E-Book, Deutsch, 728 Seiten
Reihe: Reclam Bibliothek
Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 5
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-15-960851-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gefangene
E-Book, Deutsch, 728 Seiten
Reihe: Reclam Bibliothek
ISBN: 978-3-15-960851-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marcel Proust (10.7.1871 Paris - 8.11.1922) kommt als ältester Sohn eines wohlhabenden Arzt-Ehepaares zur Welt, was ihm zeitlebens eine von ökonomischen Sorgen unbeschwerte Existenz ermöglichen wird. Bis er Mitte dreißig ist, führt er das mondäne Leben eines Dandys, danach widmet er sich ausschließlich seinem Romanwerk, an dem er bei Nacht in seinem korkgetäfelten, vom Rauch des Asthmapulvers durchzogenen Schlafzimmer am Boulevard Haussmann arbeitet. Die sieben Bände 'À la recherche du temps perdu' kreisen um die Reflexionen eines Erzähler-Ichs über Erinnerung, Wahrheit und Bedeutung, die nur im Mittelteil des ersten Bandes 'Un amour de Swann' (dt. 'Eine Liebe von Swann') durch die auktoriale Erzählung um Charles Swann unterbrochen wird. Im Frühjahr 1922 setzt Proust das Wort FIN - ENDE - unter das Manuskript des letzten Bandes 'Le temps retrouvé' (dt. 'Die wiedergefundene Zeit'), ein halbes Jahr später stirbt er, nur 51 Jahre alt.Proust verkehrte im literarischen Salon Madeleine Lemaires in Paris, ein kultureller Hotspot, in dem namhafte Politiker wie Raymond Poincaré, Paul Deschanel oder Léon Bourgeois, Adelige wie Prinzessin Mathilde Bonaparte oder die Comtesse Greffulhe sowie Schriftsteller wie Jacques Bizet, Guy de Maupassant, Paul Bourget und Robert de Montesquiou zusammenkamen. In diesem Milieu lernte er auch seinen späteren Geliebten und Lebensmenschen Reynaldo Hahn kennen, mit dem ihn ein lebenslanger Briefwechsel von rund 220 Schriftstücken verbindet. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer:Bernd-Jürgen Fischer, ursprünglich Mathematiker und Linguist, ist nach längerer Tätigkeit am Germanistischen Fachbereich der Freien Universität Berlin als freier Autor tätig und hat sein Interesse in den letzten zehn Jahren vorwiegend der französischen Literatur zugewandt.
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[7] Erstes Kapitel*
Gemeinsames Leben mit Albertine.
Gleich morgens, mit dem Kopf noch zur Wand und noch ehe ich gesehen hatte, wie der Lichtstreifen über den hohen Fenstervorhängen gefärbt war, wusste ich bereits, was für ein Wetter herrschte. Die ersten Geräusche von der Straße hatten mir das mitgeteilt, je nachdem, ob sie von der Feuchtigkeit gedämpft und verzerrt oder aber vibrierend wie Pfeile durch den hallenden leeren Raum eines weit offenen, eisigen, klaren Morgens zu mir drangen; schon an dem Rollen der ersten Trambahn hatte ich gehört, ob sie im Regen fröstelte oder ins Blaue aufbrach. Und vielleicht war diesen Geräuschen selbst irgendein schnelleres, durchdringenderes Ausströmen vorausgegangen, das durch meinen Schlaf glitt und darin die traurige Ankündigung von Schnee verbreitete oder eine bestimmte kleine Mittelsperson zum Ruhme der Sonne darin so zahlreiche Lobgesänge anstimmen ließ, dass diese schließlich für mich, der ich noch im Schlaf zu lächeln begann und dessen geschlossene Lider sich darauf vorbereiteten, geblendet zu werden, in ein ohrenbetäubendes musikalisches Wecken übergingen. Im übrigen nahm ich zu jener Zeit das Leben draußen vor allem von meinem Zimmer aus wahr. Ich weiß noch, dass Bloch erzählte, er habe, wenn er mich abends besuchen wollte, jemanden sprechen gehört; da sich meine Mutter in Combray befand und er niemals jemanden in meinem Zimmer antraf, kam er zu dem Schluss, ich hielte Selbstgespräche. Als er viel später erfuhr, dass Albertine damals bei mir wohnte, und begriff, dass ich sie vor aller Welt versteckt hatte, erklärte er, dass er nun endlich den Grund sehe, weshalb ich zu jener Zeit meines Lebens nie hatte ausgehen wollen. Er täuschte sich. Das konnte man ihm allerdings verzeihen, denn die Wirklichkeit [8] ist, selbst wo sie sich zwangsläufig ergibt, niemals vollkommen vorhersehbar, und diejenigen, die über das Leben eines anderen irgendeine Einzelheit erfahren, ziehen daraus umgehend Folgerungen, die gar keine sind, und sehen in der neuentdeckten Tatsache die Erklärung für Dinge, die in keinerlei Zusammenhang mit ihr stehen.
Wenn ich jetzt daran denke, dass meine Freundin seit unserer Rückkehr aus Balbec in Paris unter dem gleichen Dach gelebt hat wie ich, dass sie den Gedanken aufgegeben hatte, eine Kreuzfahrt zu machen, dass sie ihr Zimmer zwanzig Schritte von dem meinen hatte, am Ende des Korridors, in dem mit Wandteppichen ausgekleideten Arbeitszimmer meines Vaters, und dass sie jeden Abend, sehr spät, bevor sie mich verließ, ihre Zunge in meinen Mund gleiten ließ wie das täglich Brot, wie eine kräftigende Nahrung und mit dem fast geheiligten Charakter allen Fleisches, dem die Leiden, die wir um seinetwillen erduldeten, schließlich eine Art moralischer Süße verliehen haben, dann fällt mir sofort als Vergleich nicht etwa jene Nacht ein, die ich mit Erlaubnis des Rittmeisters von Borodino in der Kaserne verbringen durfte als eine Gunst, die letztlich nur einem vorübergehenden Unwohlsein abhalf, sondern jene, in der mein Vater Maman in dem kleinen Bett neben meinem eigenen schlafen hieß. Wenn uns das Leben einmal mehr von einem Leiden verschonen soll, das unvermeidlich erschien, so tut es dies unter so verschiedenen, manchmal derart entgegengesetzten Umständen, dass schon fast ein Frevel darin zu liegen scheint, die Gleichartigkeit der jeweils gewährten Gnade festzustellen!
Wenn Albertine von Françoise erfahren hatte, dass ich in der Nacht meines Zimmers mit den noch geschlossenen Vorhängen nicht mehr schlief, genierte sie sich nicht, in ihrem Badezimmer ein wenig Lärm beim Baden zu machen. Dann ging ich oft, statt [9] abzuwarten, bis sie fertig wäre, in ein anderes Badezimmer, das gleich neben ihrem lag und ein angenehmer Aufenthaltsort war. Früher verauslagte ein Theaterdirektor Hunderttausende von Franc, um den Thron, auf dem die Diva eine Kaiserin spielte, mit echten Smaragden zu besetzen. Die Russischen Ballette haben uns gezeigt, dass ein einfaches Lichterspiel, lässt man es an der richtigen Stelle erscheinen, ebenso prachtvolle und noch vielfältigere Juwelen hervorbringt. Dieses schon weniger substantielle Dekor ist aber dennoch nicht so anmutig wie jenes, mit dem die Sonne um acht Uhr morgens dasjenige ersetzte, das wir für gewöhnlich dort sahen, wenn wir erst gegen Mittag aufstanden. Die Fenster unserer beiden Badezimmer waren, damit man uns nicht von draußen sehen konnte, nicht glatt, sondern mit einem künstlichen, altmodischen Rauhreif überzogen. Die Sonne färbte mit einem Mal diesen gläsernen Mousselin gelb ein, vergoldete ihn, legte behutsam in mir einen früheren, jungen Mann frei, den die Gewohnheit seit langem verborgen hatte, und machte mich trunken von Erinnerungen, als befände ich mich in der freien Natur vor goldenem Laubwerk, das nicht einmal einen Vogel vermissen ließ. Denn ich hörte Albertine in einem fort pfeifen:
Les douleurs sont des folles,
Et qui les écoute est encor plus fou.*
Ich liebte sie zu sehr, um nicht über ihren schlechten Musikgeschmack vergnügt zu lächeln. Von diesem Lied war übrigens Madame Bontemps im vergangenen Sommer ganz hingerissen gewesen, hatte dann aber bald gehört, dass es für eine Schnulze gehalten wurde, weshalb sie Albertine nicht mehr bat, es zu singen, wenn sie Gäste hatte, sondern es durch
[10] Une chanson d’adieu sort des sources troublées*
ersetzte, das seinerseits bald zu einem »alten Gassenhauer von Massenet« wurde, »mit dem die Kleine uns in einem fort die Ohren vollquakt«.
Eine Wolke zog vorbei, verdunkelte die Sonne, ich sah den keuschen, beblätterten Glasvorhang erlöschen und wieder zu einem Grau in Grau werden.
Die Zwischenwand, die unsere beiden Badezimmer trennte (das von Albertine, das ganz dem meinen glich, war eines, das Maman, die noch ein anderes am anderen Ende der Wohnung hatte, niemals benutzte, um mich nicht durch Geräusche zu stören), war so dünn, dass wir, während wir uns jeweils in unserem eigenen wuschen, miteinander sprechen und, nur vom Plätschern des Wassers unterbrochen, eine Unterhaltung in jener Intimität führen konnten, wie sie in Hotels häufig die Enge der Zimmer und die Nähe der Räume zueinander ermöglicht, die in Paris jedoch äußerst selten ist.
Manchmal auch blieb ich im Bett liegen und träumte so lange vor mich hin, wie ich wollte, denn man hatte Anweisung, niemals in mein Zimmer zu kommen, bevor ich geläutet hatte, was aber, da der Klingelknopf so unbequem über meinem Bett angebracht worden war, so lange dauerte, dass ich es oft leid wurde, zu versuchen sie zu erreichen, und zufrieden, allein zu sein, noch einige Augenblicke liegen blieb und fast wieder einschlief. Nicht etwa, dass ich völlig gleichgültig gegenüber Albertines Aufenthalt bei uns gewesen wäre. Die Trennung von ihren Freundinnen bewirkte, dass meinem Herzen neue Leiden erspart blieben. Sie beließ es in einem Zustand der Stille, einer Unbeweglichkeit nahezu, die ihm helfen würden zu gesunden. Doch letztlich war die Ruhe, die meine Freundin mir verschaffte, eher nur eine Linderung des Leidens [11] denn eine Freude. Nicht, dass sie mir nicht ermöglicht hätte, auch davon die eine oder andere zu genießen, die der allzu lebhafte Schmerz mir verschlossen hatte, doch diese Freuden, die nicht im entferntesten Albertine zu verdanken waren, die ich übrigens nicht einmal mehr hübsch fand und mit der ich mich langweilte, von der ich das deutliche Gefühl hatte, sie nicht mehr zu lieben, diese genoss ich ganz im Gegenteil dann, wenn Albertine nicht bei mir war. Deshalb ließ ich sie auch, um den Morgen zu beginnen, nicht sofort rufen, vor allem, wenn schönes Wetter war. Einige Augenblicke lang blieb ich in dem Bewusstsein, dass sie mich glücklicher machen würde als Albertine, allein mit der kleinen inneren Person, die singend die Sonne begrüßte und die ich bereits erwähnt habe. Von denjenigen, aus denen sich unsere Individualität zusammensetzt, sind es nicht die auffälligsten, die uns am wichtigsten sind. In mir werden, wenn die Krankheit eine nach der anderen zu Boden geworfen hat, zwei oder drei übrig bleiben, die ein zäheres Leben haben als die anderen, insbesondere ein gewisser Philosoph, der erst glücklich ist, wenn er zwischen zwei Werken oder zwei Wahrnehmungen eine Gemeinsamkeit entdeckt hat. Doch oft habe ich mich gefragt, ob der letzte von allen nicht das kleine Männlein sein wird, das so sehr jenem anderen ähnelt, das der Optiker von Combray in sein Schaufenster gestellt hatte, damit es das Wetter anzeigt, und das seine Kapuze abstreifte, sobald es sonnig wurde, und sie wieder aufsetzte, wenn es anfing zu regnen. Ich kannte den Egoismus dieses kleinen Männleins; ich mag getrost an einem Erstickungsanfall leiden, den allein einsetzender Regen beruhigen würde, darum schert er sich nicht, und bei den ersten so sehnsüchtig erwarteten Tropfen kommt ihm seine Heiterkeit abhanden, nur übellaunig setzt er seine Kapuze wieder auf. Umgekehrt bin ich davon überzeugt, dass in meiner Todesstunde, wenn alle meinen anderen Ichs schon gestorben sein werden, dieses Barometer- [12] Männlein, wenn zufällig ein Sonnenstrahl hereinfällt, während ich meinen letzten Seufzer...