E-Book, Deutsch, 238 Seiten, eBook
Polt Ich muss nicht wohin, ich bin schon da
1. Auflage, neue Ausgabe 2022
ISBN: 978-3-0369-9498-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die besten Interviews
E-Book, Deutsch, 238 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9498-7
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerhard Polt, geboren 1942 in München, aufgewachsen im Wallfahrtsort Altötting, studierte in Göteborg und München. Seit 1975 brilliert Polt als Kabarettist, Schauspieler, Poet und Philosoph auf deutschen und internationalen Bühnen. 2001 wurde er mit dem Bayerischen Staatspreis für Literatur ('Jean-Paul-Preis') ausgezeichnet, 2019 folgte der Kulturelle Ehrenpreis der Landeshauptstadt München. Polt lebt und schreibt in Schliersee, München und Terracina. Sein Gesamtwerk ist bei Kein & Aber erschienen.
Weitere Infos & Material
Herr Polt, Sie mögen das Schnitzel nach traditioneller Art aus der Pfanne herausgebacken. Vom Schweinsbraten sprechen Sie kaum.
Weil der Schweinsbraten selbstverständlicher ist. Er hat ein anderes Ambiente als das Schnitzel. Schon das Wort »Schnitzel« sagt ja, dass es das Feinere ist, das Besondere. Ich würde nicht sagen, dass es mehr Kultur hat, aber es ist das Bessere-Leute-Essen gewesen, was sicher damit zu tun hat, dass ein Wiener Schnitzel aus Kalbfleisch sein muss. Es ist ja eine türkische Erfindung. Es kommt aus dem Osmanischen Reich. Wenn ich also vom Schnitzel rede, rede ich indirekt auch von der großen, weiten Welt. Während wir uns hier ja in einer Schweinsbratenkultur befinden.
In einer Schweinsbratenkultur?
Selbstverständlich, Bayern, Böhmen und Chinesen sind die großen Schweinefleischesser, während der Lateineuropäer das Schwein nicht so anrührt. Der isst mehr Kalbfleisch oder Rindfleisch. Die wirklichen Schweinefleischesser sitzen im mitteleuropäischen Raum, wo die Sau im Zenit ihrer Erfüllung ist.
Fangen wir beim Schwein an …
Es ist gar nicht so wichtig, die Sau kulturhistorisch aufzuarbeiten. Der Schweinsbraten als Gericht ist ja mehr ein Ausdruck des Lebensgefühls einer Gesellschaft, die mit dem Schweinsbraten lebt, die sich ihm widmet. Früher war es normal, dass man nicht im Wirtshaus, sondern daheim gegessen hat. In der Wirtschaft hat man sein Bier getrunken und ist dann heimgegangen zum Schweinsbraten. Es hieß nicht, ich gehe jetzt zur Familie, sondern ich gehe zum Schweinsbraten. Das war eine recht statische Angelegenheit. Das hatte etwas Rundes, Zuverlässiges. Seit nunmehr über achttausend Jahren lebt der Mensch mit dem Hausschwein zusammen …
… was beide ja glänzend überlebt haben …
… aber seit einigen Jahrzehnten ist das Verhältnis gestört, weil der Mensch das einzelne Schwein nicht mehr kennt. Das liegt zum Teil an der Industrialisierung, zum Teil an der Verordnung Bayerns. Menschen, die aus Paderborn kommen, haben dem Schweinsbraten gegenüber nicht das Gefühl, das die Einheimischen haben.
Aber auch die Einheimischen erleben keine Hausschlachtungen mehr.
Das ist schon richtig, aber sie haben noch eine Vorstellung. Das ist ähnlich wie beim Wurstsalat. Man hat die Grundidee des Wurstsalats im Kopf, den Geruch, wie er ausschaut, die Bestandteile, die Konsistenz. Ich weiß genau, wie ein Wurstsalat ausschaut, wenn er aus Regensburgern gemacht wird, ich weiß, wie er auf dem Teller liegt. Da fangen schon die Geschmackspapillen an; alles, was im Mund ist, weiß, auf was es wartet. Wenn aber ein Wurstsalat zum Beispiel aus einer faden Lyoner Wurst ist, dann ist die erste Enttäuschung schon da. Beim Schweinsbraten geht es einem ähnlich. Man hat einen Urschweinsbraten im Hirn, auf der Zunge, in den Augen. Und man wird betrogen, wenn auf einer Speisenkarte ein fotografierter Schweinsbraten drauf ist. Einen Schweinsbraten zu fotografieren ist lächerlich, weil er illustriert nichts hergibt. Den muss ich mir selber illustrieren. Das ist wie beim Märchen. Wenn man heute im Fernsehen bestimmte Märchen sieht, dann stehlen sie einem die Vorstellung. Ich habe eine Grundvorstellung vom Schweinsbraten, wie er riecht, wie er ausschaut, auf welchen Tellern er serviert sein muss, ich kenne die Geräusche, die um ihn herum sind. Ich weiß, dass Rock und Pop sich mit Schweinsbraten nicht verträgt. Das ist keine Musik für einen Schweinsbraten, da gehört so ein Mittagskonzert vom Bayerischen Rundfunk drüber …
Schmecken Sie denn, ob ein Schweinsbraten von einer Hausschlachtung kommt oder aus der Fabrik?
Wenn jemand sein Leben lang vom Schweinsbraten begleitet wurde, dann merkt er natürlich, wie die Rezepte und Gerichte sich verändern und zum Teil verfremdet werden, und drum kann er sagen, das ist ein schlechter oder ein guter Schweinsbraten. Er orientiert sich an den Werten, die er hat. Er erkennt die Varianten, wo mehr Kümmel drin ist oder mehr Knoblauch, aber das Schlimme ist, dass es immer weniger Wirtshäuser gibt, wo Wirtsehepaare drin sind, denen die Wirtschaft gehört. Es sind zunehmend Pächter, die Brauereien haben dadurch mehr Einfluss auf die Gerichte, und es gibt weniger Leute, die einen Schweinsbraten von der Idee her restaurieren können. Man kann in Pompeji alles rekonstruieren, die Geschäftshäuser, die Straßen, aber die Gerüche von Pompeji, die lassen sich nicht rekonstruieren, das heißt, wenn die Idee eines Schweinsbratens einmal verloren ist, wird man sie wahrscheinlich nie wieder herbringen.
Das würde bedeuten, dass der Schweinsbraten ausstirbt.
Wenn er weg ist, ist er weg. Das ist ja das Schicksal von vielen Gerichten. Nehmen Sie die Stockwurst. Die Stockwurst ist so gut wie erledigt. Wenn Sie in München sagen, ich möchte eine Stockwurst, dann müssen Sie schon weit laufen, bis Sie einen Außenseiter finden, der Ihnen eine Stockwurst macht, weil die Stockwurst verloren gegangen ist.
Es gibt doch Rezepte, die überliefert sind.
Es gibt auch Textbücher von Theaterstücken, aber das ist keine Garantie, dass das Stück gut gespielt wird. Die Frage ist, wer macht den Schweinsbraten? Nur aus dem Buch heraus, das ist zu theoretisch. Ohne Erfahrungswerte, ohne selber einen tradierten Schweinsbraten jemals probiert zu haben, gehts nicht.
Dann wären alle Kochbücher überflüssig.
Das habe ich nicht gesagt. Ein Textbuch ist ja auch nicht überflüssig, weil ich mir den Text von Shakespeare nicht merke, aber jede einzelne Aufführung auf dem Theater ist verschieden. Wenn man einem Neuseeländer die Chance gäbe, über das Kochbuch einen Schweinsbraten zu machen – also, ich wäre sehr skeptisch, ob er es schafft. Der tut mir direkt leid, der Neuseeländer.
Dann wäre jeder Fortschritt unmöglich.
Fortschritt als Dekadenz ist möglich. Das erleben wir ja am Schweinsbraten. Wir erleben einen Zerfall, ein Weitergehen, ein Sich-Entwickeln; aber der Schweinsbraten im konservativen Sinn, der Uridee ähnlich, den trifft man immer seltener.
Wie muss er denn zubereitet sein, wenn er dem Idealzustand nahekommen soll?
Ich würde ihn nie definieren. Es gibt ja viele Möglichkeiten. Beim Hamburger wird behauptet, dass er an jedem Ort und zu jeder Zeit gleich schmeckt. Es wird sogar behauptet, dass er mir überall und zu jeder Zeit gleich schmeckt, egal, ob ich krank oder gesund bin. Das Schöne am Schweinsbraten aber ist, dass er an jedem Ort, zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Familie anders schmeckt. Ich esse ja nicht im luftleeren Raum, ich esse zu einem bestimmten Zeitpunkt, und der Schweinsbraten beeinflusst mich. Er gibt mir ein gewisses Gefühl – und umgekehrt: Wenn ich einen Schweinsbraten esse, will ich meinen Ausdruck mit dem Schweinsbraten zu einer Einheit bringen. Ich esse ja bewusst einen Schweinsbraten und nicht einen Quick-Snack. Ein Schweinsbraten, der seinen Namen verdient, muss unter würdigen Bedingungen zu sich genommen werden.
Unter welchen Bedingungen?
Wenn man sich auf einen Schweinsbraten einlässt, darf man nicht hektisch sein oder unkonzentriert. Der Bewegungsablauf ist wichtig. Der Gesichtsausdruck, die Art, wie man vorm Teller sitzt. Ich würde zum Beispiel, wenn ich einen Wahlkampf führen müsste, meine Spitzenpolitiker nur einen Schweinsbraten essen lassen, drei Minuten lang, und dann beobachten, wie sie den Schweinsbraten essen. Dann würde ich wissen, welcher der beste Politiker ist. Die Überzeugungskraft, wie sie ihn zu sich nehmen, ist entscheidend. Das ist freilich ein Experiment, das die meisten fürchten, deshalb setzen sie sich dem Schweinsbratenessen nicht aus. Drum reden sie lieber, da können sie sich leichter rauswinden. Ein Mensch, der öffentlich einen Schweinsbraten isst, während man ihm zuschaut, der muss ja zugeben, wer er ist. Der wird ziemlich privatisiert.
Das ist aber nur in Bayern möglich?
Dem Björn Engholm würde ich nicht unbedingt zuschauen wollen, wie er einen Schweinsbraten isst. Oder dem schwedischen Ministerpräsidenten Carlsson. Der kann vielleicht ein Knäckebrot essen.
Wenn Sie Schauspieler nebeneinandersetzen, würden Sie dann auch erkennen, wer der Beste ist?
Ich spreche von Politikern, weil Politiker naturnotwendig durch den Schweinsbraten …
… charakterisierbar sind?
Selbstverständlich. Weil der Schweinsbraten mit Tradition verbunden ist, mit Heimat, mit Stabilität, mit wenig Experimenten und wenig Experimentierfreudigkeit, jedenfalls auf bestimmten Sektoren. Und der Schweinsbraten ist tatsächlich, das ist meine Überzeugung, kein Objekt großer Experimentierfreudigkeit, er ist ein Objekt für konservatives Verhalten. Der Schweinsbraten sollte bewahrt werden, aber ich fürchte, durch die zunehmende Verfremdung in unserem Land wird der Schweinsbraten ein Exot im eigenen Land, sozusagen im eigenen Bratrohr.
Sie haben mal gesagt, wenn Sie sterben, solls einen ordentlichen Leichenschmaus geben. Mit einem Schweinsbraten?
Das wäre ein würdiger Abschluss. Zuerst die Griesnockerlsuppe, dann ein Schweinsbraten und hinterher...