Buch, Deutsch, 273 Seiten, KART, Format (B × H): 140 mm x 213 mm
Der Dschihadismus als rechtsradikale Jugendbewegung
Buch, Deutsch, 273 Seiten, KART, Format (B × H): 140 mm x 213 mm
ISBN: 978-3-593-50719-4
Verlag: Campus
Wer sind die jungen Menschen, die aus Europa in den Heiligen Krieg ziehen? Die Soziologin Karin Priester hat die Lebensläufe von über 500 muslimisch sozialisierten oder konvertierten Dschihadisten aus fünf westeuropäischen Ländern untersucht. Sie hat nach ihren Werdegängen und Berufen, ihren Motiven und den familiären Hintergründen gefragt. Neben Abenteuerlust und religiösen Gründen spielen - so Priester - für den Bruch in den Biografien auch bisher wenig beachtete Motive, zum Beispiel materielle Interessen, eine Rolle. Die Autorin hat in ihrer Untersuchung immer auch die Ideologie des Dschihadismus im Blick und kann einen präfaschistischen Prozess ausmachen. So gelingt ihr eine umfassende Studie, die über den Stellenwert und die Gefahren des Dschihadismus in Europa aufklärt und ihn historisch einordnet.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Theokratische und religiöse Ideologien
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Faschismus, Rechtsextremismus
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Sozialisation, Soziale Interaktion, Sozialer Wandel
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Terrorismus, Religiöser Fundamentalismus
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religionssoziologie und -psychologie, Spiritualität, Mystik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Religionssoziologie
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung7
1.Problemaufriss15
2.Ergebnisse der Untersuchung31
3.Erklärungsansätze und Motive für die Hinwendung
zum Dschihadismus45
4.Lebensläufe im unteren und mittleren Segment65
5.Das Segment der Studierenden und die geografische Herkunft europäischer Dschihadisten91
6.Die Gruppe der Konvertiten113
7.Gurus, Mentoren und Heiler129
8.Psychische Erkrankungen bei Dschihadisten149
9.Frauen im Dschihad175
10.Ideologie und Strategie des Dschihadismus203
11.Leben und Sterben im Islamischen Staat227
12.Islamofaschismus oder präfaschistischer Prozess?247
Einleitung
Dieses Buch handelt von der Pluralität der Erscheinungsformen des Rechtsextremismus im 21. Jahrhundert. Wenn in Deutschland von Rechtsextremismus die Rede ist, denkt man an die NPD, an Neonazi-Kameradschaften oder an die Identitären. Wenn man von Faschismus spricht, denkt man an das italienische Regime der Zwischenkriegszeit oder, je nach politischer Couleur, an das NS-Regime, aber kaum an einen muslimischen Rechtsextremismus. Die Bezeichnungen "religiöser Fundamentalismus" oder "Radikalisierung des Islam" weichen der Frage nach der politischen Stoßrichtung aus. Was wir als Radikalisierung des Islam wahrnehmen, muss, in den Worten des französischen Politikwissenschaftlers Olivier Roy, eher umgekehrt als "Islamisierung der Radikalität" bezeichnet werden. Der Islam dient nur als ideologisches framing, als Kampfdoktrin und Philosophie der Tat.
Gewöhnlich wird Rechtextremismus nur bei autochthonen oder "weißen" Europäern verortet und, zu Recht, mit Rassismus konnotiert. Dass es auch einen anderen, dezidiert antirassistischen Rechtsextremismus geben könne, ist ein Gedanke, an den man sich erst gewöhnen muss. Das Ausschlusskriterium "Rasse" oder ethnische Zugehörigkeit steht in der langen westlichen Tradition des Kolonialismus und Imperialismus. Wer sich dagegen erhebt, muss nach einem anderen Ausschlusskriterium suchen und findet es heute in der "wahren Religion". Der politische und ideologische Horizont dieser neuen Radikalität ist deswegen aber nicht weniger rechtsextrem. Es kommt nicht auf die historisch kontingenten Rahmungen an, sondern auf den Kern: die Behauptung einer fundamentalen menschlichen Ungleichheit und das daraus abgeleitete Recht auf Mord und Versklavung.
In diesem Buch geht es nicht nur um die politische Stoßrichtung des Dschihadismus, sondern auch um die jungen Leute, die aus Europa in den Heiligen Krieg ziehen. Es gibt kaum verlässliches Material dazu. Wer keinen Zugang zu nachrichtendienstlichen Quellen hat, ist auf Open-Source-Daten, also frei verfügbare Medienberichte oder Tweets von Dschihadisten in den sozialen Medien angewiesen. Im Frühjahr 2016 wurde bekannt, dass ein unter dem Pseudonym Abu Hamed auftretender ehemaliger Dschihadist angeblich aus Enttäuschung einen Datensatz von 22.000 Rekrutierungsformularen des sogenannten Islamischen Staates (IS) "geleakt" hat, der auf Umwegen an den britischen Fernsehsender Sky News und die Süddeutsche Zeitung gelangt ist. Mehrere Fragen stehen im Raum: Wie glaubwürdig sind diese Formulare und wie viele davon beziehen sich überhaupt auf europäische Dschihadisten? Und was sagen sie über die Biografien dieser registrierten foreign fighters? Während das Bundeskriminalamt und der Bundesinnenminister die Daten für authentisch halten, werden von anderer Seite Zweifel erhoben. Die syrische oppositionelle Mediengruppe Zaman al Wasl macht geltend, viele Formulare seien Duplikate und bezögen sich nur auf Zugänge aus dem Jahr 2014. Von der imposanten Zahl von 22.000 bleiben nach Meinung von Experten nur einige Tausend übrig. Zieht man davon die 72 Prozent der Bewerber aus arabischen Ländern und weitere aus anderen, außereuropäischen Ländern ab, dürfte die Zahl der Rekrutierungsbögen europäischer Kämpfer eher überschaubar sein.
Der französische Islamwissenschaftler Mathieu Guidère hat anhand der auf den Formularen verwendeten Logos auf Inkonsistenzen hingewiesen. Möglicherweise, so Guidère, handele es sich bei dem Datensatz um eine Montage aus unterschiedlichen Quellen. Da überdies nur kampfwillige Männer registriert wurden, kommen Frauen in diesen Dokumenten nicht vor. Sie spielen aber im Dschihad eine wichtige Rolle, nehmen unterschiedliche Funktionen wahr und sind keineswegs nur auf die Rolle der Hausfrau und Mutter beschränkt.
Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil stelle ich meine Untersuchung junger, europäisch sozialisierter Dschihadisten vor. Ich habe 550 Dschihadisten aus fünf westeuropäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und als Ländergruppe Belgien und die Niederlande) untersucht, die mit ihrem Klarnamen, oft auch ihrem Kampf- oder Aliasnamen bekannt sind. Dabei wurden nur Fälle berücksichtigt, bei denen auch das Alter, die soziale Herkunft und die Bildungsgänge oder Tätigkeiten bekannt sind. Naturgemäß waren darunter erfolgreiche oder verhinderte Attentäter und Attentäterinnen, auch wenn der Schwerpunkt der Untersuchung nicht auf dem Terrorismus liegt. Meine Leitfrage lautet vielmehr: Welche Motive stehen hinter dem Entschluss, sich als Gotteskrieger dem Islamischen Staat oder Al Qaida anzuschließen? Wie nicht anders zu erwarten, sind sie vielfältig. Allerdings erwiesen sich manche Ergebnisse als Überraschung. Beispielsweise hatte ich nicht erwartet, dass viele aus rein materiellen Gründen nach Syrien ziehen und sich dort ein besseres Leben als in ihren europäischen Herkunftsländern erhoffen.
In den Kapiteln 6 bis 9 gehe ich erstens auf die Gruppe der Konvertiten ein. Abgesehen von Deutschland, das keine führende Kolonialmacht war und seine Kolonien schon 1918 abtreten musste, handelt es sich häufig um junge, christlich sozialisierte Schwarze aus Überseegebieten. Im Islam sehen sie eine antiwestliche, antirassistische Befreiungsdoktrin und sie berufen sich auf die US-amerikanischen Black Muslims, die schon in den 1970er Jahren den Islam als Instrument ihres empowerment umgedeutet und eingesetzt haben. Zweitens werfe ich ein Licht auf die Praktiken und die Netzwerke der Gurus, Mentoren und Anwerber für den Dschihad. Drittens gehe ich auf psychische Erkrankungen bei Dschihadisten ein. Im Einklang mit Forschungen aus den Niederlanden lässt sich zeigen, dass der Anteil psychisch Kranker deutlich höher als in der Durchschnittsbevölkerung ist, auch wenn eine vorschnelle Etikettierung des Gesamtphänomens des Dschihadismus als pathologisch an der Realität vorbeigeht. Soziale Phänomene lassen sich nicht in den Kategorien "krank" oder "gesund" fassen. Die meisten Kämpfer sind arbeits- und schuldfähig. Das wirft die schon beim Nationalsozialismus erörterte Frage auf, warum sich unter bestimmten Bedingungen ganz normale Männer ohne jeden Zweifel an der moralischen Legitimität ihres Tuns an Gräueltaten beteiligen. In Kapitel 9 gehe ich auf Frauen im Dschihad ein und zeige, dass sie ebenso fanatisch und gewaltbereit sind wie Männer. Wiederum in Analogie zum Faschismus verstehen viele ihre Teilnahme am Dschihad als Akt weiblicher Emanzipation. Sie entfliehen der traditionellen Bevormundung durch Väter und Brüder, um an der Verwirklichung einer gemeinsamen Utopie teilzuhaben.
In den letzten drei Kapiteln versuche ich, das Phänomen des Dschihadismus politisch einzuordnen. Dabei vertrete ich die These, dass es sich beim IS um einen Islamofaschismus in statu nascendi handelt. Im Unterschied zu Al Qaida hat sich die vormalige Terrorgruppe Isis 2014 als Staat mit eigenem Territorium deklariert und arbeitet am Staatsaufbau. Ich halte es aber für verfrüht, dieses Gebilde islamofaschistisch zu nennen, sondern spreche von einem präfaschistischen Prozess, in den viele Elemente eines apokalyptischen Krisenbewusstseins eingehen. Aber der ersehnte Führer, der Mahdi, ist noch nicht erschienen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich nicht abschätzen, ob der Islamische Staat - vorausgesetzt, dass er überhaupt eine Zukunft hat - die Form eines Religionsstaates annehmen wird. Wahrscheinlicher ist ein Klerikalfaschismus: Das Regime nimmt weder die Form einer Theokratie an noch bildet es eine eigene Staatsreligion aus, sondern stützt sich auf eine bereits bestehende Religion, die als tragende Säule und Multiplikator einer ultrakonservativen Ideologie auftritt. Die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen dem europäischen Faschismus der Zwischenkriegszeit und dem islamistischen Rechtsextremismus, nicht zuletzt der vehemente Antisemitismus, die Suche nach Sündenböcken und der Glaube an Verschwörungstheorien, sind evident. Überdies haben etliche Konvertiten vor ihrer Konversion dem europäischen Rechtsextremismus nahegestanden.
Am Beginn des europäischen Faschismus stand das Syndrom der "Demütigung". Heute steht es im Zentrum des islamistischen Diskurses. Dschihadisten sind davon überzeugt, dass Muslime weltweit gedemütigt werden. Dahinter verberge sich ein konspirativ ausgeheckter Masterplan von Juden und Freimaurern. Nach jahrhundertelanger Stagnation ist die muslimische Welt in einer Identitätskrise und muss den Weg in die Moderne finden. Zugleich durchläuft der Westen eine Glaubwürdigkeitskrise. Demokratie, Wachstumssteigerung, Konsumismus und Individualismus haben für viele ihre Überzeugungskraft eingebüßt. Junge Muslime in europäischen Ländern wenden sich von der Tradition ihrer Eltern ab und befinden sich in einem Zustand doppelter Entfremdung. Weder fühlen sich den Herkunftsländern ihrer Eltern zugehörig noch sind sie in die Aufnahmeländer integriert. Der Dschihadismus ist auch ein Ventil für die Identitätsdiffusion der "Generation Isis". Gegen den Kosmopolitismus der Globalisierungsbefürworter setzt sie einen Kosmopolitismus der Integrationsverweigerer. Ihre Identität definiert sie nicht national, sondern international als Gemeinschaft aller Muslime, unabhängig von Rasse, Klasse oder Sprache. Nach dem Niedergang des Kommunismus als Ideologie und des Sowjetimperiums als Epizentrum einer globalen Alternative zum Westen richtet sie ihre Hoffnung auf eine neue, weltweite Verbrüderungsethik unter islamischem Vorzeichen, die auch viele Konvertiten anspricht.
Ist der Dschihadismus aber nicht eher eine romantische Jugendbewegung? Zweifellos ist er das. Indessen: Auch der italienische Faschismus begann als Bewegung der Jugend. Junge ehemalige Frontkämpfer organisierten sich in Kampfbünden. Humanistisch gebildete Studenten aus bürgerlichen Familien, die einen Elitenwechsel erhofften, standen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Seite an Seite mit Arbeitern oder Bauernsöhnen, denen man eine Bodenreform oder Siedlungsland in den afrikanischen Kolonien versprach. Wenn junge Menschen in relevantem Umfang keine Perspektive sehen, schließen sie sich dem an, der ihnen eine Zukunft zeigt. Diese Zukunft liegt oft nur im Tod. Aber auch hier ist der Faschismus mit seinem Helden- und Märtyrerkult vorausgegangen.
Am Ende stellt sich die Frage, was die Fanatisierung und der Exodus junger Muslime, darunter etwa ein Viertel Konvertiten, für Europa bedeuten. Man darf nicht in Hysterie verfallen, sondern muss die Relationen beachten. Europäische Dschihadisten sind eine Minderheit unter allen in Syrien und im Irak kämpfenden foreign fighters aus rund 80 Nationen. Eine besondere Rolle spielt dabei der islamistische Terrorismus als Strategie der Destabilisierung. David C. Rapoport hat Terrorismus als zyklisches Phänomen analysiert und unterscheidet vier Wellen, beginnend mit der anarchistischen Welle in Russland Ende des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen, von Al Qaida ausgehenden, vierten Welle. "Wenn sich die Geschichte wiederholt, wird die vierte Welle in zwei Jahrzehnten vorbei sein", schrieb er 2004. Demnach müssen wir mit weiteren zehn Jahren islamistischer Attentate oder Attentatsversuche rechnen - ein Grund zur Sorge, aber nicht zur Panik. Bisher hat sich noch jede Welle erschöpft. Es gibt gute Gründe, nicht nur gebannt auf Syrienrückkehrer zu starren, von denen die Gefahr terroristischer Anschläge ausgehe. Die Analyse islamistischer Attentäter der letzten zehn Jahre zeigt, dass sie in den wenigsten Fällen überhaupt in Syrien oder einem anderen muslimischen Land waren, sondern häufig erst nach der Verhinderung ihrer Ausreise zugeschlagen haben, entweder allein oder mit Hilfe von Hintermännern in Syrien.
Mit der Deindustrialisierung und Prekarisierung in westlichen Ländern kehrt der überwunden geglaubte Klassenkampf unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zurück. Er wird rechts sein und, wie schon der italienische Faschismus, das Adjektiv "proletarisch" nicht mehr als sozioökonomische, sondern als psychologische Kategorie auf die "Gedemütigten", von der "Plutokratie" Ausgebeuteten übertragen. Erneut geht es um die "Verdammten dieser Erde", um materielle und kulturelle Anerkennung, auch wenn sich dieser Kampf nicht mehr vor Fabriktoren abspielt, sondern ethnisch überformt ist. Mit der Entkolonialisierung ist der Rassismus nicht automatisch aus dem europäischen Bewusstsein verschwunden oder an den rechtsextremen Rand abgedrängt worden. Die Integrationsverweigerung junger Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund resultiert zwar aus kultureller Entfremdung und sozialer Frustration, geht aber weit darüber hinaus. Dschihadismus und radikaler Salafismus sind keine Sekten, auch wenn manche Netzwerke sektiererische Züge annehmen, sondern soziale und politische Bewegungen mit einer utopischen Heilserwartung. Entfaltet ein Heilsversprechen aber eine psychologische Sogwirkung, dann erfasst es auch Menschen, denen im Leben alles offensteht, die nicht zu den Unterprivilegierten gehören, aber im Islam die einzige noch verbleibende Alternative zum Westen sehen. Auch wenn propagandistisch alle Muslime weltweit angesprochen werden, geht es doch primär um die Wiedergeburt arabischer Länder zu weltpolitischer Bedeutung und kultureller Blüte unter Vorherrschaft der Sunniten, die eine hegemoniale Rolle im Nahen Osten anstreben.
Nach dem Niedergang des Kommunismus und der Befreiungsbewegungen in Ländern der sogenannten Dritten Welt ist der Dschihadismus heute die einzige Bewegung, die diesen Mythos von Verweigerung, Ausstieg, Aufbruch und Neubeginn nährt, auch wenn der Kollektivismus des 20. Jahrhunderts zugunsten eines seltsamen Zwitters aus Individualismus und Familismus in den Hintergrund tritt. Dschihadisten verstehen sich nicht als Genossen oder Kameraden, sondern als Brüder und Schwestern. Die Suche nach geschwisterlicher Gemeinschaft schließt das narzisstische Streben nach individueller Bedeutung aber keineswegs aus. Der westliche Starkult verfängt auch bei denen, die den Westen zutiefst verabscheuen. Diese Suche, mitunter geradezu die Sucht nach Bedeutung setzt sich fort in der Vorstellung vom Jenseits. Der Märtyrerstatus ist das Höchste, was ein Kämpfer erreichen kann, aber nicht, weil er sich altruistisch für ein Ideal aufopfert, sondern weil ihm im Paradies ein höherer Status winkt. Auch im Jenseits wird nach Rang und Verdienst unterschieden. So gesehen ist der Dschihadismus ein post-kollektivistisches Phänomen, das paradoxerweise nicht der Rückkehr zu vormodernen Traditionen, sondern dem modernen Individualismus Vorschub leistet.
Dennoch bleibt das Bild des europäischen Dschihadismus als Jugendbewegung unvollständig, optieren doch längst nicht alle gegen den Willen ihrer Eltern für den Dschihad. Ganze Großfamilien mit Großmüttern, Kleinkindern und Säuglingen ziehen heute ins gelobte Land Syrien. Solche Familienclans, in denen der Dschihad seit mehreren Generationen fest verankert ist, werden noch zu wenig beachtet. Die älteren Familienmitglieder waren Talibankämpfer oder Al-Qaida-Aktivisten; die jüngeren wachsen mit diesem Gedankengut auf und ziehen heute nach Syrien und morgen zum nächsten sich abzeichnenden Hotspot des Dschihad.
Wenn meine These richtig ist, dass der IS auf eine islamisch gerahmte Form von Faschismus hinausläuft, kann man davon ausgehen, dass es sich um ein Übergangsphänomen handelt. Auch die europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit waren Übergangsregime auf dem Weg in die Moderne. Der ihnen inhärente Zwang zur Expansion führt zu einer Überdehnung der Kräfte und dürfte dem Dschihadismus, der auf den "Endsieg" setzt, über kurz oder lang zumindest in Syrien den Nährboden entziehen, was nicht bedeutet, dass er seinen Schwerpunkt nicht in andere Regionen zwischen Mali und Libyen verlagert. Der Kampf gegen die failed states ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie sind das Einfallstor für Warlords, Kampfbünde und Terrorgruppen.
Abschließend noch ein Wort zur Terminologie: In Kapitel 10 werde ich auf die begriffliche Unterscheidung von Salafismus, Dschihadismus, Islamismus und - als Fremdzuschreibung - islamischem Fundamentalismus genauer eingehen. Aus stilistischen Gründen spreche ich von Franko-Marokkanern oder Deutschtürken. Im juristischen Sinne verweisen diese Bezeichnungen auf eine doppelte Staatsbürgerschaft, die hier nicht gemeint ist. Für meine Untersuchung war es unerheblich, ob jemand einen oder zwei Pässe besitzt.
Das Manuskript wurde im Spätsommer 2016 abgeschlossen. Spätere Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden, mit einer Ausnahme: Anfang September wurden in Frankreich die weit gediehenen Attentatspläne einer Frauengruppe aufgedeckt. Offenbar ist die Strategie des Terrors in einer Krise, weil ihr im wörtlichen Sinne die manpower ausgeht und sie, gegen ihre Ideologie, auch auf Frauenpower setzen muss. Im Juli 2016 wurde bekannt, dass die Al-Nusra-Front sich in Dschabbat Fatah al-Scham (Eroberungsfront der Levante) umbenannt und offiziell von Al Qaida losgesagt hat. Ob das Auswirkungen auf den bisher ungebrochenen Zustrom europäischer foreign fighters nach Syrien haben wird, muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
1.Problemaufriss
Mit der Proklamation des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Sommer 2014 ist der Dschihadismus von der Phase international operierender Terrorgruppen zur Phase des Staatsaufbaus übergegangen. Handelt es sich bei diesem ehrgeizigen Vorhaben in Syrien und im Irak um ein bedrohliches Phänomen oder befindet es sich nach zwei Jahren bereits im Niedergang? In einem Interview erklärte der Nahost-Experte Stephan Rosiny im März 2015, es mangele dem IS an Einkünften, Kämpfern und Territorium. Er werde es militärisch nicht mehr lange aushalten.
Wie stark ist der IS?
Bei einem so jungen Phänomen wie dem Islamischen Staat ist es gewagt, sich auf Zahlen zu verlassen. Die Entwicklungen sind in permanentem Fluss und die Zahlen variieren zum Teil erheblich, weil nicht immer zwischen den aktuell in Syrien und im Irak Kämpfenden und den wieder Ausgereisten saldiert wird. Insgesamt kämpfen an der Seite des IS nach CIA-Schätzungen rund 31.000 Ausländer, die foreign fighters. Ein UN-Bericht vom Mai 2015 kam dagegen auf ein Kontingent von nur 25.000 ausländischen Kämpfern im syrisch-irakischen Gebiet. Davon stammten nach Angaben von Euronews vom Januar 2015 3.950 aus europäischen Ländern, mit steigender Tendenz. Allein zwischen Dezember 2013 und Dezember 2014 ist es zu einem Anstieg von mehr als 100 Prozent gekommen. An vorderster Stelle liegt Frankreich mit geschätzten 1.200 IS-Kämpfern und einem Anstieg um das Dreifache gegenüber Dezember 2013. Prozentual zum Anteil der Bevölkerung liegt zwar Belgien an erster Stelle, aber auch in Deutschland steigt die Zahl der in das nahöstliche Krisengebiet ziehenden Dschihadisten.
Die EU-Kommissarin Vera Jourová geht von noch höheren Zahlen aus, von 1.500 Franzosen und einer Gesamtzahl von 5.000 bis 6.000 europäischen Kämpfern. Wie viele davon an der Seite des IS, der Al-Nusra-Front oder in unabhängigen Brigaden mit wechselnder Loyalität kämpfen, ist kaum herauszufinden. Mehrheitlich zieht es europäische Dschihadisten aber zum IS, vor allem aus zwei Gründen: Der IS ist nicht nur die militanteste Gruppierung, sondern baut auch ein neues, salafistisches Eden auf. Es soll nicht die Form eines Nationalstaats annehmen, sondern die eines transnationalen, weltweiten Kalifats. Überdies geht der IS weniger selektiv als Al Qaida vor. Er nimmt fast jeden, zumal er mit einer territorialen Basis einen größeren Bedarf nicht nur an Kämpfern, sondern auch an Hilfskräften hat.
Die Zeitung Le Monde stellte auf der Grundlage der Bilanz des französischen Innenministeriums vom August 2015 folgende Berechnung an: Im Juli 2015 befanden sich 494 Franzosen in Syrien. Hinzu kommen 290 Rückkehrer und 126 Tote, insgesamt also 910 seit Beginn des Konflikts, darunter 158 Frauen. Bisher ist jeder siebte französische Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg umgekommen. Am stärksten betroffen sind Minderjährige und Konvertiten. Letztere stellen die Hälfte aller französischen Selbstmordattentäter, deren Zahl 2015 drastisch gestiegen ist. Die Diskrepanz zwischen den Zahlenangaben ist also erheblich, was zum Teil auf unterschiedlichen Berechnungsmodi beruht, zum Teil auf einer hohen Dunkelziffer von Ein- und Ausreisenden. Das gilt auch für die Gesamtzahl der foreign fighters, unter denen Europäer nur eine Minderheit darstellen. Der Leiter einer syrischen Organisation zur Beobachtung von Menschenrechten geht von 50.000 IS-Kämpfern aus, russische Geheimdienste dagegen von 80.000. Der in Bagdad stationierte Sicherheitsexperte Hisham al-Hashimi beziffert die Gesamtzahl von IS-Kämpfern auf nahezu 100.000. Ein Sprecher im Stab des kurdischen Präsidenten Massoud Barzani erhöhte sie gleich auf 200.000. Gegenüber einem Journalisten von der Londoner Zeitung The Independent erklärte er, die CIA-Schätzungen lägen viel zu niedrig. Diese enormen Unterschiede kommen auch dadurch zustande, dass manche nur militärische Kämpfer zählen, andere auch logistisches Personal, Sicherheitskräfte, Grenzwächter, lokale Milizen oder paramilitärische Hilfskräfte. Daveed Gartenstein-Ross, Mitarbeiter eines Think Tanks zu Sicherheitsstudien, kommt zu dem Ergebnis, die militärische Stärke des IS liege eher bei 100.000 als bei 30.000 Mann.
Gemessen am Gesamtvolumen aller foreign fighters sind etwa 4.000 oder, nach der EU-Kommissarin Jourová, 5.000 bis 6.000 europäische Kämpfer nicht viel, wenn man bedenkt, dass allein Tunesien schon mit geschätzten 3.000 Dschihadisten in Syrien und im Irak vertreten ist. Die größten Kontingente kommen nicht aus Europa, sondern aus dem Maghreb und anderen arabischen Ländern. Hinzu kommen die kampferfahrenen Tschetschenen und Kämpfer aus den asiatischen Teilen der ehemaligen Sowjetunion sowie weitere Asiaten wie Philippiner oder chinesische Uiguren - Menschen aus insgesamt rund 80 Ländern, die in Syrien und im Irak unter Waffen stehen.
Europäische Dschihadisten als Kanonenfutter
Im Unterschied zu tschetschenischen oder arabischen IS-Legionären haben europäische Dschihadisten in der Regel weder eine militärische Ausbildung noch Kampferfahrung, sieht man von einer noch überschaubaren Zahl desertierter oder ausgeschiedener Berufs- bzw. Zeitsoldaten ab. In der ersten Phase des Bürgerkriegs wurden sie daher als Gefängnisaufseher, Geiselwärter, Krankenfahrer oder Tellerwäscher in den Gruppenunterkünften beschäftigt. Das scheint sich inzwischen geändert zu haben. Zunehmend nehmen sie auch am Kampf teil oder werden als Selbstmordattentäter eingesetzt. Der wachsenden Zahl europäischer Dschihadisten - Kämpfer aus außereuropäischen Ländern werden hier nicht berücksichtigt - steht aber der außerordentlich hohe Blutzoll gegenüber, den der IS allein im Kampf um die syrisch-türkische Grenzstadt Kobane gezahlt hat. Auch hier variieren die Zahlen; konservative Schätzungen gehen von 1.200 Toten auf Seiten des IS aus, andere von 2.000 bis 3.000. Das sind fast 10 Prozent der gesamten ausländischen IS-Streitmacht, wenn man die Schätzung des CIA von 31.000 zugrunde legt. Der IS setzt daher seine Medienpropaganda mit geballter Kraft ein, um immer mehr und immer jüngere Dschihadisten auch aus Europa für den Kampf im syrisch-irakischen Kriegsgebiet zu rekrutieren. Der Islamische Staat braucht Kanonenfutter. Aber nur, wenn er siegreich ist und expandiert, wird der Zustrom westlicher Dschihadisten weiter anhalten.
Aufruf zum Kampf
Am 4. Juli 2014 hat der selbst ernannte Kalif des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, in der Al-Nuri-Moschee in Mossul eine Rede gehalten, in der er Fachleute - Ärzte, Ingenieure, Verwaltungsfachleute, Militärexperten - einlud, sich dem Islamischen Staat anzuschließen und für ihn tätig zu werden. Deutsche Medien berichteten kurz darauf im August 2014, dass auch gezielt deutsche Fachleute angeworben würden. Solche Aufrufe zur Mithilfe beim Aufbau eines Islamischen Staates fallen auch bei westlich sozialisierten jungen Muslimen auf fruchtbaren Boden. Anfang 2015 machten sich neun junge Briten sudanesischer Herkunft von Khartum auf den Weg nach Syrien, um humanitäre Hilfe zu leisten. Sie hatten im Sudan Medizin studiert; einige, darunter auch junge Frauen, standen kurz vor dem Abschluss. Auch in Afrika finden Ärzte vielfältige Betätigungsfelder und werden dringend gebraucht. Sie aber wollten nach Syrien. Das Land ist derzeit the place to be, zumal es propagandistisch mit dem Charisma prophetischer Verheißungen über "Endschlacht" und "Endsieg" aufgeladen wird.
Nicht nur al-Baghdadis Einladung an westliche Fachleute, sondern auch der Aufruf eines belgischen IS-Kämpfers von Ende 2014 zeigt, dass es dem IS an Fachleuten fehlt und das Reservoir an Kämpfern nach hohen Verlusten wieder aufgefüllt werden muss. Hicham Chaïb, Kampfname Abu Haniefa, vormals führend bei Sharia4Belgium, gab zu, dass es dem IS an manpower fehle. Dabei gebe es doch so viele Gründe, sich dem Kampf anzuschließen. Zu den wichtigsten - man beachte die Reihenfolge - zählt er:
um zu verhindern, dass die Ungläubigen dominieren,
weil es an Personal fehle,
aus Angst vor dem Höllenfeuer,
um Märtyrer zu werden und dadurch im Paradies eine hohe Position zu erlangen.
In Kobane hat der IS eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. Nach dieser Niederlage vermuteten manche, nun werde die Faszination des IS auf viele westliche Muslime und Konvertiten nachlassen. Das Gegenteil ist eingetreten. Der Sog ist nach wie vor ungebrochen. Zur Niederlage des IS in Kobane treten aber noch Verluste in ganzen anderen Dimensionen hinzu. General Hawk Carlisle, Chef der US-amerikanischen Air Force's Air Combat Command, erklärte am 1. Juni 2015 in nüchterner Militärsprache: "Wir haben im Zeitraum September-Oktober [2014] rund 13.000 feindliche Kämpfer vom Schlachtfeld genommen." Ein anderer US-General stellte fest, die Luftabwehr nehme monatlich über 1.000 IS-Kämpfer "vom Schlachtfeld". Dem steht aber die außerordentlich große Rekrutierungsfähigkeit des IS gegenüber. Analytiker sind uneins, ob die Zugänge zum IS dessen Verluste überwiegen oder nur ausgleichen. Vor allem über Südeuropa strömten immer neue IS-Kämpfer nach Syrien ein. Zudem würden sie immer jünger; der IS rekrutiere inzwischen auch Teenager und Kinder. Diese Desperados, Verführten oder Idealisten setzen auf den IS. Erst wenn die Siegessträhne abreißt und Neurekrutierungen die Verluste nicht mehr kompensieren, könnte das Charisma des IS rasch in sich zusammenfallen.
Die globale Dimension des Kampfes
In der propagandistischen Darstellung des IS ist der Krieg in Syrien und im Irak kein gewöhnlicher Krieg, bei dem es um Landnahme und Eroberung von Ressourcen geht, sondern der Krieg aller Kriege, der in apokalyptischer Tradition das Armageddon ankündige und zum Endsieg aller Muslime weltweit führen werde. Dabei kommt der Propaganda zugute, dass sich radikale Muslime als die neuen Verdammten dieser Erde und als Opfer eines globalen antimuslimischen Komplotts stilisieren. Dieses Komplott werde nicht nur von den üblichen, aus der NS-Propaganda bekannten Verdächtigen, den Juden und Freimaurern, geschmiedet, sondern gehe auch von anderen Muslimen aus. Juden, Kreuzzügler, Westeuropäer, muslimische Schiiten, Alawiten oder Sufis, arabisch-muslimische "Marionettenregime", Russen, US-Amerikaner, Inder aus dem Kaschmir, ja sogar Chinesen aus Xinjiang und die "zionistischen" kurdischen Peschmerga seien vereint im Kampf gegen die rechtgläubigen Muslime und ihre Speerspitze, den Islamischen Staat. Der marokkanisch-belgische Kopf der Terrorzelle von Verviers und Koordinator der Attentate in Paris vom 13. November 2015, Abdelhamid Abaaoud, Kampfname Abu Omar Soussi, auch Abu Omar al-Belgiki, erklärte in einem Video aus Syrien:
"Die Feinde Allahs und die Feinde des Islam haben sich auf der ganzen Welt versammelt, angefangen bei den sogenannten pazifistischen Buddhisten, die die Muslime in Asien vernichten, enthaupten, zerfleischen und essen (!), oder den Afrikanern in Zentralafrika, die Muslime töten."
Die "Demütigung" der Muslime hat eine globale Dimension. Vor diesem Hintergrund füllt der radikale Salafismus das ideologische Vakuum, das der Niedergang des Kommunismus hinterlassen hat. Viele Äußerungen von Dschihadisten bezeugen, dass ihr Kampf nicht in erster Linie dem syrischen Assad-Regime gilt. Vielmehr werde das revolutionäre Feuer weiterbrennen, bis eine neue Weltordnung unter muslimischer Vorherrschaft errichtet worden sei. Auch wenn das antikapitalistische Motiv dabei keine Rolle spielt, geht es doch um alle Unterdrückten, Gedemütigten und Ausgebeuteten dieser Erde, denen ein neues Leben unter dem Banner der Scharia in Aussicht gestellt wird. Dieses neue Leben garantiert vor allem Sicherheit auf allen Ebenen: Ruhe, Ordnung, klare Regeln des Zusammenlebens, nicht zuletzt auch materielle Sicherheit. Für viele junge "Emigranten", wie sie sich nennen, die in westlichen Sozialstaaten gelebt und deren Segnungen gern akzeptiert haben, beruht die Attraktion des Islamischen Staates vor allem auf kostenloser Gesundheitsversorgung, niedrigen Mieten und der Teilhabe an der Kriegsbeute. Bespitzelung, Sitten- und Tugendwächter, Terror, Geheimpolizei plus sozialstaatliche Vergünstigungen und Bereicherung durch die Kriegsbeute.
Das Ziel dieses Buches
In diesem Buch geht es nicht um den Bürgerkrieg in Syrien, um die vielen, kaum überschaubaren Gruppen und Fraktionen, die im Kampf gegen das Assad-Regime stehen. Es geht auch nicht um den Streit zwischen den beiden radikal-dschihadistischen Kräften, dem syrischen Al-Qaida-Ableger Al Nusra und dem IS, auch nicht um den Stellvertreterkrieg, den tschetschenische Gruppen in Syrien führen. Die Tschetschenen, von denen Tarkhan Batirashvili, Kampfname Omar al-Shishani, vor seinem Tod in eine hohe militärische Führungsposition im IS aufgestiegen war, führen einen gegen Russland gerichteten nationalen Befreiungskampf. Da sie diesen Kampf nicht in ihrer Heimat führen können, treten sie gegen das mit Russland verbündete Assad-Regime an. Die beiden radikal-islamistischen Gruppen IS und Al Nusra führen dagegen einen internationalen Kampf, bei dem es um die weltweite Gemeinschaft aller Muslime, der umma, geht. Syrien ist nur das Epizentrum dieses Kampfes. Die nach dem Ende des Osmanischen Reiches im Sykes-Picot-Abkommen festgelegten Grenzen zwischen den Ländern des Nahen Ostens gelten als nicht verbindlich. Daher ist es unerheblich, ob Kämpfe auf syrischem oder irakischem Boden stattfinden: es ist ein und derselbe Kampf um das grenzüberschreitende Gebiet Cham (Großsyrien), den Kern eines islamisch-sunnitischen Großreiches unter einem Kalifat.
Das Ziel meines Buches ist ein anderes: Mich interessieren die Profile von europäischen Jugendlichen und jungen Männern und Frauen, die sich diesem Kampf anschließen. Was treibt junge Menschen aus dem belgischen Vilvoorde, aus High Wycombe in Großbritannien, aus dem französischen Toulouse oder aus Kleinstädten wie Lunel oder Vesoul, aus Dinslaken oder Wolfsburg dazu, an einem blutigen Bürgerkrieg teilzunehmen? Und um was für Menschen handelt es sich? Sind es nur die prekär beschäftigten Pizzaboten oder Paketzusteller aus dem unteren sozialen Segment oder nicht auch Oberschüler und Studenten? Und handelt es sich, wie viele Betroffene erklären, tatsächlich um einen religiösen Kampf? Geht es in ihnen erster Linie darum, den bedrängten Glaubensbrüdern und -schwestern zur Hilfe zu kommen und humanitäre Hilfe zu leisten? Davon bin ich keineswegs überzeugt, auch wenn ich dieses Motiv im Einzelfall nicht in Abrede stellen möchte. Mir geht es wie Klaus Staeck, der in einem Interview erklärte: "[Ich] konnte mir bisher nicht vorstellen, dass jemand, der in Deutschland sozialisiert wurde, aus Dinslaken aufbricht, sich im Kalifat-Staat einen Sprengstoffgürtel umbinden lässt und sich dort in die Luft jagt." Ich konnte mir bisher auch nicht vorstellen, dass ein westlich sozialisierter Konvertit wie Kévin Chassin, Kampfname Abou Mariam, ein Drogenabhängiger aus Toulouse, schreiben kann:
"Ich suche nur das Paradies. Was gibt es Besseres? […] Der Märtyrertod ist wahrscheinlich der kürzeste Weg ins Paradies, und das hat man mir nicht etwa beigebracht. Das habe ich direkt bei meinen Märtyrerkameraden erlebt. Auf ihren Gesichtern habe ich Glückseligkeit gesehen und den Duft von Moschus eingeatmet, den ihre Leichen verströmten. Ganz anders als bei den Ungläubigen, den Feinden Allahs. Sie sind nur hässlich und ihre Leichen stinken noch schlimmer als Schweine."
Der Salafismus als politische Bewegung
Viele Syrienreisende sind inzwischen unerkannt und ungeschoren in ihre westlichen Herkunftsländer zurückgekehrt und kaum jemand kann sagen, ob sie desillusioniert oder radikalisiert, geläutert oder traumatisiert sind. Der rege Reiseverkehr nach und von Syrien ist nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich. Westliche Geheimdienste, Grenzschützer und Flughafenkontrolleure hindern nicht nur Reisewillige an der Ausreise. Auf die Rückkehrer warten auch Prozesse wegen Mitarbeit in einer terroristischen Vereinigung und teilweise mehrjährige Haftstrafen.
Wie ist es überhaupt zu der keineswegs abgeebbten Reisewelle gekommen und was versprechen sich diese jungen Menschen, darunter ganze Familien mit Kleinkindern, vom gelobten Land Syrien? Aus dem britischen Bradford brachen drei Schwestern mit ihren insgesamt neun Kleinkindern nach Syrien auf und ließen ihre verstörten muslimischen Ehemänner zurück. Der jüngere Bruder der Frauen, der 21-jährige Ahmed Dawood, hatte sie aus Syrien davon überzeugt, dass sie und ihre Kinder im Bürgerkriegsgebiet besser aufgehoben wären als im friedlichen Bradford.
Auch wenn viele Dschihadisten von einer apokalyptischen Endzeitstimmung erfasst sind und den Märtyrertod anstreben, ist der eigentliche Beweggrund politischer Natur. Aus den westlichen Ländern nehmen mehrheitlich junge Muslime mit Migrationshintergrund am Dschihad teil. Sie sind fasziniert von der Idee, am Aufbau eines Staates als Keimzelle der muslimischen Umma teilzunehmen, in dem weder Rasse noch Nation eine Rolle spielen. Für Menschen, die sich in den westlichen Ländern aufgrund ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit diskriminiert fühlen, und die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, ist dieser Aspekt mindestens ebenso wichtig wie der religiös-politische Messianismus. Ich halte es daher für falsch, im radikalen Salafismus und Dschihadismus nur eine religiöse Erweckungsbewegung oder eine Sekte sehen. Es sind eminent politische, reaktionäre Bewegungen, die mit hochmoderner Medienpropaganda ein Heilsversprechen verkünden. Einer der Führer der verbotenen britischen Dschihadistengruppe Al Muhajiroun (Die Emigranten), Abu Ibrahim, mit bürgerlichem Namen Trevor Forrest, erklärte in einem Gruppeninterview der BBC:
"Schauen Sie sich den Kapitalismus an; er existiert erst seit 75 Jahre und bricht schon zusammen. Der Kommunismus ist am Ende. Das einzige jetzt noch verbreitete ideologische System [ist] keine Religion. Der Islam ist keine Religion. Er ist, um das klarzustellen, eine politische Ideologie [ideological belief]."
Großstädtische Gang-Kultur und Dschihadismus
Was der Islamismus ist und sein will, gehört auch in die Zuständigkeit von Sozialwissenschaften. Dieser islamistische Radikalismus ist zunächst eine weltweite Jugendbewegung von jungen Muslimen, darunter auch etlichen Konvertiten. Ihre Militanz verheißt den Ausbruch aus der westlichen Konsumgesellschaft, aus der westlichen Demokratie und dem kapitalistischen Gewinnstreben. Je jünger westliche Dschihadisten sind, desto mehr geht bei ihnen der meist nur oberflächlich angeeignete Islam eine Verbindung mit der Gang-Kultur in den Problemvierteln größerer Städte ein. Viele sind erst im Gefängnis radikalisiert worden und waren vorher ganz gewöhnliche, kleinere oder größere Kriminelle.
Kriege und die Lizenz zum Töten können einen ganz eigenen Rausch erzeugen und den vermeintlich oder tatsächlich Benachteiligten dieser Gesellschaft Bedeutung und Sinnhaftigkeit verleihen. Viele von ihnen hätten sich auch den Autonomen oder den Schwarzen Blöcken anschließen können, wenn sie nicht Muslime wären. Die ideologische Brücke zwischen rechts und links ist der antiimperialistische Befreiungskampf, die Globalisierungskritik und der Antisemitismus. Die massive Nutzung des Internet und der sozialen Medien zum Zwecke der Beeinflussung, Indoktrination und Rekrutierung junger Menschen ist Beobachtern nicht entgangen. Aber das sind nur mediale Verstärker und Kanalisatoren einer gerade unter Jugendlichen verbreiteten Suche nach einer Alternative zu den westlichen Demokratien, zur Globalisierung, zur ungerechten Verteilung des Reichtums in der Welt und zum vermeintlichen Werterelativismus des Westens.
Frankreich als bevorzugtes Ziel islamistischer Attentate
Viele fragen sich besorgt, ob die jungen Dschihadisten in Syrien nicht fanatisiert oder traumatisiert in ihre Herkunftsländer zurückkehren und hier Attentate verüben könnten. Die Sorge ist berechtigt, beruht aber auf einem Kurzschluss zwischen Syrienaufenthalt und Attentatsbereitschaft. Die bekanntesten islamistischen, teilweise verhinderten Attentäter der letzten Jahre waren gar nicht in Syrien, sondern haben sich über islamistische Netzwerke, über das Internet oder über Hassprediger radikalisiert. Zudem werden Attentate im Namen des IS auch in muslimischen Ländern begangen. Sie richten sich gegen die vermeintlich vom wahren Islam abgefallenen Apostaten, gegen die sogenannten Marionettenregime oder gegen Länder wie Tunesien, die den Arabischen Frühling vergleichsweise erfolgreich umsetzen. Wenn man aber ein europäisches Land bestimmen wollte, das auf der Wunschliste dschihadistischer Attentäter ganz oben steht, dann ist es Frankreich. Eine vom französischen Parlament eingesetzte Untersuchungskommission hob 2015 hervor, schon Al Qaida habe Frankreich noch vor den USA als westlichen Hauptfeind bestimmt. Die Zahl der gelungenen und verhinderten Attentate mit islamistischem Hintergrund ist gerade hier in den letzten Jahren gestiegen. Frankreich ist das Land mit den meisten muslimischen Einwanderern in Europa. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt bei 5 bis 6 Millionen Menschen, etwa 8,2 Prozent. Viele von ihnen fühlen sich als Franzosen und in religiöser Hinsicht als Atheisten, viele aber auch nicht. Die Bezeichnung "muslimisch" ist heute nicht nur eine religiöse, sondern eine ethnische Kategorie und trifft auch jene, die ihre Religion nicht praktizieren und in der jungen Generation oft nicht einmal mehr Arabisch sprechen.
Der lange Schatten der Vergangenheit
Seit Mitte der 1970er Jahre hat sich die Lage verschärft. Vor dem Hintergrund der Ölkrise und der steigenden Arbeitslosigkeit wollten Präsident Giscard d'Estaing und der konservative Premierminister Jacques Chirac jährlich 200.000 Immigranten in ihre Herkunftsländer zurückführen, was trotz finanzieller Anreize nicht gelungen ist. Zugleich hat Giscard aber die Familienzusammenführung eingeführt, und dies in einer Phase steigender Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung. Die Zahl unqualifizierter Einwanderer mit hoher Kinderzahl ist also weiter gestiegen, ohne dass man sie noch als "Gastarbeiter" benötigte. Damit verstärkte sich auch die Ausgrenzung der Immigranten auf dem Wohnungsmarkt. In den 1960er Jahren sind in fast allen europäischen Großstädten Neubausiedlungen entstanden, oft mit besten sozialen und urbanistischen Absichten, nicht selten auch mit architektonischem Ehrgeiz. Es sollten sozial und ethnisch durchmischte Viertel mit eigenem sozialem und kulturellem Leben entstehen. Je mehr aber kinderreiche, formal ungebildete, arbeitslose afrikanische Familien, gefolgt von Sinti, Roma und Bürgerkriegsflüchtlingen vom Balkan einzogen, desto rascher zogen autochthone Mittelschichtfamilien aus. Heute sind diese Trabantenstädte von Drogenhandel, Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung geprägt. Im Zuge des Neoliberalismus hat sich der Staat zunehmend aus diesen Vierteln zurückgezogen. Man hat an Sozialarbeitern, Sporteinrichtungen, Bibliotheken, Jugendzentren, Verkehrsanbindungen und Investitionen in die Gebäude gespart. Wer hier noch wohnt, ist stigmatisiert. Statt auf den Staat hat man auf die Zivilgesellschaft gesetzt. Sie ist auch tätig geworden, aber anders als gedacht. Diese Vorstädte sind die Brutstätten des Salafismus, der als religiös-moralische, zivilgesellschaftliche Bewegung begann und heute das Reservoir für Hassprediger, Dschihadanwerber und Attentäter bildet.
Hinzu kommt, dass Frankreich eine lange koloniale Vergangenheit hat und auch heute noch starke ökonomische und kulturelle Interessen im Maghreb und in Subsahara-Afrika verfolgt. Die militärischen Interventionen Frankreichs in Libyen, Syrien oder Mali werden aber von vielen französischen Muslimen als feindliche Akte gegen ihre Glaubensbrüder und als Fortsetzung der Kolonialpolitik mit anderen Mitteln wahrgenommen. Nicht zuletzt versteht sich Frankreich als laizistischer Staat. Religion ist Privatsache und darf nicht den öffentlichen Diskurs bestimmen. Proselytenmacherei ist verboten, und das Auftreten muslimischer Frauen in der Burka oder dem Nikab gilt im öffentlichen Bewusstsein als Angriff auf das laizistische Selbstverständnis der Republik. Das ist zweifellos auch so, denn die Vollverschleierung ist kein religiöses, sondern ein politisches Bekenntnis, auch wenn sich die Trägerinnen auf ihre Religionsfreiheit berufen. Zugleich werden diese Freiheit und der Verfassungsstaat häufig als "unislamisch" abgelehnt. Diese dialektische Spitzfindigkeit ist aber laufend im Spiel, wenn es um die "Demütigung" von Muslimen geht.
Ein weiterer Grund für die Rückbesinnung auf den Islam und die Ablehnung Frankreichs oder der westlichen Welt ist ein Generationen- und Identitätskonflikt zwischen der Generation der Eltern oder Großeltern und jungen, bereits in Europa geborenen Menschen mit Migrationshintergrund. Im Islam salafistischer Observanz sehen sie eine Waffe für ihr empowerment. Konfliktverschärfend zu den außen- und arbeitsmarktpolitischen Aspekten tritt das französische Staatsverständnis hinzu. Frankreich hat sich vom ursprünglich angelsächsischen, längst auch deutschen Konzept des Multikulturalismus immer distanziert. Multikulturalismus und Kommunitarismus sind in Frankreich negativ besetzt, weil sie die Einheit und Unteilbarkeit der Republik und die Gleichheit aller Franzosen als Staatsbürger in Frage stellen. Kommunitarismus gilt als Keimzelle von kulturell-ethnischem Separatismus und als Rechtfertigung selbst regulierter gesellschaftlicher Sphären neben dem und letztlich gegen den französischen Staat. Man kann einwenden, dass der Multikulturalismus auch in Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden oder Deutschland gescheitert ist. Die besondere Brisanz in Frankreich liegt aber in einer Verflechtung multikausaler Faktoren, die von vielen Muslimen monokausal wahrgenommen werden: Allein aus rassistischen Gründen würden sie nicht akzeptiert, nicht gewollt und in Ghettos abgeschoben.