Pongrac Rousseau für Einsteiger
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-945219-05-8
Verlag: Cividale Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Einführung in den Gesellschaftsvertrag
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: Cividale klassik
ISBN: 978-3-945219-05-8
Verlag: Cividale Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nicht weniger als revolutionäre Gedanken - das präsentierte der französische Denker Jean-Jacques Rousseau in seinem 1762 erschienenen Buch Der Gesellschaftsvertrag. Das Grundanliegen des Gesellschaftsvertrags ist ein normatives. Er fragt nicht danach, wie gesellschaftliche Verbindungen tatsächlich entstanden sind, sondern wie sie beschaffen sein müssten, um Legitimität beanspruchen zu können. Rousseau sucht also nach geeigneten Maßstäben, anhand deren sich beurteilen lässt, ob soziale Beziehungsformen anerkennenswürdig sind oder nicht. Wie sollte ein Gemeinwesen aufgebaut und institutionell verfasst sein, damit es die rational motivierte Zustimmung seiner Mitglieder verdient? Das ist die Grundfrage des Gesellschaftsvertrags. Die Hauptgedanken dieses Werkes erläutert der Berliner Politologe Timo Pongrac für Rousseau-Einsteiger - und unterzieht die Thesen einer kritischen Prüfung.
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2. Absicht und Kontexte des Gesellschaftsvertrags
Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist ein Werk von bescheidenem Umfang. Lediglich eine „kleine Abhandlung“ könne er vorlegen, einige kurze Passagen aus dem, was ursprünglich einmal ein umfassenderes Werk über die Natur politischer Institutionen hätte werden sollen, das zu vollenden jedoch die Kräfte des Verfassers überstiegen habe.vi Rousseau, der im Laufe seiner Studien zu der Überzeugung gelangt war, „daß alles im letzten Grunde auf die Politik ankäme und daß, wie man es auch anstellte, jedes Volk stets nur das würde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen würde“vii, eröffnet sein politiktheoretisches Hauptwerk mit dem Eingeständnis, dass es sich dabei um nicht viel mehr als um ein Bruchstück handele. Eine solche Bemerkung lässt aufhorchen. Fragmente lesen sich nicht leicht. Vieles bleibt in ihnen unausgeführt, was eigentlich umfangreichere Betrachtungen und Erläuterungen erfordert hätte. Es geht um das Ganze – aber nur Teile davon werden präsentiert. Rousseau warnt uns also vor: Der Gesellschaftsvertrag ist das Resultat einer jahrelangen Arbeit, die nun in komprimierter und verdichteter Form verabreicht wird. Damit ist Komplexität vorgezeichnet. Um trotzdem den Überblick zu behalten, ist es hilfreich, sich vor der ersten Lektüre zunächst mit dem Grundanliegen der Schrift vertraut zu machen. Was ist die generelle Absicht von Rousseaus kurzer Abhandlung über die Grundsätze des Staatsrechts? Eine Antwort darauf findet sich bereits auf den ersten Seiten des Gesellschaftsvertrags. „Der Mensch“, so heißt es im ersten Kapitel des ersten Buches, „wird frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie. Wie hat sich diese Umwandlung zugetragen? Ich weiß es nicht. Was kann ihr Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“viii Man sollte sich von der Formulierung nicht in die Irre führen lassen. Rousseaus Anliegen ist es keinesfalls, irgendwelche Formen personaler Abhängigkeit zu rechtfertigen – auch wenn es dem Anspruch nach durchaus um eine Legitimierung von Ketten geht. Aber welcher Art von Ketten? Das ist die Frage! Denn für Rousseau sind nicht alle Fesseln gleichermaßen akzeptabel. Solche jedenfalls sind es mit Sicherheit nicht, die einzelne Menschen der willkürlichen Verfügung durch andere unterwerfen. Man sollte das Wort ‚Ketten‘ vielleicht mit dem neutraleren Wort ‚Bindungen‘ übersetzen. Wenn wir eine Bindung miteinander eingehen, wie dies in gesellschaftlichen Verhältnissen stets der Fall ist, bedeutet dies, dass wir einen Teil unserer Unabhängigkeit aufgeben und etwas von unserer Autarkie preisgeben müssen. Die Frage lautet dann: Wie können wir uns so miteinander vereinigen, dass die konkrete Form dieser freiheitseinschränkenden Bindung zugleich als rechtmäßig angesehen werden kann? Welche sozialen und politischen Ketten sind hinnehmbar und akzeptabel? Das Grundanliegen des Gesellschaftsvertrags ist damit ein normatives. Anders als noch in seinen berühmten kulturkritischen Schriftenix geht es Rousseau hier nicht um eine historische Erklärung der Entstehung von gesellschaftlichen bzw. politischen Abhängigkeitsverhältnissen; geschichtliche Beschreibungen dienen im Gesellschaftsvertrag allenfalls zur Veranschaulichung und nicht zur systematischen Begründung. Rousseaus eigentliche Absicht ist eine andere: Er fragt nicht danach, wie gesellschaftliche Verbindungen tatsächlich entstanden sind, sondern wie sie beschaffen sein müssten, um Legitimität beanspruchen zu können. Rousseau sucht also nach geeigneten Maßstäben, anhand deren sich beurteilen lässt, ob soziale Beziehungsformen anerkennenswürdig sind oder nicht. Wie sollte ein Gemeinwesen aufgebaut und institutionell verfasst sein, damit es die rational motivierte Zustimmung seiner Mitglieder verdient? Das ist die Grundfrage des Gesellschaftsvertrags. Rousseau zielt dabei insbesondere auf eine Begründung angemessener politischer Institutionen. Solche Institutionen gehen in aller Regel mit hierarchischen Beziehungsmustern einher. Es gibt Regierende und Regierte. Damit sind Herrschaftsverhältnisse im Spiel. Aber aus welchem Grund bemüht sich der Verfasser des Gesellschaftsvertrags, politische Autoritätsstrukturen zu legitimieren, wenn doch der Mensch ein zur Freiheit geborenes Wesen ist? Wären nicht auch horizontalere Beziehungsformen möglich? Eine Antwort auf diese Fragen lässt sich im Sinne Rousseaus wie folgt umreißen: Zwar sind die Menschen in der Tat frei geboren. Allerdings sind sie, jedenfalls unter normalen Umständen, gezwungen, in gesellschaftlichen Beziehungen zu leben, die ihnen ein kooperatives Verhalten abverlangen. In einer Gesellschaft kann nicht jeder und jede einfach immer das tun, wonach ihm oder ihr gerade der Sinn stehen mag. Er oder sie muss vielmehr Rücksicht auf die Wünsche und Nöte der anderen nehmen. Wären Menschen vollkommene moralische Geschöpfe, so würden sie bei allen ihren individuellen Entscheidungen stets von sich aus das Wohl aller anderen im Auge behalten – vorausgesetzt, dass sie sich über sämtliche Konsequenzen ihres Handelns im Klaren sein können. Eine solche Annahme ist aber unrealistisch. Menschen sind zwar durchaus zu moralischen Rücksichten in der Lage. Sie sind aber ebenso egoistische Wesen, die in vielen Situationen primär auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, der nicht immer automatisch im Einklang mit den Forderungen der Moral zu stehen braucht. Deshalb bedarf es anderer als moralischer Garantien, um ein kooperatives Miteinander zu gewährleisten, das auch unter Bedingungen von Interessenkonkurrenz aufrechterhalten werden kann. Dies ist exakt der Punkt, an dem für Rousseau die Politik ins Spiel kommt: „Gäbe es keine verschiedenen Interessen“, heißt es in einer Fußnote des Gesellschaftsvertrags, „würde [alles] ganz von selbst gehen, und die Politik aufhören, eine Kunst zu sein.“x Da die Menschen aber, wie beschrieben, oftmals dazu tendieren, eher ihren partikularen Neigungen als allgemeinen Grundsätzen der Moral zu folgen, bedarf es nach Rousseau der Kunst der Politik. Diese erzwingt, machtgestützt und sanktionsbasiert, kooperatives Verhalten auch in solchen Fällen, in denen die moralischen Ressourcen der Individuen dafür nicht ausreichend wären. Ihre Aufgabe ist es, kollektiv bindende Regeln des Miteinanders festzulegen und diese, wenn nötig unter Androhung von Strafe, gegenüber den Einzelnen durchzusetzen, damit diese von ihren Freiheiten keinen missbräuchlichen Gebrauch machen. Wie aber muss Politik institutionalisiert und organisiert werden, damit sie ihrerseits die ihr zukommende Macht und Autorität nicht ausnutzt – indem etwa Gesetze verabschiedet werden, die ausschließlich den partikularen Interessen der Herrschenden zugute kommen? Das führt uns wieder zur Ausgangsfrage des Gesellschaftsvertrags zurück. Was sind die Grundzüge eines rechtmäßigen Gemeinwesens? Natürlich ist diese Frage alles andere als neu. Die Suche nach der guten und gerechten Ordnung beschäftigt das europäische Politikdenken mindestens seit Platon.xi Rousseau zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass er beinahe alle bisherigen Überlegungen seiner Vorläufer als fehlerhaft zurückweist. Seine Kritik verfolgt dabei im Wesentlichen zwei Stoßrichtungen: Einerseits kritisiert er die grundbegrifflichen Fundamente, von denen ausgehend politische Autorität in vielen Fällen abgeleitet wurde. Andererseits verwirft er die Institutionalisierungsvorschläge seiner Vorgänger. In Abgrenzung dazu entwickelt Rousseau seine eigenen Grundsätze des Staatsrechts – die zugleich auf die von ihm favorisierte Einrichtung von Politik vorausweisen. Das ist das hauptsächliche Thema des ersten Buchs des Gesellschaftsvertrags, um das es nun zunächst gehen soll. Wir fangen mit dem ersten Punkt von Rousseaus Kritik an seinen Vorgängern an: den fehlerhaften grundbegrifflichen Fundamenten, die zur Rechtfertigung politischer Autoritätsansprüche herangezogen wurden. Rousseau weist hier insbesondere alle Versuche zurück, die Legitimität politischer Herrschaft in irgendeiner Weise von der Natur abzuleiten. So lässt sich eine Berechtigung zur Ausübung politischer Autorität seiner Ansicht nach zum Beispiel nicht auf ein ursprüngliches Recht des Stärkeren zurückführen. Das ist eine Begründungsstrategie, wie sie etwa in der Antike von dem griechischen Sophisten Thrasymachos vertreten wurde.xii Was ist daran falsch? Nun, es mag zwar sein, dass in der Geschichte tatsächlich oftmals die Stärksten die Geschicke der Politik bestimmen konnten. Aber wir erinnern uns: Rousseau fragt nicht danach, wie politische Autorität de facto zustande gekommen ist, sondern wie sie beschaffen sein muss, um Legitimität beanspruchen zu können. Tatsachen schaffen kein Recht; und...