E-Book, Deutsch, 800 Seiten
Reihe: Reclam Bibliothek
Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 4
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-15-960753-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sodom und Gomorrha
E-Book, Deutsch, 800 Seiten
Reihe: Reclam Bibliothek
ISBN: 978-3-15-960753-5
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcel Proust (10.7.1871 Paris - 8.11.1922) kommt als ältester Sohn eines wohlhabenden Arzt-Ehepaares zur Welt, was ihm zeitlebens eine von ökonomischen Sorgen unbeschwerte Existenz ermöglichen wird. Bis er Mitte dreißig ist, führt er das mondäne Leben eines Dandys, danach widmet er sich ausschließlich seinem Romanwerk, an dem er bei Nacht in seinem korkgetäfelten, vom Rauch des Asthmapulvers durchzogenen Schlafzimmer am Boulevard Haussmann arbeitet. Die sieben Bände 'À la recherche du temps perdu' kreisen um die Reflexionen eines Erzähler-Ichs über Erinnerung, Wahrheit und Bedeutung, die nur im Mittelteil des ersten Bandes 'Un amour de Swann' (dt. 'Eine Liebe von Swann') durch die auktoriale Erzählung um Charles Swann unterbrochen wird. Im Frühjahr 1922 setzt Proust das Wort FIN - ENDE - unter das Manuskript des letzten Bandes 'Le temps retrouvé' (dt. 'Die wiedergefundene Zeit'), ein halbes Jahr später stirbt er, nur 51 Jahre alt.Proust verkehrte im literarischen Salon Madeleine Lemaires in Paris, ein kultureller Hotspot, in dem namhafte Politiker wie Raymond Poincaré, Paul Deschanel oder Léon Bourgeois, Adelige wie Prinzessin Mathilde Bonaparte oder die Comtesse Greffulhe sowie Schriftsteller wie Jacques Bizet, Guy de Maupassant, Paul Bourget und Robert de Montesquiou zusammenkamen. In diesem Milieu lernte er auch seinen späteren Geliebten und Lebensmenschen Reynaldo Hahn kennen, mit dem ihn ein lebenslanger Briefwechsel von rund 220 Schriftstücken verbindet. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer:Bernd-Jürgen Fischer, ursprünglich Mathematiker und Linguist, ist nach längerer Tätigkeit am Germanistischen Fachbereich der Freien Universität Berlin als freier Autor tätig und hat sein Interesse in den letzten zehn Jahren vorwiegend der französischen Literatur zugewandt.
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[51] ZWEITER TEIL
Erstes Kapitel
Monsieur de Charlus in der Gesellschaft. – Ein Arzt. – Charakteristisches Gesicht von Madame de Vaugoubert. – Madame d’Arpajon, die Fontäne von Hubert Robert und die Heiterkeit des Großfürsten Wladimir. – Madame d’Amoncourt, Madame de Citri, Madame de Saint-Euverte, usw. – Merkwürdige Unterhaltung zwischen Swann und dem Prinzen von Guermantes. – Albertine am Telefon. – Besuche vor meinem zweiten und letzten Aufenthalt in Balbec.* – Ankunft in Balbec. – Die Unstetigkeiten des Herzens.
Da ich es nicht eilig hatte, bei der Soiree der Guermantes zu erscheinen, von der ich nicht einmal sicher war, zu ihr eingeladen zu sein, blieb ich müßig im Freien; doch der Sommertag schien ebenso wenig wie ich in Eile zu sein, sich davonzumachen. Obwohl es schon nach neun Uhr* war, verlieh er immer noch dem Obelisken aus Luxor auf der Place de la Concorde das Aussehen von rosafarbenem Nougat. Dann veränderte er die Tönung und machte ihn zu etwas Metallischem, so dass der Obelisk nicht nur kostbarer wurde, sondern auch schlanker und nahezu elastisch erschien. Man hatte den Eindruck, dass man ihn hätte biegen können und dass man dieses Juwel womöglich bereits ein wenig verfälscht hatte. Der Mond stand inzwischen am Himmel wie eine sorgfältig geschälte, aber etwas abgebissene Spelte einer Orange. Doch später sollte er aus dem haltbarsten Gold gefertigt sein. Ganz allein an seine Rückseite geschmiegt, diente ein armseliger kleiner Stern als einzige Begleitung der einsamen Luna, die, kühner als ihre Freundin und sie beschützend, wie eine unbezwingbare Waffe, wie ein orientalisches Symbol ihre weit ausgreifende [52] und herrliche goldene Sichel* schwingen würde, während sie ihr voraneilte.
Vor dem Palais der Prinzessin von Guermantes traf ich den Herzog von Châtellerault; ich dachte nicht mehr daran, dass mich noch eine halbe Stunde zuvor die Angst verfolgt hatte – die mich übrigens bald wieder ergreifen sollte –, uneingeladen zu kommen. Man ist beunruhigt, und oft erinnert man sich erst lange nach der Stunde der Gefahr, die man dank der Zerstreuung vergessen hat, an seine Beunruhigung. Ich sagte dem jungen Herzog guten Tag und betrat das Palais. Doch muss ich hier zunächst einen winzigen Umstand erwähnen, der es gestatten wird, einen Sachverhalt zu verstehen, der bald folgen wird.
Es gab hier an diesem Abend wie auch an den vorangehenden jemanden, der viel an den Herzog von Châtellerault dachte, ohne im übrigen zu ahnen, wer er war: und zwar den Türsteher (den man zu jener Zeit den »Kläffer«* nannte) von Madame de Guermantes. Monsieur de Châtellerault, der weit davon entfernt war, einer der engen Freunde – wiewohl einer der Vettern – der Prinzessin zu sein, wurde in ihrem Salon zum ersten Male empfangen. Seine Eltern, die mit ihr seit zehn Jahren zerstritten waren, hatten sich vor zwei Wochen wieder mit ihr ausgesöhnt und, weil sie an diesem Abend nicht in Paris sein konnten, ihren Sohn damit beauftragt, sie zu vertreten. Nun, einige Tage zuvor war der Türsteher der Prinzessin in den Champs-Élysées einem jungen Mann begegnet, den er bezaubernd fand, dessen Identität er jedoch nicht feststellen konnte. Nicht, dass sich der junge Mann nicht als ebenso liebenswürdig wie großzügig erwiesen hätte. All die Gunstbeweise, von denen der Türsteher angenommen hatte, dass er sie einem so jungen Herrn würde erweisen müssen, hatte im Gegenteil er selbst empfangen. Aber Monsieur de Châtellerault war ebenso ängstlich wie unvorsichtig; er war umso fester entschlossen, sein Inkognito [53] nicht zu lüften, als er nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte; er hätte noch größere – wenn auch unbegründete – Angst gehabt, hätte er es gewusst. Er hatte sich darauf beschränkt, sich als Engländer auszugeben, und bei allen leidenschaftlichen Fragen des Türstehers, der gern jemanden wiedergetroffen hätte, dem er so viel Lust und Großzügigkeit verdankte, hatte er sich, die ganze Avenue Gabriel* entlang, darauf beschränkt zu antworten: »I do not speak French.«
Obwohl sich, trotz allem – wegen der Herkunft mütterlicherseits seines Vetters –, der Herzog von Guermantes darin gefiel, einen Hauch von Courvoisier im Salon der Prinzessin von Guermantes-Bayern zu konstatieren, beurteilte man im allgemeinen die Unternehmungslust und die geistige Überlegenheit dieser Dame auf der Grundlage einer Neuerung, der man sonst nirgendwo in diesem Milieu begegnete. Nach dem Diner wurden bei der Prinzessin von Guermantes, wie bedeutsam auch immer die zu erwartende Zusammenkunft sein mochte, die Stühle so aufgestellt, dass sich kleine Gruppen bildeten, die einander gegebenenfalls auch den Rücken zukehrten. Die Prinzessin brachte dann ihren Sinn für Geselligkeit zum Ausdruck, indem sie sich, als handle es sich um einen besonderen Vorzug, bei einer von ihnen niederließ. Sie scheute außerdem nicht davor zurück, ein Mitglied einer anderen Gruppe zu erwählen und hinzuzuziehen. Wenn sie zum Beispiel Monsieur Detaille, der ihr natürlich zustimmte, darauf aufmerksam gemacht hatte, was für einen hübschen Hals Madame de Villemur*, die, weil sie in einer anderen Gruppe saß, nur von hinten zu sehen war, doch habe, zögerte sie nicht, mit lauter Stimme zu rufen: »Madame de Villemur, Monsieur Detaille bewundert gerade als der große Maler, der er ist, Ihren Hals.« Madame de Villemur sah darin eine direkte Einladung zum Gespräch; mit der Gewandtheit der geübten Reiterin ließ sie langsam, ohne auch nur im geringsten [54] ihre Nachbarn zu stören, ihren Stuhl eine Drehung um drei Viertel des Kreisbogens vollführen, bis sie der Prinzessin fast gegenübersaß. »Sie kennen Monsieur Detaille noch nicht?« fragte die Hausherrin, der der geschickte und verschämte Übertritt ihres Gastes nicht genügte. »Ich kenne ihn nicht, aber ich kenne seine Werke«, antwortete mit respektvoller und gewinnender Miene Madame de Villemur, und mit einer Geistesgegenwart, um die sie viele beneideten, während sie dem berühmten Maler, der ihr durch diesen Zwischenruf noch nicht in hinreichend förmlicher Weise vorgestellt worden war, einen unmerklichen Gruß zukommen ließ. »Kommen Sie näher, Monsieur Detaille«, sagte die Prinzessin, »ich möchte Sie Madame de Villemur vorstellen.« Diese machte sich mit ebenso viel Geschicklichkeit daran, für den Schöpfer des Rêve* einen Platz freizumachen, wie sie noch eben darauf verwendet hatte, sich zu ihm umzudrehen. Und die Prinzessin besorgte einen Stuhl für sich selbst; in Wirklichkeit hatte sie Madame de Villemur nur angesprochen, um einen Vorwand zu haben, die erste Gruppe zu verlassen, bei der sie die üblichen zehn Minuten verbracht hatte, und der zweiten eine ebenso lange Zeitspanne zukommen zu lassen. Nach einer Dreiviertelstunde hatten alle Gruppen ihren Besuch erhalten, der jedesmal nur vom Zufall und von momentanen Eingebungen bestimmt zu sein schien, doch vor allem dem Zweck diente, ins rechte Licht zu rücken, mit wie viel Natürlichkeit es »eine große Dame versteht zu empfangen«. Jetzt aber begannen die zur Soiree Eingeladenen einzutreffen, und die Hausherrin hatte sich nicht weit vom Eingang niedergelassen – aufrecht und stolz in ihrer geradezu königlichen Majestät, die Augen von ihrem eigenen Feuer erleuchtet –, zwischen zwei reizlosen Hoheiten und der Gattin des spanischen Botschafters*.
Ich reihte mich in die Schlange hinter einigen Gästen ein, die vor mir angekommen waren. Ich sah die Prinzessin mir gegenüber, [55] deren Schönheit mir, unter so vielen anderen, zweifellos nicht als einziges von diesem Fest in Erinnerung geblieben ist. Doch das Gesicht der Hausherrin war so vollendet, war so sehr wie eine schöne Medaille geprägt, dass es für mich einen besonderen Erinnerungswert behalten hat. Die Prinzessin pflegte zu den Eingeladenen, wenn sie sie einige Tage vor ihren Soireen zufällig traf, zu sagen: »Sie werden doch kommen, nicht wahr?«, als habe sie ein großes Verlangen danach, sich mit ihnen zu unterhalten. Doch da sie ganz im Gegenteil nichts mit ihnen zu bereden hatte, begnügte sie sich, wenn sie eintrafen, damit, ohne sich zu erheben, ihre leere Unterhaltung mit den beiden Hoheiten und der Botschaftersgattin einen Augenblick zu unterbrechen und sich zu bedanken, indem sie sagte: »Wie nett, dass Sie gekommen sind«, nicht etwa weil sie fand, dass der Gast durch sein Kommen eine besondere Nettigkeit bewiesen habe, sondern um ihre eigene noch zu vergrößern; doch gleich darauf verpasste sie ihm wieder eine kalte Dusche, indem sie hinzufügte: »Sie können Monsieur de Guermantes am Eingang zu den Gärten antreffen«, damit man sich dorthin aufmachte und sie in Ruhe ließ. Zu manchen sagte sie sogar überhaupt nichts und beschränkte sich darauf, sie ihre bewundernswerten Onyx-Augen sehen zu lassen, als sei man lediglich zu einer Ausstellung von Edelsteinen gekommen.
Die nächste Person, die vor mir eintrat, war der Herzog von Châtellerault*.
Da er auf so viel Lächeln, so viel begrüßendes Winken zu antworten hatte, das ihm aus dem Salon entgegenschlug, hatte er den Türsteher nicht bemerkt. Doch der Türsteher hatte ihn gleich im...