Poulain | Die Seefahrerin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Poulain Die Seefahrerin

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20754-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-641-20754-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lili ist frei. Sie hat ihr Leben hinter sich gelassen. Vor der Westküste Alaskas fährt sie als einzige Frau mit einer Fischfangbesatzung über den Ozean. Sie ist dem eiskaltem Wind des Meers ausgesetzt, spürt das Salz auf der Haut, schuftet, schläft an Deck des Schiffes, geht an ihre Grenzen - und wird Teil der rauen Welt der hartgesottenen Matrosen. Doch einer unter ihnen ist anders als alle anderen: Lili und Jude ziehen sich magisch an, ihre Beziehung ist fast zerstörerisch. Als er sie bittet, mit ihm fortzugehen, muss Lili sich entscheiden zwischen der grenzenlosen Freiheit der Meere und der vielleicht größten Liebe ihres Lebens.

Catherine Poulain, in Frankreich geboren, hat zehn Jahre auf den Meeren Alaskas verbracht. Zuvor hat sie unter anderem in einer Fischkonservenfabrik in Island, in einer Werft in den USA und als Barkeeperin in Hongkong gearbeitet. Die Seefahrerin ist ihr erster Roman, für den sie 2016 für den Prix Goncourt du Premier Roman nominiert und vielfach ausgezeichnet wurde. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem Hund und ihren Schafen als Hirtin in den Weinbergen Südfrankreichs.
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In Anchorage ist herrliches Wetter. Ich warte hinterm Fenster. Ein Indianer zirkelt um mich herum. Ich bin am Ende der Welt und habe Angst. Dann steige ich wieder in ein Flugzeug, es ist winzig. Die Stewardess gibt uns einen Kaffee und ein Cookie, und danach tauchen wir in den Nebel ein, verschwinden in der blendend weißen Helle, du hast es so gewollt, Mädchen, da hast du dein Ende der Welt. Eine Insel taucht zwischen zwei Nebelbänken auf – Kodiak. Dunkle Wälder, Berge und schmutzig braune Erde, die unter Schneeresten hervorschaut. Am liebsten würde ich weinen. Jetzt geht’s also zum Fischen.

In der Halle des kleinen Flughafens trinke ich einen Kaffee, einem gehässigen Grizzly gegenüber. Männer gehen an mir vorbei, ihr Bündel über der Schulter. Breitschultrig, wettergegerbte, markante Gesichter. Sie scheinen mich nicht zu sehen. Draußen der weiße Himmel, die grauen Hügel, überall klagende Möwen.

Ich rufe an. »Hallo«, melde ich mich, »ich bin die Freundin vom Fischer aus Seattle. Er hat mir gesagt, dass Sie Bescheid wissen und dass ich ein paar Tage bei Ihnen wohnen kann, bis ich ein Schiff gefunden habe.«

Eine neutrale Männerstimme – er sagt ein paar Worte –, »Oh shit!«, höre ich eine Frau antworten. Welcome, Lili, denke ich. Willkommen in Kodiak. Aber sie hat Oh shit! gesagt.

Eine kleine, magere Frau steigt aus einem Pick-up, dünnes aschblondes Haar, abgespannte Züge, ein schmaler, blasser Mund, der nicht lächelt, Augen wie aus blauem Porzellan. Sie fährt, sagt keinen Ton. Wieder über eine schnurgerade Straße geht es, durch einen Vorhang von Bäumen, dann ist die Landschaft kahl. Wir fahren an der Küste entlang, überqueren kleine, vom Frost zusammengeschnurrte Meeresarme.

»Das da ist dein Bett.« Sie zeigt mir das Sofa im Wohnzimmer.

»Oh, vielen Dank«, sage ich.

»Wir machen Netze für die Fischer. Ringwadennetze. Wir kennen jeden hier in Kodiak. Wir können uns ja mal für dich nach Arbeit umhören.«

»Oh, vielen Dank.«

»Setz dich doch, fühl dich wie zu Hause. Da ist das Klo, da das Bad, die Küche. Wenn du Hunger hast, nimm dir was aus dem Kühlschrank.«

»Oh, vielen Dank.«

Schon bin ich vergessen. Ich setze mich in eine Ecke, schnitze an einem Holzstück herum, gehe raus. Ich möchte eine Hütte für mich finden, aber es ist zu kalt, die Erde ist braun und der Schnee schmutzig. Der weite Himmel über den kahlen, ganz nahen Bergen ist grau. Als ich zurückkomme, essen sie. Ich setze mich aufs Sofa, warte, bis sie fertig sind, warte auf die Nacht, damit sie verschwinden und ich mich ausstrecken und vielleicht schlafen kann.

Die Frau hat mich in der Stadt abgesetzt. Auf einer Bank am Hafen esse ich Popcorn. Ich zähle mein Geld, die Scheine und die Münzen. Es wäre gut, wenn ich bald Arbeit fände. Ein Typ ruft mir von der Werft aus etwas zu. Vor dem Hintergrund des grauen Wassers hebt er sich vom weißen Himmel ab, schön wie eine antike Statue. Er ist bis zum Hals hoch tätowiert, bis unter die rebellischen dunklen Locken.

»Ich bin Nikephoros«, sagt er. »Und du, wo kommst du her?«

»Von weit weg«, antworte ich, »ich komme zum Fischen.«

Das scheint ihn zu wundern, doch er wünscht mir viel Glück.

»Bis später, vielleicht?«, ruft er noch, bevor er die Straße überquert.

Er geht drei Betonstufen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hoch, in ein schlichtes, eckiges Holzhaus hinein – B and B Bar steht über der Tür – zwischen zwei großen Glasfronten, von denen eine gesprungen ist.

Ich stehe auf, gehe über die Laufplanke. Ein dicker Mann ruft mir von einem Schiffsdeck aus etwas zu:

»Suchst du was?«

»Arbeit.«

»Komm doch an Bord!«

Im Maschinenraum trinken wir ein Bier. Ich traue mich nicht zu reden. Er ist nett und bringt mir drei Seemannsknoten bei.

»Jetzt kannst du auf Fischfang gehen«, sagt er. »Aber du musst selbstsicher auftreten, wenn du Arbeit suchst. Damit die Männer gleich merken, mit wem sie es zu tun haben.«

Er gibt mir noch ein Bier, als ich mich plötzlich an eine verrauchte Bar erinnere.

»Ich muss los«, sage ich kaum hörbar.

»Komm wieder, wann immer du willst. Wenn das Boot im Hafen liegt, bist du jederzeit willkommen.«

Ich wandere weiter über die Anlegestellen, von einem Schiff zum nächsten, bei jedem frage ich:

»Brauchen Sie jemanden?«

Sie hören mich nicht, meine abgehackten Wörter werden vom Wind weggetragen. Ich muss lange üben, bevor mir jemand antwortet.

»Warst du schon mal fischen?«

»Nein …«, stammle ich.

»Hast du Papiere? Eine Greencard, eine fishing licence?«

»Nein.«

Sie werfen mir komische Blicke zu.

»Geh woandershin, du wirst schon was finden«, sagen sie noch freundlich.

Aber ich finde nichts. Also gehe ich zurück, lege mich zum Schlafen aufs Sofa, den Bauch bis oben hin voller Popcorn. Jobs als Nanny bekomme ich angeboten – um die Kinder derer zu hüten, die auf Fischfang gehen. Eine schreckliche Demütigung. Mit freundlicher Hartnäckigkeit lehne ich ab, schüttle den gesenkten Kopf. Als ich mich nach Hütten erkundige, bekomme ich ausweichende Antworten. Ich helfe meinen Gastgebern mit ihren Netzen.

Dann werde ich endlich fündig. An ein und demselben Tag bekomme ich zwei Stellen als Matrose angeboten: in Küstennähe auf einem Ringwadenschiff Heringe fischen oder auf einem Langleinen-Kutter anheuern, um auf hoher See Kohlenfisch zu fangen. Ich nehme die zweite Stelle, weil es sich besser anhört, long-lining, das wird hart und gefährlich, und die Mannschaft besteht aus gestandenen Matrosen. Beim Anheuern wirft ein langer dünner Kerl mir einen überraschten sanftmütigen Blick zu. Als er meine bunte Tasche und mich sieht, sagt er nur: »Leidenschaft ist doch was Feines.« Dann wird sein Blick wieder fester.

»Ab jetzt musst du dich bewähren. Wir haben drei Wochen Zeit, um das Schiff seeklar zu machen, die Leinen instandzusetzen und herzurichten. Ab jetzt wird es dein einziges Ziel im Leben sein, für die Rebel zu arbeiten, Tag und Nacht.«

»Ich möchte von einem Schiff adoptiert werden«, flüstere ich in der windigen Stille der Nacht. Wir arbeiten seit Tagen in einem feuchten Raum, hinter Kübeln aus Weißblech, in denen aufgerollte Langleinen liegen. Wir reparieren die Leinen, wechseln abgerissene Mundschnüre und verbogene Haken aus. Ich lerne zu spleißen. Ein Mann neben mir arbeitet schweigend. Er ist zu spät gekommen, mit abwesendem Blick. Der Kapitän hat ihn angeschnauzt. Er riecht nach abgestandenem Bier, kaut Tabak. Ab und zu spuckt er den Saft in eine unendlich schmutzige Tasse. Jesús, mir gegenüber, lächelt mir zu. Jesús ist Mexikaner, er ist klein und gedrungen, sein Gesicht rund und goldbraun, die Wangen sind samtweich. Da kommt ein junger Typ aus einem dunklen Raum, hinter ihm ein sehr junges, dickes Mädchen. Sie ist Indianerin. Der Typ schaut verlegen zu Boden, als er an uns vorbeigeht.

»Da hat Steve gestern Abend wohl Glück gehabt«, sagt der Kapitän mit einem hämischen Lachen.

»Wenn man da von Glück sprechen kann«, antwortet der Mann neben mir. Und dann sagt er zu mir, völlig ungerührt und ohne den Blick von seinem Fass zu lösen: »Vielen Dank für die Statue.«

Verständnislos sehe ich ihn an. Sein Gesicht ist ernst, doch seine schwarzen Augen scheinen zu lachen.

»Eine schöne Statue ist es, meine ich: die Freiheitsstatue. Die haben wir doch von euch bekommen, den Franzosen, oder?«

Im Radio läuft Countrymusik. Jemand hat Kaffee gekocht, wir trinken ihn aus Tassen, die wir nur kurz an unseren Klamotten abgewischt haben.

»Wir dürfen nicht vergessen, die Wassertanks wieder zu füllen«, sagt John, ein großer blonder, sehr blasser Mann.

»Ich heiße Wolf, wie das Tier«, flüstert mein Nebenmann.

Und er erzählt, dass er seit fünfzehn Jahren Fischer ist und dreimal Schiffbruch erlitten hat, dass er eines Tages ein eigenes Schiff haben wird, vielleicht sogar schon nach dieser Saison, wenn der Fang gut war, und er die Stadt nicht allzu rot angemalt hat. Ich verstehe nicht, was er da sagt.

»Die Stadt? Rot?«

Er lacht, und Jesús lacht mit ihm.

»Sich besaufen, heißt das.«

Ich möchte es auch gern, die Stadt rot anmalen, das hat er begriffen. Er verspricht mir, mich mitzunehmen, wenn wir wieder an Land sind. Dann gibt er mir eine Kugel Kautabak.

»Hier, steck sie da hin …«

Ich freue mich, traue mich aber nicht, auszuspucken, also schlucke ich den Saft hinunter. Es brennt im Magen. Von nichts kommt nichts, denke ich.

Abends begleitet mich Jesús einmal zurück. »Ich habe Angst vor dem Meer«, sagt er, »aber ich muss zum Fischen, meine Frau ist schwanger. In den Konservenfabriken verdient man nicht genug. Und ich will so gerne aus dem mobile home raus, wo wir im Moment mit einem Haufen anderer Leute wohnen. Eine Wohnung nur für uns zwei und das Baby.«

»Ich habe keine Angst, auf dem Meer zu sterben«, antworte ich.

»Sei still, so darf man nicht reden, solche Sachen darf man niemals sagen.«

Er sieht erschreckt aus.

Der lange dünne Kerl heißt Ian. Er lädt mich zu sich ein, in ein Haus am Ortsausgang, mitten im dunklen Wald. Die anderen gucken komisch. Bestimmt denken sie, dass der lange Dünne, unser Kapitän, heute Abend Glück haben wird. Seine Frau wohnt nicht mehr hier, ihr war Alaska zu langweilig, und sie ist mit den Kindern ins...


Poulain, Catherine
Catherine Poulain, in Frankreich geboren, hat zehn Jahre auf den Meeren Alaskas verbracht. Zuvor hat sie unter anderem in einer Fischkonservenfabrik in Island, in einer Werft in den USA und als Barkeeperin in Hongkong gearbeitet. Die Seefahrerin ist ihr erster Roman, für den sie 2016 für den Prix Goncourt du Premier Roman nominiert und vielfach ausgezeichnet wurde. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrem Hund und ihren Schafen als Hirtin in den Weinbergen Südfrankreichs.



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