Prescher / Bauer / Dubb | Rettungswissenschaft | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 374 Seiten

Prescher / Bauer / Dubb Rettungswissenschaft

Grundlagen, Theorien und Perspektiven

E-Book, Deutsch, 374 Seiten

ISBN: 978-3-17-040842-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Rettungswissenschaft ist eine neue Fachdisziplin, deren Analysegegenstand die Rettung und Notfallversorgung ist. Sie verfolgt das Ziel, Handlungen wissenschaftlich zu untersuchen und die gewonnenen Erkenntnisse in Empfehlungen zu überführen. Widersprüche zwischen alltäglichem Handeln, gültigen Standards und dem Wissen aus den entsprechenden Fach- und Bezugswissenschaften der Notfallversorgung werden sichtbar, Notfalleinsätze damit professionalisiert und die Behandlungsqualität verbessert. Grundlagen der Rettungswissenschaft werden aufgezeigt und Einblicke in verschiedenste rettungswissenschaftliche Forschungsfelder gegeben. Erstmalig wird damit ein Modell der Rettungswissenschaft entwickelt, auf dessen Grundlage Forschungsfelder und -gegenstände für die Praxis sowie die Aus- und Weiterbildung etabliert werden können.
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1         Modell einer entstehenden Disziplin: Forschungsfelder und Gegenstandstheorien der Rettungswissenschaft
Thomas Prescher, Christian Bauer, Thomas Hofmann und Sebastian Koch
1.1       Rettungswissenschaft als Handlungs- und Reflexionswissenschaft
Rettungswissenschaft ist eine angewandte Handlungs-, Reflexions- und Berufswissenschaft, deren Analysefokus die Phänomene »Retten und Notfallversorgung« sind. Die Rettungswissenschaft kann als eine an der Praxis orientierte Wissenschaftsdisziplin verstanden werden. Sie hat den Anspruch, Anleitungen für das Handeln der PraxisakteurInnen1 zu liefern. Die Auseinandersetzung mit Begriffen im Kontext besonderer Lagen und unmittelbarer Einsätze an PatientInnen als erweiterte Maßnahmen (vgl. Müller et al., 2019, S. 8) müsse sich daher an den Konsequenzen für das Handeln orientieren, so König (1999, S. 33). Dieser Zusammenhang ist dahingehend von Bedeutung, als dass die Konsequenzen eines Begriffs wie der Rettungsdienst für ein Verständnis einer im Wesentlichen darauf bezogenen Rettungswissenschaft analysiert und diskutiert werden müssen. Rettungsdienst und Rettungswissenschaft können hier in einem wechselseitigen Verhältnis gesehen werden. Als Wissenschaft leistet sie einen Beitrag dazu, Zusammenhänge in der Praxis zu konfrontieren. Mit ihr werden Widersprüche zwischen dem alltäglichen Handeln und gültigen Berufsfeldstandards und dem Wissen aus den entsprechenden Fach- und Bezugswissenschaften der Notfallversorgung sichtbar. Basiert das alltägliche Handeln oftmals auf subjektiven Theorien, so sollte ein professionelles Handeln der Akteure intersubjektiv nachvollziehbar und fachwissenschaftlich begründbar sein (vgl. Prescher & Thees, 2015, S. 148). Die Widersprüche bestehen aber nicht daher, dass die Theorie der Notfallversorgung zur Praxis fundamental verschieden ist, sondern daher, dass Theorie und Praxis ein unterschiedliches Begriffsinstrumentarium verwenden. Verschiedene Workshops zu diesem Thema mit NotfallsanitäterInnen (NotSan) zeigen hier den Bedarf einer behutsamen Sensibilisierung. Arnold (1996) bringt dies in seinem Beitrag zu den Lesarten und Missverständnissen zum Theorie-Praxis-Problem auf den Punkt: •  Zum einen ist zu beobachten, dass PraktikerInnen ihre Praxis und die daraus gewonnenen Einsichten verabsolutieren. •  Zum anderen wird eine gewisse Theoriescheu sichtbar, weil die Professionals vorrangig nach Praxislösungen und Rezepten fragen. Dass Theorie auch einen Beitrag leisten kann, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen, und Möglichkeiten bietet, eine andere als die bisher erfahrene Wirklichkeit zu entdecken, bedarf der Hinführung zu einem informierten kritischen Blick und vieler Beispiele zur Verdeutlichung der Praxisrelevanz von Theorie. Eine Einladung der NotfallsanitäterInnen und RettungsdienstlerInnen für ihren Kompetenzentwicklungsprozess ist das folgende verblüffende Gedankenexperiment. Verblüffend, weil das Ergebnis in allen Gruppen erwartungskonform ist. D. h. der Widerspruch zwischen Theorie – wie es wirklich funktioniert – und der Praxis – wie vermutet wird, dass es funktioniert – kann ganz einfach und überzeugend dargestellt werden. Als Rahmen für das Gedankenexperiment dient eine Hinführung zum Workshopthema mit der Rolle und Bedeutung rettungswissenschaftlicher Theorien und Modelle für das Handeln in der Notfallversorgung. An einem Flipchart wird dazu ein Fahrrad visualisiert ( Abb. 1.1a) und die TeilnehmerInnen werden aufgefordert, auf einer Moderationskarte am Ende der Erklärung des Experimentes ihre Vermutung aufzuschreiben. »Die Pedale stehen senkrecht zum Boden. Am unteren Pedal ist ein rotes Seil befestigt – siehe Zeichnung. Neben dem Rad steht jemand und stützt es mit einer Hand am Sattel, damit es nicht zur Seite umfällt. Eine zweite Person steht hinter dem Rad und beginnt, am roten Seil zu ziehen. Was passiert mit dem Rad, wenn wir annehmen, dass die Reibung zwischen Reifen und Straße so groß ist, dass die Räder weder durchdrehen können noch rutschen? Rollt das Rad ein Stück nach vorn? Bleibt es auf der Stelle stehen? Oder rollt es rückwärts?« (Dambeck, 2012, [3]) Und hier zeigt sich das verblüffende Moment im Gedankenexperiment: Die NotfallsanitäterInnen als VertreterInnen der Praxis sagen alle fast einhellig, das Fahrrad fährt aufgrund der Übersetzung mit der Fahrradkette nach vorn ( Abb. 1.1b). Das real in den Workshop mitgebrachte Fahrrad zeigt in der Ausführung des Experimentes aber, dass das Fahrrad nach hinten rollt. Es folgt dann ein wenig Theorie über die physikalische Begründung des Phänomens – etwas Theorie, die eine andere Wirklichkeit als die der Praxis beschreibt. Für das professionelle Handeln der NotfallsanitäterInnen ergibt sich daraus in der Reflexion des Experimentes und in der Übertragung auf ihre Einsatzpraxis folgende Konsequenz: Abb. 1.1a:  Gedankenexperiment zum Theorie-Praxis-Problem in der Notfallversorgung – Darstellung Fahrrad (eigene Darstellung) Abb. 1.1b:  Gedankenexperiment zum Theorie-Praxis-Problem in der Notfallversorgung – Antworten (Foto: Thomas Prescher) 1.  Es braucht eine Auseinandersetzung mit den rettungswissenschaftlichen Gegenstandstheorien und ihren Modellen, denn in ihnen finden sich aufgrund von Forschung Anhaltspunkte dafür, wie die Einsatzwirklichkeit beschaffen ist. Durch die TeilnehmerInnen wird klar der Impuls formuliert, dass kaum ein Bewusstsein für die der eigenen Einsatzpraxis zugrunde liegenden mentalen Modelle im Kollegium vorliegt. Meist ergibt sich die Erkenntnis für den Bedarf daher, dass die zugrunde liegenden mentalen Modelle in der eigenen Praxis sichtbar gemacht werden wollen. In der Diskussion wird dann bereits deutlich, dass diese Modelle von der Zielformulierung eines definierten rettungsdienstlichen Verständnisses professioneller Notfallversorgung abweichen. 2.  Es braucht dabei gleichzeitig auch eine Kenntnis der rettungswissenschaftlichen Modelle, da sie oftmals einen Entwurf über eine bessere Einsatzwirklichkeit beinhalten. Für den Anspruch und das Ziel eines kompetenzorientierten Handelns geben sie Impulse für die Ausgestaltung von Praxis. Die Reflexion bringt hier schnell auf den Punkt, dass bei den Beteiligten starke Verunsicherungen bestehen, was eine solche Praxis überhaupt bedeutet. Was sind ihre Kernaussagen, Paradigmen und vor allem, wie lässt sie sich verwirklichen? Rettungswissenschaft, so der Eindruck, erscheint hier als eine ferne Utopie. Für eine Professionalisierung des Rettungsdienstes und eine Abgrenzung gegenüber der Abhängigkeit zur Medizin und Notfallmedizin erscheint es unabdingbar, aus der Utopie Realität werden zu lassen. Eine Rettungswissenschaft kann hier einen Beitrag leisten, um mit Hilfe von Gegenstandstheorien die Wirklichkeit im Rettungsdienst als Reflexionswissenschaft zu spiegeln und mit Hilfe wissenschaftlicher Methodologie und Methodik die Wirklichkeit zu rekonstruieren sowie im Sinne konkreter Handlungsempfehlungen eine »bessere« Praxis zu entwerfen. Sie dient damit einerseits der Praxis, die sich in der Welt der Phänomene als Wirklichkeit 1. Ordnung bewegt, und sie entwickelt die Praxis als eine Wirklichkeit 2. Ordnung weiter. Dazu gilt es eine doppelte Perspektive einzunehmen. In der horizontalen Betrachtungsebene ( Abb. 1.2) können Grundlagen und Gegenstandstheorien der Rettungswissenschaft verortet werden. Diese sind im besten Sinne das WAS. In der vertikalen Linie sind die entsprechenden Methodologien und Methoden der Rettungswissenschaft verortet. Im Verständnis eines mehrschrittigen Forschungsprozesses empirischer und erkenntnistheoretischer Rettungswissenschaft markiert diese Perspektive das WIE. Dieses rettungswissenschaftliche Kreuz wird dabei durch das WARUM gerahmt. Das Warum steht für den unmittelbaren Bezug zum Notfalleinsatz, der ein professionelles Handeln in wechselnden Lagen erfordert und dessen Gegenstand das Wohlergehen der PatientInnen ist. Die Rettungswissenschaft dient damit der Qualitätssicherung, weil sie einen Beitrag leisten kann, das Endergebnis aufgrund fundierter Erkenntnisse und eines abgesicherten Wissens zu verbessern. Zur Etablierung der Rettungswissenschaft als anstehende Aufgabe zur eigenen Disziplin im Professionalisierungsprozess der handelnden Akteure braucht es ein eigenes Grundwissen, das sich von anderen Theorien, wie z. B. der Pflegetheorien und Pflegewissenschaft, abgrenzt (vgl. Brandenburg & Dorschner, 2003; Meleis, 1999). Dieses Grundwissen muss in der Disziplin erst entwickelt werden. Dafür bieten zahlreiche methodologische und methodische Ansatzpunkte das Potential über empirische Forschung mit ganz unterschiedlichen Forschungsdesigns die dafür notwendigen Grundlagen zu schaffen. ForscherInnen innerhalb der...


Prof. Dr. habil. Thomas Prescher, Professur für Didaktik in den Gesundheitsberufen, FH Münster; INOB.
Prof. Dr. Christian Bauer, Institut Rettungswesen, Notfall- und Katastrophenmanagement, Professur für Wirtschaftsinformatik, Technische Hochschule Würzburg-Schweinfurt.
Rolf Dubb, B. Sc., M. A., Fachkrankenpfleger A+I, Intensive Care Practitioner, Fachbereichsleitung Akademie der Kreiskliniken Reutlingen GmbH.
Thomas Hofmann, M. A., Notfallsanitäter, erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften e. V.
Prof. Dr. Sebastian Koch, Professur für Medizinpädagogik, SRH Hochschule für Gesundheit Gera sowie Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Mit Beiträgen von:
Thomas Prescher, Christian Bauer, Rolf Dubb, Thomas Hofmann, Sebastian Koch, Sascha Bechmann, Peter Bradl, Bettina Braunschmidt, Philipp Dahlmann, Friedrich Gabel, Michael Garkisch, Michael Göschel, Sebastian Grau, Philipp Junkersdorf, Heiko König, Robert Konrad, Alexander Krohn, Benjamin Liedy, Tim Loose, Berthold Petri, Stefanie Popp, Melanie Reuter-Oppermann, Patrick Ristau, Tobias Schilling, Dominik Warnstorff und Christian Wiesner.


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