stellt. Ihre Augen sind gerötet und sehen fast pink aus. »Hast du eine Erkältung?« Dann kapiere ich, dass sie geweint hat, und komme mir wie der letzte Trottel vor. Amelia zieht ein zerknülltes, benutztes Taschentuch hervor und schnäuzt sich.

Sie holt tief Luft.

»Manchmal hasse ich meine Mom«, sagt sie und schnäuzt sich noch einmal. Dann steckt sie das Taschentuch weg und vergräbt ihre Hände in den Jackentaschen.

»Oh«, murmle ich. Amelia hat die Worte gesagt, als hätten sie keine große Bedeutung für sie. Meine Mom. Ich schaue in ihr fleckiges Gesicht, und einen Augenblick lang versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre, die eigene Mutter hassen zu können. Aber eigentlich will ich nicht darüber nachdenken. »Warum?«, zwinge ich mich zu fragen.

»Sie nörgelt ständig an meinem Aussehen herum. Als ich gesagt habe, dass ich mit dir shoppen gehe, war sie begeistert. Sie sagte: Du musst dir unbedingt ein paar Tops kaufen, die deiner Figur schmeicheln. Warum sagt sie nicht gleich, dass ich fett und hässlich bin?« Amelia lässt sich auf die Bank plumpsen, ihre Schultern sacken nach vorne.

»Das ist doch lächerlich«, erwidere ich. »Und total gemein.« Ich suche nach den richtigen Worten, aber mir fällt nichts ein.

»Ach, was soll’s«, meint sie. »Ist doch egal. Ich bin daran gewöhnt.«

Der Bus hält und wir suchen uns einen Platz ganz hinten. Amelia holt tief Luft und streicht sich das Haar aus dem Gesicht.

»Also, warum wohnst du bei deiner Tante und deinem Onkel?«, fragt sie, als der Bus anfährt.

Ich habe das Gefühl, als hätte mich von hinten eine Lavawelle erwischt, und obwohl mir immer noch kalt ist, fange ich plötzlich an zu schwitzen. Wie idiotisch von mir, dass ich mich nicht auf diese Frage vorbereitet habe. Dabei hätte ich es wissen müssen. Ich werde um eine Antwort auf diese Frage nicht herumkommen. So ist es eben, wenn man Freunde hat, sage ich mir.

Ich habe schon sehr lange nicht mehr darüber gesprochen – nicht, seit Tante Sally und Onkel Evan mich in der vierten Klasse zu diesem dämlichen Therapeuten geschickt haben. Ich erinnere mich an sein Büro und an die Zeichnungen und Bilder an den Wänden, die andere Kinder in seinem Kunstatelier für ihn gemalt haben. Was für Loser, habe ich damals gedacht. Was für Heulsusen. Was hatte dieser Typ denn so Tolles für sie getan? Allein der Gedanke hat mich damals wütend gemacht und tut es auch heute noch. Du darfst dich nicht in der Schule von den anderen abkapseln, hat er mir gesagt. Dabei wusste er nicht das Geringste über mich.

Aber vielleicht ist es bei Amelia anders. Sie beobachtet mich. Ich muss irgendetwas sagen, also hole ich tief Luft, richte den Blick auf den Sitz vor mir und fange an zu reden.

»Meine Eltern sind gestorben, als ich vier war«, fange ich an. Ich rattere die Sätze schnell herunter. »Damals wohnten wir in Cleveland. Es gab einen Autounfall. Einen richtig schlimmen. Es passierte auf der Autobahn. Ein Lastwagen ist plötzlich auf ihre Fahrspur gewechselt. Sie waren beide sofort tot.« Ich werfe ihr von der Seite einen Blick zu. Amelia starrt mich an. Rasch schaue ich auf meine Turnschuhe, die dunkelblau, fast lila sind. »Ich war im Kindergarten, als es passiert ist.«

Ich komme mir vor, als würde ich eine Geschichte aus einem Buch vorlesen. Am liebsten würde ich jetzt das Buch zuschlagen und es zum Fenster hinauswerfen, wie etwas, das plötzlich Feuer gefangen hat. Ich schaue auf den Michigan-See hinaus. Neben dem grauen Highway sind weiße, wilde Wellen zu sehen. Zwei Lastwagen rauschen an uns vorbei. Da erst fällt mir auf, dass ich die Luft angehalten habe, und ich zwinge mich zu atmen.

»Oh«, sagt Amelia leise.

Ich starre auf den Staub und den Dreck in den Ritzen des Metallfensters, und aus irgendeinem Grund muss ich an unser altes blaues Haus denken. Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, aber in meinem Zimmer habe ich ein Foto davon im Regal. Auf dem Rasen ist ein Schild aufgestellt, auf dem Zu verkaufen steht, und darüber ist ein Streifen geklebt, auf dem Verkauft zu lesen ist. Von Onkel Evan weiß ich, dass er die Maklerin überreden wollte, das Schild kurz für das Foto wegzunehmen, aber sie sagte, das wäre zu viel Aufwand. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich stelle mir die Leute vor, die das Haus gekauft haben, und frage mich, ob sie es neu gestrichen haben oder ob es immer noch blau ist.

»Es war schlimm«, sage ich. »Aber ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Onkel Evan ist der Bruder meines Vaters. Er hat mich zu sich geholt.«

»Oh mein Gott«, sagt sie. Dann ist sie still. Ich habe das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen.

»Meine Großmutter Alice lebt auch hier. Sie ist jetzt sehr krank. Wie auch immer, es war wohl das Vernünftigste, dass ich nach Chicago gekommen bin.«

»Oh mein Gott«, wiederholt sie, und jetzt fällt mir endgültig nichts mehr ein.

Eine Weile sagen wir beide kein Wort. Der Bus fährt von der Autobahn ab und ich starre weiter zum Fenster hinaus.

»Warst du schon mal in Lake View?«, frage ich schließlich, als wir auf die Bushaltestelle zurollen. Ich bin froh, dass mir das eingefallen ist.

»Wie? Nein«, antwortet sie, als sie hinter mir aus dem Bus steigt. Zusammen mit vielen anderen stehen wir an der Kreuzung. »Eigentlich habe ich echt Glück«, überlegt sie, während wir die Straße überqueren. Sie starrt vor sich hin, als sie das sagt. Ihre langen roten Haare wehen ihr ins Gesicht.

»Ich schätze, ja«, erwidere ich.

»Vielleicht habe ich es ja doch nicht so schlecht getroffen, wie ich dachte.«

Ich schaue in ihr rundes, kräftiges Gesicht und halte ihr die Tür zum Secondhand-Laden auf. Sie betritt das Geschäft und stapft über den schiefen Holzboden, der aussieht, als hätte er schon tausend Überschwemmungen überlebt. Sie geht zwischen den runden Kleiderständern hindurch zu einem Schild mit der Aufschrift Junge Mode, das in einer Ecke des Geschäfts von der Decke baumelt.

Ich folge ihr. Hinter der Verkaufstheke steht ein Mann mit kahl rasiertem Kopf, Ohrringen und einem Nasenring. Er sagt »Hey«, als ich an ihm vorbeigehe. Zwei Frauen, die von Kopf bis Fuß schwarz angezogen sind und grellen Lippenstift tragen, suchen die Kleiderständer ab.

Amelia und ich sind die Einzigen im hinteren Teil des Geschäfts. Dort hängen weniger Kleiderständer als vorne, und die Hintertür steht einen Spalt offen, sodass es zum Glück nicht ganz so stark nach Mottenkugeln riecht, denn davon wird mir immer schlecht. An der Wand befinden sich drei winzige Umkleidekabinen. Statt Türen sind alte Bettlaken davorgehängt und an der Wand lehnt ein großer Spiegel. Ich stelle mich davor und betrachte meinen mageren Körper. Meine violette Kapuze ist immer noch hochgezogen. Ich schiebe sie zurück und öffne den Reißverschluss meines Sweatshirts. Dann fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar, streiche die Strähnen ordentlich zur Seite. Meine Augen stechen noch von der Kälte draußen und meine Nase ist gerötet. Wieder einmal fällt mir auf, dass mein Kinn jetzt eckiger aussieht, nicht mehr so spitz wie früher.

Onkel Evan hat mir Bilder von Dad gezeigt, als er ungefähr in meinem Alter war, daher weiß ich, dass ich meinem Vater ähnle. Bei dem Gedanken würde ich am liebsten den Spiegel zertrümmern. Ich vergrabe meine Fäuste in den Taschen, denn eigentlich will ich nur, dass Dad hier ist. Zum millionsten Mal frage ich mich, ob ich auch so einsam wäre, wenn Mom und Dad noch leben würden. Auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos sieht Grandma Alice genau wie Mom aus. Ich suche im Spiegel mein Gesicht auf Ähnlichkeiten mit ihr und Mom ab, aber ich finde immer nur Dad.

Schnell gehe ich zu Amelia, die sich gerade in der Mädchenabteilung umschaut. Ihre lange Jacke hat sie ordentlich auf den Fußboden neben eine Umkleidekabine gelegt. Sie sucht einen Ständer ab, an dem ein laminiertes Schild hängt, auf dem in unordentlicher Schrift Kleider und Röcke geschrieben steht.

»Was hältst du davon?« Sie hebt einen dunkelvioletten, bodenlangen Rock hoch. Der dünne Stoff hat Falten wie eine Ziehharmonika, und er ist mit drei Querstreifen aus Spitze in der gleichen Farbe abgesetzt. Die Spitze zieht den Stoff leicht zusammen, sodass er in weichen Wellen fällt. Ich starre auf den Rock.

»Er ist toll«, sage ich schließlich und strecke die Hand aus, um den Stoff zu berühren.

»Suchst du denn auch nach etwas?« Rasch legt Amelia den Rock über ihren Arm. »Ich dachte, du brauchst...


Polonsky, Ami
Ami Polonsky arbeitet als Schreibtutorin, wenn sie nicht gerade an ihren eigenen Buchprojekten arbeitet oder sich um ihre beiden Kinder kümmert. Als ehemalige Lehrerin ist es ihr schon immer ein Anliegen gewesen, Kinder an Bücher heranzuführen und sie zu lebenslangen Lesern zu machen. Ami lebt zusammen mit ihrer Familie in der Nähe von Chicago. »Und mittendrin ich« ist ihr erstes Jugendbuch.

Koob-Pawis, Petra
Petra Koob-Pawis studierte in Würzburg und Manchester Anglistik und Germanistik, arbeitete anschließend an der Universität und ist seit 1987 als Übersetzerin tätig. Sie wohnt in der Nähe von München, und wenn sie gerade nicht übersetzt, lebt sie wild und gefährlich, indem sie Museen durchstreift, Vögel beobachtet und ihren einäugigen Kater daran zu hindern versucht, sämtliche Möbel zu ruinieren.



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