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E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Price Versteckter Autismus demaskiert
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96905-385-0
Verlag: Yes Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Befreiung, die eigene Neurodivergenz zu akzeptieren und autistische Symptome nicht länger zu unterdrücken
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-96905-385-0
Verlag: Yes Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Devon Price ist Sozialpsychologe, Professor, Autor und stolzer Autist. Seine Forschungsergebnisse wurden in Fachzeitschriften wie dem 'Journal of Experimental Social Psychology', 'Personality and Social Psychology Bulletin' und dem 'Journal of Positive Psychology' veröffentlicht. Seine Artikel sind in Medien wie der 'Financial Times', 'HuffPost', 'Los Angeles Times', 'Business Insider' sowie vielen anderen Medien erschienen. Er lebt in Chicago, wo er als Assistenzprofessor an der School of Continuing and Professional Studies der Loyola University Chicago tätig ist.
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Einleitung
Entfremdung
Als ich im Sommer 2009 von Cleveland nach Chicago zog, war mir nicht klar, dass ich damit auch neue Freunde finden musste. Ich war ein ernster, verschlossener Einundzwanzigjähriger und glaubte wirklich, keine anderen Menschen zu brauchen. Da ich für ein Aufbaustudium in die Stadt gezogen war, dachte ich, ich könnte meine ganze Energie in die Seminare und die Forschungsarbeit stecken und an nichts anderes denken.
Bis zu diesem Zeitpunkt war mein Einzelgängertum kein Problem für mich gewesen. Meine Studienleistungen waren hervorragend, und mein »reiches Geistesleben« ließ mir nicht viel Raum für Grübeleien über meine zahlreichen Probleme. Wegen einer Essstörung war mein Verdauungssystem ruiniert, und wegen einer Geschlechtsdysphorie störte mich das Bild, das andere von mir hatten, obwohl ich noch nicht genau verstand, warum. Ich wusste nicht, wie man auf Menschen zugeht und Gespräche beginnt, und ich hatte auch keine Lust, es zu lernen, weil ich mich nach den meisten Begegnungen verstört und missverstanden fühlte. Die wenigen Beziehungen, die ich hatte, waren eher Verstrickungen: Ich übernahm Verantwortung für fremde Probleme, arbeitete mich an den Emotionen anderer ab und konnte zu unangemessenen Forderungen nie Nein sagen. Was ich vom Leben wollte, wusste ich nicht, nur, dass ich Professor werden wollte. Ich wollte keine Familie, hatte keine Hobbys und glaubte, dass es unmöglich für mich sei, wirklich geliebt zu werden. Aber da ich gute Noten und viel Lob für meinen Intellekt bekam, blendete ich alles außer diesen Stärken aus. Ich tat so, als wäre nichts weiter von Belang.
Nachdem das Semester begonnen hatte, ging ich selten mit meinen neuen Kommiliton:innen aus. An den wenigen Abenden, an denen ich es doch tat, brauchte ich einigen Alkohol, um meine Hemmungen zu überwinden und »lustig« zu sein. Ansonsten verbrachte ich meine Wochenenden meist allein in meiner Wohnung, las Fachartikel und stromerte durch das Internet. Ich gestattete mir keine Hobbys, machte kaum Sport und kochte selten. Hin und wieder traf ich mich mit jemandem, wenn ich Sex haben wollte oder auch nur ein wenig Aufmerksamkeit, aber diese Begegnungen waren leidenschaftslos und routiniert. Ich hatte kein Gefühl für mich selbst als facettenreiches Individuum.
Im Winter dieses Jahres war ich schließlich ein einsames, kraftloses Wrack. Manchmal saß ich stundenlang unter der Dusche, ließ heißes Wasser über mich laufen und brachte es nicht fertig aufzustehen. Mir fiel es immer schwerer, mit anderen zu sprechen. Ich hatte keine Forschungsideen mehr und verlor jedes Interesse an meinem Studium. Eine meiner Promotionsbetreuerinnen stauchte mich zusammen, weil ich in einer Besprechung mit ihr die Augen verdreht hatte. Abends überfielen mich dann Überforderung und Verzweiflung, ich lief wimmernd im Zimmer auf und ab und schlug die Handballen gegen die Schläfen. Meine Einsamkeit war zu einem Gefängnis geworden, aber mir fehlten die sozialen Fähigkeiten oder die emotionale Selbstsicherheit, um mich daraus zu befreien.
Mir war nicht klar, wie ich in diese elende Lage geraten war. Woher hätte ich wissen sollen, dass ich Freundschaft, dass ich ein soziales Leben brauchte? Wie sollte ich Leute kennenlernen, wenn jeder Versuch so unbefriedigend war? Was machte mir überhaupt Freude, was bedeutete mir etwas? In Gesellschaft anderer fühlte ich mich immer genötigt, jeden eigenen Impuls zu zensieren und »normale« Interessen und Gefühle vorzutäuschen. Außerdem empfand ich andere Menschen als extrem anstrengend. Sie waren alle so laut und unberechenbar und durchbohrten mich mit ihren Blicken wie mit scharfen Laserstrahlen. Dabei wollte ich einfach nur im Dunkeln sitzen und nicht gestört oder beurteilt werden.
Letztlich war ich überzeugt, dass mit mir irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Offenbar war ich auf eine Weise kaputt, die ich selbst nicht begreifen, alle anderen aber auf den ersten Blick erkennen konnten. In diesem Elendszustand befand ich mich noch einige Jahre, ich arbeitete bis zum Burnout, erlitt Nervenzusammenbrüche, bezog menschliche Nähe und Selbstwertgefühl aus Liebesbeziehungen und googelte mitten in der Nacht Dinge wie »Wie schließt man Freundschaften?«. Und während all dieser Zeit kam ich nie auf die Idee, mir Hilfe zu suchen oder mit irgendjemandem über meine wahren Gefühle zu sprechen. Ich lebte nach sehr strikten Regeln, und die wichtigste war, unabhängig und damit unverwundbar zu bleiben.
All das änderte sich erst im Jahr 2014, als ich im Freizeitpark Cedar Point in Sandusky, Ohio, Urlaub machte. Meine Familie, die Routine schätzte, fuhr jedes Jahr dorthin. Während ich mit meinem Cousin, der gerade mit dem College begonnen hatte und den Übergang sehr schwierig fand, im Whirlpool saß, gestand er mir, dass er kürzlich auf Autismus untersucht worden sei. Da ich gerade meinen Doktor in Sozialpsychologie gemacht hatte, wollte er wissen, ob ich etwas über die Autismus-Spektrum-Störung wüsste.
»Tut mir leid, damit kenne ich mich nicht aus«, antwortete ich. »Ich befasse mich nicht mit psychischen Erkrankungen, ich forsche zum Sozialverhalten von ›normalen‹ Menschen.«
Dann erzählte mir mein Cousin von den Problemen, mit denen er zu kämpfen hatte: wie schwer ihm die Kontaktaufnahme mit Kommiliton:innen fiel, wie orientierungslos und überreizt er sich oft fühlte. Als Erklärung dafür hatte ein Therapeut Autismus ins Spiel gebracht. Mein Cousin wies mich zudem auf einige autistische Merkmale hin, die ihm in unserer Familie aufgefallen waren. Wir mochten alle keine Veränderungen. Niemand von uns konnte über Gefühle sprechen und die meisten interagierten in oberflächlichen Mustern. Einige von uns hatten Aversionen gegen Speisen mit einer bestimmten Konsistenz oder einem starken Geschmack. Wir redeten endlos über Themen, die uns interessierten, auch wenn es andere zu Tode langweilte. Veränderungen überforderten uns schnell, und wir suchten selten in der Außenwelt nach neuen Erfahrungen oder Freundschaften.
Als mein Cousin all das aufzählte, war ich erst einmal entsetzt und wollte es nicht wahrhaben, denn in meiner Vorstellung war Autismus eine mit Scham und Schande verbundene Krankheit. Dabei fielen mir Leute ein wie Chris, der ungelenke, »peinliche« autistische Junge an meiner Schule, zu dem niemand nett gewesen war. Oder ich dachte an verschlossene, eigenwillige Serienhelden wie Benedict Cumberbatchs Sherlock und Sheldon aus The Big Bang Theory. Ich dachte an Kinder, die nicht sprachen, im Supermarkt klobige Kopfhörer trugen und einem so unbeteiligt und gar nicht menschlich vorkamen. Trotz meiner psychologischen Ausbildung hatte ich in puncto Autismus nur pauschale, entwürdigende Klischees im Kopf. Autistisch zu sein, hieß daher für mich, irgendwie komplett defekt zu sein.
Defekt fühlte ich mich allerdings schon seit Jahren.
Sobald ich nach dem Urlaub wieder zu Hause war, warf ich mein Gepäck hin, setzte mich mit dem Laptop auf den Knien auf den Boden und informierte mich wie besessen über Autismus. Ich verschlang Fachartikel, Blogbeiträge, YouTube-Videos und diagnostische Bewertungsmaterialien. Vor meinem damaligen Partner hielt ich diese obsessive Lektüre größtenteils geheim, so wie ich alle meine fixen Ideen vor den Menschen in meinem Leben geheim hielt. Bald sollte ich erfahren, dass genau dies eine bei Autist:innen weit verbreitete Eigenschaft ist; wir beißen uns gerne an Themen fest, die uns faszinieren, und können uns mit einer Inbrunst darin vertiefen, die andere befremdlich finden. Wir werden wegen unserer Leidenschaften verspottet und verbergen infolgedessen unsere Spezialinteressen. Bald schon dachte ich über das Thema Autismus in Unterscheidungen wie wir und die anderen nach. Ich erkannte mich in der Community klar wieder, was mich gleichermaßen erschreckte und begeisterte.
Je mehr ich über Autismus las, desto mehr Dinge ergaben auf einmal einen Sinn. Laute Geräusche und grelles Licht hatten mich schon immer überfordert. In Menschenmengen wurde ich seltsam wütend. Gelächter und Geschwätz konnten mich in Rage versetzen. Wenn ich zu gestresst oder traurig war, fiel es mir schwer zu reden. Ich hatte all das jahrelang gut verborgen, weil ich nicht als humorloser, unsympathischer Idiot erscheinen wollte. Doch jetzt begann ich mich zu fragen, warum ich eigentlich so schlecht über mich selbst dachte.
Autismus war also meine neueste Obsession, ich konnte nicht mehr aufhören, darüber zu lesen und nachzudenken. In der Vergangenheit hatte ich schon viele andere solche Spezialinteressen gehabt. Ich weiß noch, dass ich als Kind leidenschaftlich gerne Fledermäuse beobachtet und Horrorgeschichten gelesen hatte. Kinder und Erwachsene hatten mein Interesse daran als »befremdlich« und »übertrieben« bemängelt. Ich war in vielerlei Hinsicht »zu sehr«. Für die anderen waren meine Tränen unreife Tobsuchtsanfälle und meine Meinungsäußerungen herablassende Tiraden. Mit dem Erwachsenwerden lernte ich, weniger heftig, weniger peinlich zu sein – weniger ich selbst. Dafür studierte ich die Verhaltensweisen anderer. Gespräche zergliederte ich im Nachhinein ausgiebig in meinem Kopf, und ich las viel über Psychologie, um Menschen besser zu verstehen. So kam ich zu meinem Doktortitel in Sozialpsychologie. Die sozialen Normen und Denkmuster, die für alle anderen offenbar selbstverständlich waren, musste ich sorgfältig studieren.
Nachdem ich mich etwa ein Jahr lang privat mit Autismus befasst hatte, stieß ich auf die pro-autistische Community. Da...