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E-Book, Deutsch, 408 Seiten

Prasad Im Land des Überflusses

Reichtum und das Paradox der Armut in den USA
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86854-424-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reichtum und das Paradox der Armut in den USA

E-Book, Deutsch, 408 Seiten

ISBN: 978-3-86854-424-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit der Laudatio von Wolfgang Knöbl zur Verleihung des Siegfried-Landshut-Preises Warum gibt es in den Vereinigten Staaten mehr Armut als in jedem anderen entwickelten Land? Wie ist es um das paradoxe Verhältnis von uferlosem Reichtum und verheerender Armut bestellt?  Die amerikanische Konsumenten-Ökonomie hat ihren Ursprung nicht in Shoppingmalls oder in den Städten, so Monica Prasad, sondern in der Macht der Agrarlobbys im ausgehenden 19. Jahrhundert. Farmer hatten einen bemerkenswerten Einfluss: Sie setzten das Ende des Goldstandards durch und damit die »Demokratisierung« des Kredits, also eine Politik des leicht verfügbaren Geldes sowie der progressiven Besteuerung. Zunächst führte das für lange Zeit zu einem explosionsartigen Wirtschaftswachstum mit permanenter Überproduktion. Seit dem New Deal werden Menschen ermutigt, Kredite aufzunehmen. Die dramatischen Konsequenzen sehen wir heute: Die progressive Besteuerung führte zu immensen Abschreibungsmöglichkeiten für Wohlhabende, während die leicht verfügbaren Kredite, auch als Kompensation für mangelnde sozialstaatliche Absicherung, Geringverdienende in die Schuldenfalle trieben. Das begünstigte die Finanzkrise von 2008 und die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Prasad zeigt in ihrem Buch, wie verheerend bestimmte Formen von Krediten für einen Wohlfahrtsstaat sind, und verweist in ihrer vergleichenden Studie auf die unterschiedlichen Entwicklungen in Europa und den USA.

Monica Prasad ist Professorin für Ökonomie und Politische Soziologie an der Johns Hopkins University. Das Hamburger Institut für Sozialforschung zeichnet sie mit dem Siegfried-Landshut-Preis 2023 aus.
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Vorwort


Eine der zentralen Fragen der vergleichenden politischen Ökonomie lautet, warum es in den Vereinigten Staaten so viel mehr Armut gibt als in anderen Industrieländern. Nach allen Messverfahren, mit denen sich Armut erfassen lässt, schneiden sie schlechter ab als andere Länder, selbst wenn man die unterschiedliche ethnische Zusammensetzung und die Einwanderungsgeschichte der US-amerikanischen Bevölkerung berücksichtigt. Seit nahezu hundert Jahren beschäftigen sich Soziologinnen1, Politologen und Wirtschaftswissenschaftlerinnen mit dieser Frage und kommen unweigerlich zum gleichen Schluss: In den USA gibt es mehr Armut, weil der Staat nichts dagegen unternimmt. Die Marktungleichheit ist dort gleich stark ausgeprägt wie in anderen Ländern, und erst nach staatlicher Intervention durch Steuern und Transfers ist ein deutliches Auseinanderklaffen der Armutsraten zu beobachten. Anders gesagt: Wir wissen, wie sich Armut beheben oder zumindest auf das europäische Niveau reduzieren lässt, aber wir entscheiden uns dagegen. Die jahrhundertealte Tradition der vergleichenden politischen Ökonomie hat eine Reihe von Theorien hervorgebracht, die diese Situation zu erklären versuchen, indem sie auf die »rassische« Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft, die Kultur der freien Marktwirtschaft, die Schwäche der Arbeitervertretung oder die politische Macht der Unternehmen verweisen. In Details weichen diese Theorien voneinander ab, sind sich aber alle einig, dass die amerikanische Volkswirtschaft von einem Minimum an staatlichen Interventionen oder von solchen geprägt ist, die Marktunterschiede verstärken, und dass die USA ein »liberales« Laissez-faire-Land sind, das dem Staat misstraut und den freien Markt favorisiert.

Zugleich haben in den letzten beiden Jahrzehnten Forschungen in den Geschichtswissenschaften und in den historisch ausgerichteten Sozialwissenschaften gründlich mit der Möglichkeit aufgeräumt, zu glauben, die USA seien ein minimalinterventionistischer Staat. So hat das interdisziplinäre Forschungsprogramm »American political development« den »veralteten Mythos des ›schwachen‹ amerikanischen Staates«, wie William Novak es nannte, auseinandergenommen.2 Aber auch diese historisch ausgerichtete Fachliteratur, die von der vergleichenden politischen Ökonomie ignoriert wird, vermag nicht zu erklären, warum es in den USA mehr Armut gibt und warum der Kapitalismus in verschiedenen Ländern so unterschiedliche Erscheinungsformen annimmt. Wenn die USA interventionistisch sind und es immer waren, lassen sich die relevanten Unterschiede zwischen den Ländern noch schwerer erklären.

Dieses Buch stellt einen Versuch dar, in der vergleichenden politischen Ökonomie einen Neustart zu wagen und anzuerkennen, was wir aus den historischen Forschungsergebnissen lernen können, dieses Wissen aber zu nutzen, um die von der vergleichenden Fachliteratur aufgeworfene Frage zu beantworten: Warum bestehen solche Unterschiede zwischen den USA und Europa? Warum interveniert der amerikanische Staat so stark in manchen Bereichen, die Arbeitskräften, Konsumenten und Armen nützen – wie Verbraucherschutz und Besteuerung –, aber in anderen nicht – wie einem Sozialstaat?

Meine Argumentation in diesem Buch will zeigen, dass es in den USA mehr Armut gibt, weil sich eine Reihe progressiver Interventionen als Bumerang erwiesen haben. Der amerikanische Staat ist keineswegs generell weniger interventionistisch, nur haben seine Eingriffe andere Formen angenommen, die in der Armutsbekämpfung weniger erfolgreich waren. Um zu erklären, warum sie diese besondere Ausprägung hatten und wie sie im Einzelnen fehlschlugen, entwickele ich eine »Nachfrage«-Theorie der vergleichenden politischen Ökonomie, die sich darauf konzentriert, wie Staaten den Massenkonsum strukturieren. Meine Argumentation geht von der Beobachtung aus, dass der Hauptunterschied zwischen Europa und den USA von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im explosionsartigen Wirtschaftswachstum der USA bestand, dem wirtschaftliche Schwierigkeiten Europas gegenüberstanden. Als die Produktivität und die Größe des amerikanischen Marktes auf der ganzen Welt zu sinkenden Preisen vor allem für landwirtschaftliche Produkte führten, reagierten die meisten europäischen Länder mit Protektionismus und schlossen ihre Grenzen gegen die amerikanische Invasion. Auch die Amerikaner ergriffen Schutzmaßnahmen, aber Zollschranken genügten nicht, weil das Problem in der Produktivität der amerikanischen Landwirtschaft bestand. In der Folge kam es in den USA zu einer starken Agrarierbewegung, die auf eine Umgestaltung der Wirtschaftspolitik abzielte. Für diese Neuordnung hatten die Populisten des 19. Jahrhunderts wichtige Vorbilder geliefert, aber der entscheidende Moment für diese neue Wirtschaftsordnung war die Weltwirtschaftskrise, die damals viele als Folge der »Überproduktion« sahen. »Das Land des Überflusses« war ein Ausdruck, den Huey Long in den 1920er Jahren für das Rätsel prägte, dass Wohlstand in Form einer ungewöhnlich guten Ernte zur Katastrophe in Form von sinkenden Preisen werden konnte, die es Farmern unmöglich machte, ihre Schulden zu begleichen. Wie viele andere zog Long eine direkte Verbindungslinie vom Preisverfall zu Zwangsvollstreckungen von Farmen, von dort zur Instabilität von Banken und zur Weltwirtschaftskrise. In dieser Krise ging es nicht darum, dass es zu wenig gab, sondern zu viel. »Leute hungern«, erklärte Long, »und doch haben wir in diesem Land mehr Weizen, Mais, Fleisch, Milch, Käse, Honig und Gemüse, als die ganze menschliche Rasse in Amerika verzehren könnte, wenn man alle frei essen lassen würde, was sie wollten. […] Etwas stimmt nicht, wenn Leute ohne Nahrung darben und ohne Kleidung frieren und beides nicht bekommen können, weil es in diesem Land zu viel gibt.«3 Wie viele andere kam auch er zu dem Schluss, das Problem sei die Konzentration des Reichtums in den Händen weniger, die verhindere, dass die Hungernden und Frierenden ihre Bedürfnisse in Marktnachfrage nach der Überfülle von Produkten übersetzten, die auf amerikanischen Farmen verrotteten. Daher trat er für eine grundlegende Transformation des Kapitalismus ein: »Würden wir unseren großen Reichtum genügend verteilen, sodass allen im Land des Überflusses gedient wäre – dann gäbe es eine Transfusion in den Handel, eine Verbesserung für die Vergessenen, eine Hoffnung für unsere Nation.«4

Seit den 1980er Jahren haben viele Beobachterinnen, darunter auch die meisten Sozialwissenschaftler, argumentiert, die Verteilung unseres großen Reichtums sei etwas ausgesprochen Unamerikanisches. Aber zuvor hatten die USA hundert Jahre lang genau das aus den von Long angegebenen Gründen getan. Der amerikanische Staat war von Bemühungen geprägt, auf Überflussprobleme zu reagieren, während ein politisch gespaltenes Europa sich abmühte, Wirtschaftswachstum zu generieren. Wie sich herausstellt, ist es eine tief verwurzelte amerikanische Tradition, »unseren großen Reichtum [zu] verteilen«.

Vorangetrieben durch Agrarpolitiker, die wichtige Stimmen von Wechselwählerinnen erhielten, einigten sich die USA auf ein Muster progressiver Besteuerung und agrarfreundlicher Bestimmungen, das zu einer Demokratisierung des Kredits und zu strengen Regulierungen für Unternehmen führte. Das Muster staatlicher Intervention in Bereichen, die für die Agraragenda wichtig waren, wie die Regulierung von Unternehmen, ist ein Punkt, den Historiker in ihren Schriften über den erstaunlich interventionistischen amerikanischen Staat angemerkt haben. Aber progressive Besteuerung und das Vertrauen auf Konsumkredite untergruben die Unterstützung für den Sozialstaat – in einem komplexen Prozess, den dieses Buch nachzeichnet –, und das ist das Hauptmerkmal, das Vertreterinnen der vergleichenden politischen Ökonomie untersucht haben.

Die Macht des Agrar-Etatismus anzuerkennen, hilft uns, gegenwärtige Entwicklungen in den USA zu verstehen. Als die Ölpreisschocks der 1970er Jahre den stabilen Wachstumsraten der frühen Nachkriegszeit ein Ende setzten, löste die progressive Besteuerung in den Vereinigten Staaten eine Steuerzahlerrevolte aus, und die strengen Regulierungen ließen auf dem gesamten politischen Spektrum Rufe nach Deregulierung laut werden. Im Zuge der Deregulierung sorgte die einfache Kreditvergabe für finanzielle Volatilität, die auf den Rest der Welt übergriff. Erstaunlicherweise hatte keine unserer ausgeklügelten Theorien der vergleichenden politischen Ökonomie viel zu der Finanzkrise zu sagen, die unsere Wirtschaft in jüngster Zeit erschüttert hat. Dieses Buch zeichnet nach, wie die Agrarinterventionen zu einer Form von »Hypotheken-Keynesianismus« führten, der über mehrere Jahrzehnte hinweg das Wirtschaftswachstum in den USA schürte, und stellt in den Industrieländern eine Abwägung zwischen dem Vertrauen auf den Sozialstaat und...



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