Preiwuß | Restwärme | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Preiwuß Restwärme

Roman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8270-7750-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7750-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mariannes Vater ist gestorben. Aus ihrer eigenen, erwachsenen Existenz kehrt die junge Geologin dahin zurück, wo Mutter und Vater noch leben, in ein altes Haus am See, tief in der mecklenburgischen Provinz. Nur ein paar Tage will sie bleiben, bis nach der Beerdigung. Doch was sie glaubte, lange hinter sich gelassen zu haben, holt sie wieder ein. Eine Familiengeschichte voller stummer Tragödien. Ihr Vater war ein gebrochener Tyrann, ihre Mutter duldete und schwieg. Schicht um Schicht trägt Marianne ab. Zum Vorschein kommt, wie Verletzungen durch Krieg und Unfreiheit persönliche Schicksale prägen. Kerstin Preiwuß lässt dabei nicht der Bitterkeit das letzte Wort. Mit großem Verständnis für das menschliche Drama erzählt sie von Verletzungen, die Generationen überdauern. Ein Debüt wie lange nicht - sprachmächtig, klug und mit nachhallenden Bildern.

Kerstin Preiwuß wurde 1980 in Lübz geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Leipzig. Seit dem Wintersemester 2021 hat sie den Lehrstuhl für »Literarische Ästhetik« am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Die Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin promovierte über deutsch-polnische Ortsnamen und debütierte 2006 mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«, dem der Gedichtband »Rede« (2012) folgte. 2014 erschien ihr vielbeachtetes Romandebüt »Restwärme«, 2016 der Lyrikband »Gespür für Licht« und 2017 ihr zweiter Roman »Nach Onkalo«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. 2020 erschien der Gedichtband »Taupunkt«. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet etwa mit dem Hermann-Lenz-Stipendium, dem Lyrikpreis Meran, dem Eichendorff-Literaturpreis und zuletzt 2020 mit dem Anke-Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung. Kerstin Preiwuß ist seit 2021 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Preiwuß Restwärme jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte Lufthansa gebucht, obwohl die teurer waren, weil noch nie eine Maschine der Lufthansa abgestürzt war. Neben ihr saß ein Elternpaar mit Baby, und kein Flugzeug, in dem ein Baby mitflog, würde abstürzen, so etwas passierte einfach nicht. Das Kleine wurde abwechselnd von Vater und Mutter auf den Arm genommen, je nachdem, zu wem es sich drehte. Dabei brabbelte es vor sich hin. Es hatte die ganze Startphase über geschrien, bis seine wenigen Haare nass am Kopf klebten, sich durchgebogen und immer wieder zurückgeworfen, sodass seine Eltern es kaum halten konnten. Die Ohren, sagte seine Mutter entschuldigend zu ihr, es tut ihm in den Ohren weh. Sie konnte das Baby verstehen, denn obwohl es während des Flugs keine Turbulenzen gegeben hatte, war sie nassgeschwitzt. Der Schweiß war ihr ausgebrochen, nachdem die Flugbegleiterin zwei junge Männer in der Reihe hinter ihr gebeten hatte, sich leiser zu unterhalten, sie würden die anderen Passagiere stören. Die beiden warteten, bis die Frau weitergegangen war, dann fuhren sie lautstark mit ihrer Unterhaltung über Filme fort, in denen Flugzeuge abstürzten. Sie drehte sich um und starrte die Männer an, aber es änderte nichts, die beiden animierten sich gegenseitig mit Begeisterungslauten zu immer neuen Details. Lautlos wünschte sie ihnen Impotenz wegen zu hoher Strahlenbelastung und drehte sich wieder zurück. Mit der Wut kam der Schweiß, er nässte bereits unter ihren Achseln, es juckte, als würden kleine Nadeln von innen durch die Haut stoßen. Um sich vom Kratzen abzuhalten, presste sie die Hände gegen die Oberschenkel. Es kam vor, dass sie allergisch auf ihren eigenen Schweiß reagierte, selten zwar, aber es war schon passiert, in jedem Fall machte es ihr das Leben nicht einfacher, bei Vorstellungsgesprächen etwa oder bei Verabredungen. Sie hatte darum alle erdenklichen Entspannungsübungen gelernt und war mit Bachblüten, Yoga und autogenem Training vertraut. Die Kombination von Bachblütentropfen und autogenem Training half normalerweise gut, nur beim Fliegen versagte jedes Mittel. Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken. Mutter hatte sie noch am späten Abend angerufen. In ihrer Stimme hatte ein Unterton gelegen, der sie, obwohl sie schon im Bett lag, schlagartig munter machte. Mutter rief sonst nie an. Sie hatte die Bettdecke beiseitegeschoben, war mit dem Telefon ins Bad gegangen und hatte sich auf die Toilette gesetzt. Dort war es am kühlsten. Das Gespräch war kurz. Sie sagte, sie werde kommen, und legte auf, ohne die Antwort abzuwarten. Danach blieb sie sitzen, das Telefon in der Hand. Obwohl sie kaum etwas gesagt hatte, war sie erschöpft. Der Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten, aber das konnte auch an der hohen Luftfeuchtigkeit liegen, selbst in den Nächten kühlte die Luft hier nicht ab. Ihre Knappheit am Telefon war eine Flucht nach vorn gewesen, in ihrer Vorstellung behielt auch Mutter den Hörer in der Hand. Die beiden Männer gingen noch bis kurz vor dem Landeanflug sämtliche ihnen bekannten Katastrophenfilme durch, erst dann wurden sie ruhiger. Sofort nachdem das Flugzeug still stand, brach in der Kabine eine geschäftige Hast aus, alle griffen nach ihren Taschen und drängten aus der Maschine. Sie stand auf, um die Familie mit dem Baby durchzulassen. Die Hose klebte ihr an den Beinen, und dort, wo sie gesessen hatte, glänzte das Leder. Unauffällig löste sie den Stoff von der Haut, nahm ihre Reisetasche und ging zum Ausstieg. Die Wohnung machte einen vernünftigen Eindruck. Ein paar Teller mit angetrockneten Resten standen in der Küche neben benutzten Gläsern und einer halben Pizza, die eingesunken in ihrem Pappkarton lag, aber das war in Ordnung. Normalerweise räumte Marie alles weg, bevor sie wiederkam. Sie ging weiter bis zum Zimmer ihrer Tochter und öffnete die Tür. An den Wänden hingen Poster einer Boyband. Ganz oben auf dem Regal stand eine Lavalampe, in der träge Blasen schwebten. Das Bett war nicht gemacht, und auf dem Boden lagen die Sachen, die sie gestern getragen haben musste. Das weiße Trägerhemd war viel zu kurz, um die Nieren zu bedecken. Bei dem Wetter würde sie sich erkälten. Sie riss ein Blatt aus einem der Collegeblöcke auf Maries Schreibtisch und zog die Tür wieder hinter sich zu. Marie mochte es nicht, wenn sie heimlich in ihr Zimmer ging. Sie wiederum hatte etwas dagegen, dass ihre Tochter sich zu dünn anzog. In gewisser Hinsicht waren sie also quitt. Mit dem Blatt setzte sie sich in die Küche und schrieb einen kurzen Brief, in dem sie erklärte, dass sie zwar früher zurückgekehrt, aber schon wieder unterwegs war. Bereits beim zweiten Satz geriet sie ins Stocken. Sie setzte an, strich durch, setzte erneut an, bis die Wörter schwarz übermalt waren. Dann zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Müll, nur um es gleich wieder herauszuholen und in ihre Hosentasche zu stecken. Es war besser, Marie erfuhr nichts davon. Sie hatten abgemacht, dass sie zum Schlafen zu einer Freundin ging. Marie war es gewohnt, häufiger dort zu übernachten, während sie für die Arbeitstreffen in Neapel war. Das war eine stille Übereinkunft zwischen ihnen und es funktionierte gut. Sie ging in den Flur zurück, schulterte ihre Tasche, ohne noch einmal hineinzuschauen, und verließ die Wohnung. Die Fahrt dauerte drei Stunden auf einer Strecke, für die man eigentlich die Hälfte der Zeit brauchte, aber der Zug hielt alle zehn Minuten. Manchmal waren es nur Behelfsbahnhöfe. Sie war gleich nach oben gegangen und hatte sich einen freien Vierersitz gesucht, sie konnte nur in Fahrtrichtung sitzen, andernfalls wurde ihr schlecht. In Fahrtrichtung zu sitzen war die einzige Sicherheit, die ihr das Fliegen bot. Ansonsten gab es nur Nachteile, vor allem konnte man sich nicht aussuchen, wo und neben wem man saß, oder den Platz wechseln, wenn einem der Sitznachbar nicht passte. Nach dem nächsten Halt ging ein Mann an ihr vorbei, sah auf die Tasche, die sie auf den gegenüberliegenden Sitz geworfen hatte, und fragte, ob der Platz noch frei sei. Sie zuckte zusammen, als wäre er zu nah an sie herangetreten, und war zugleich von sich selbst peinlich berührt. Die meisten Doppelsitze waren belegt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand zu ihr setzen würde. Sie zog die Tasche weg. Der Mann nahm den Platz schräg gegenüber, seine Knie stießen dabei fast an ihre Beine, sodass sie die Füße einzog, um nicht unhöflich zu wirken. Sie musterte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er war schon alt. Auf dem Kopf trug er eine jeansfarbene Schirmmütze, an der rechts über dem Ohr mit einer Sicherheitsnadel drei Federn eines Eichelhähers befestigt waren. Es waren die Schmuckfedern, die es nur an den Flügeln gab. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Der Wind zog durch die Ritzen und ließ sie frösteln, obwohl es Juni war. Berlin hatte sie mit empfindlicher Kühle und Regen begrüßt. Ihre Hose hatte vom Saum her die Nässe aufgesogen und lag wie ein feuchter Lappen um die Knöchel. Ihre Füße waren nackt und steckten in Sandalen. Seit der Landung waren sie kalt. Langsam dünnten die Vorstädte aus. Man konnte in die Gärten hinter den Häusern schauen. Planschbecken lagen neben umgekippten Dreirädern schlaff im Gras. Stühle lehnten an Plastiktischen, ein paar Obstbäume, ansonsten Gemüsebeete und Rasen. Nur die Zucchinipflanzen waren neu, sie ersetzten nach und nach die Kürbisse auf den Komposthaufen. In den Mülleimer unter dem Fenster hatte jemand ein Hakenkreuz geritzt. Dahinter zog die Landschaft vorüber. Ein paar Rehe standen am Waldrand wie eine Momentaufnahme. Die Hügel der Endmoräne hatten bereits die Kiefernwälder und ihren sandigen Untergrund abgelöst, sie kam ihrem Ziel also näher. Ab und an war ein See zu sehen, sonst Felder, manche schon am Blühen, die meisten jedoch noch grün. Kuhherden standen ergeben auf durchtränkten Wiesen. Durch den Regen, der jetzt über das Fenster schlierte, waren sie jedoch nur schemenhaft zu erkennen. Das Prasseln war trotz der Zuggeräusche deutlich zu hören, mal stärker, mal schwächer, aber immer da. Mit dem Zug nach Hause kommen, das hieß, langsamer als langsam sein, einspurig. Warten auf den Gegenzug, kein ICE, nur Regionalbahn und ab und zu ein InterCity. Dafür Rehe, Kraniche, Füchse vielleicht und Natur, ja Natur: sehr schön hier, vierzig Kilometer Nacht waren kein Problem, nur Davonkommen war schwer, man hing so am Land, dass es an einem zog, wenn man es verließ, eine Art Herzschmerz, aber das war nur ein Bild, denn im Bauch saßen wesentlich mehr Nerven. Man musste wohl einen Ort finden für all die widersprüchlichen Gefühle, und da hatte das Herz gewonnen, denn hier ging das arme Blut rein und kam reich wieder raus, während der Magen bloß verschob, was am Ende den Körper verließ, vielleicht war die ganze Heimatsehnsucht nur so etwas wie eine Herzmetapher für den Bauch. Es war unversehens über sie gekommen. Das Wort Zuhause hatte sich in ihr gebildet, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Es passte nicht mehr. Es passte immer noch. Es hing an ihr und ließ nicht los. Eine Umklammerung, die nach außen wie eine Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nur nicht gleich ansah. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Das Treffen war gut verlaufen, sie hatte vorgearbeitet und konnte bereits einige Auswertungen präsentieren, die den Kollegen in Neapel helfen würden. Sie war stolz auf sich und ihre Arbeit, es bedeutete etwas, Teil einer internationalen Forschungsgruppe zu sein. Es war nicht einfach gewesen in der letzten Zeit, wie so vieles wurde auch ihr Institut wenn nicht abgewickelt, so doch zumindest verschlankt, und sie hatte ihre Chance genutzt. Schon während des Studiums hatte sie...


Preiwuß, Kerstin
Kerstin Preiwuß, geboren 1980 in Lübz (Mecklenburg), lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Leipzig. 2006 debütierte sie mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«. 2008 erhielt sie das Hermann-Lenz-Stipendium. 2012 erschien ihr zweiter Gedichtband »Rede«, der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in die Liste der Lyrikempfehlungen des Jahres aufgenommen wurde. Zuletzt erhielt sie den Lyrikpreis Meran 2018 und im September 2018 den Eichendorff-Literaturpreis. Im Berlin Verlag erschienen ihr vielbeachtetes Romandebüt »Restwärme« (2014), der Lyrikband »Gespür für Licht« (2016) sowie ihr zweiter Roman »Nach Onkalo« (2017), der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Kerstin Preiwuß ist Mitglied des P.E.N..

Kerstin Preiwuß, geboren 1980 in Lübz (Mecklenburg), lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Leipzig. 2006 debütierte sie mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«. 2008 erhielt sie das Hermann-Lenz-Stipendium. 2012 erschien ihr zweiter Gedichtband »Rede«, der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in die Liste der Lyrikempfehlungen des Jahres aufgenommen wurde. Zuletzt erhielt sie den Mondseer Lyrikpreis und im September 2018 den Eichendorff-Literaturpreis. Im Berlin Verlag erschienen ihr vielbeachtetes Romandebüt »Restwärme« (2014), der Lyrikband »Gespür für Licht« (2016) sowie ihren zweiter Roman »Nach Onkalo« (2017), der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Kerstin Preiwuß ist Mitglied des P.E.N..



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.