E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Przybyszewski Erdensöhne
1. Auflage 2015
ISBN: 978-80-268-4304-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-80-268-4304-7
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses eBook: 'Erdensöhne' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Stanis?aw Przybyszewski (1868-1927) war ein polnischer Schriftsteller, der zu Beginn seiner Laufbahn auf Deutsch schrieb. Przybyszewski entwickelte ein großes Interesse für Satanismus sowie die Philosophie von Friedrich Nietzsche und begann ein Bohème-Leben. Zu seinen Freunden in dieser Zeit gehörten Edvard Munch, Richard Dehmel und August Strindberg. Aus dem Buch: 'Stasinek, der immer und überall den Pflichten eines Mundschenks oblag, bewegte sich unermüdlich unter den Zechgenossen hin und her, gofs fortwährend Schnaps oder Bier in die schnell geleerten Gläser und in die ebenso schnell geleerten Humpen, trank jedem fortwährend zu, ermunterte die Gäste, behauptete, dafs so viel Glück auf der Erde, wie auf dem Boden des Schnapsglases sei, wackelte mit seinem Flachskopf hin und her, und war unendlich glücklich: er fühlte sich in seinem Element.'
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II.
Inhaltsverzeichnis
Er ging durch die Stadtanlagen nach Hause. In der Ferne hörte er das Gerassel der Droschken . . . Warum fuhr er nicht mit ihnen zusammen? Ein tiefer Schmerz umgarnte seine Seele; er fühlte sich unendlich einsam, verwaist, durch ein stiefväterliches Schicksal aus dem Hause vertrieben, weit in die ferne Welt hinaus! Lacht! lacht! Der Wind pfeift, saust auf den schmutzigen, halb verfaulten Stoppelfeldern, der Regen zerpeitscht ihm das Gesicht, und die elenden Lumpen sind völlig durchnäfst. Der Regen berieselt seinen Körper, dringt ein in jede Pore seines Körpers. — Am Wege gespenstische, nackte Weidenbäume. — Und er geht durch die Brachfelder und durch Distelgebüsch, die Dornen zerreifsen ihm die Hände, die Füfse versinken in weicher, lehmiger Erde, ab und zu fällt er in einen tiefen Graben, dann wieder fällt er über eine Feldfurche, aber er gebt und geht. — Wohin denn? Er sah sich verwundert rings herum. „Mein Gott, das ist doch Frühling, Frühling jetzt!" An den Bäumen sprofsten die Blätter, die milde, weiche Aprilluft umkoste sein Gesicht mit pflaumweichen Daunen, etwas unsagbar Stilles ruhte über dieser herrlichen Kastanienallee: ein Ton von einer hoffnungslosen Sehnsucht, etwas, das in sich so verschlossen war, dafs nichts imstande wäre, diese heilige, schweigende Abendmesse zu unterbrechen, ein Etwas, das man nicht einmal ausflüstern könnte, höchstens ausdrücken in der geheimnisvollen, tiefverborgenen und tiefinnersten Sprache: in der Musik. Er setzte sich in tiefem Nachdenken auf eine Bank. „Frühling! Frühling!" flüsterte er. Und weit und breit betteten sich vor seinen Augen seine heimatlichen Schollen. Juchhe, schon aufgeblüht sind die Rapsfelder mit ihren wohlriechenden Blüten; ein unendlich weit und breit ausgestreckter Teppich der jungen, grünen Saat bedeckt die Erde. Maistolz erblühen die Pappeln in silbernem Glanz, die Wiesen sind durchwebt von dem Gold der Ranunkeln, und an das hoch aufspriefsende Gras schmiegen sich fromme Anemonen an . . . Plötzlich empfand er furchtbare Sehnsucht nach seinem Vaterhause. — Jetzt möchte er dort sein, dort hausen und gehen und gehen die Felder entlang und all diesen Zauber in sich einatmen.
„Aber wozu?" sprach er in seiner Seele. „Überall Schmerz, Schmerz und Elend und das Elend, das auf den Kreuzwegen kauert." Aber immer noch konnte er sich nicht von der Vision seiner heimatlichen Scholle losreifsen. Wenn in tiefen, dunklen Nächten die Silberpappeln an den Wegen wie Gespenster, in weifse Laken gehüllt, den Menschen schrecken, — wenn aus dem Goplosee, dem polnischen Meere, die Wassernebel aufsteigen und sich in Schwaden gleifsend über die Wiesen gielsen und aus den Hütten der Torfarbeiter sich durch das Meer dieses Mondlichtglanzes die armen, kranken Fensterlichterchen mühselig durchkämpfen . . . Er sprang auf und ging schnell nach Hause. Plötzlich wurde es ihm klar. Die heimatliche Erde! Ja, ja, aus ihrem kotigen, lehmigen Boden, aus ihren schleimigen Torfgräben hat er das Gift gesogen, welches ihm jedes Gefühl zerfrifst und alles, ja, alles in Schmerzensqual verwandelt . . . Er dachte nach. Hat er sie jemals geliebt, — will er sich betrügen? Warum will er seine eigene Seele betrügen, belügen? „Wie konnte dieser eitle Pfau mein Herz umstricken?'' Eitelkeit hat sie gebunden, mit eisernen Fesseln an die Kinder gekettet — ja, ja! Er war berühmt, sie hatte den Reiz einer Frau, die von der Hand eines Mannes zum andern geht, und dies vermehrte die geheimnisvolle Stimmung, hinter welcher sich leider nicht das geringste Geheimnis verbarg, denn ihre Seele war eitel, flach und voll Eigendünkel. Les paons nonchalants . . . „O Seele, meine Seele, warum hast du mich so betrogen?" Und so folgten einige Jahre wüster Quälerei und einige Jahre boshafter Anstrengung, sich gegenseitig neue Qualen auszusuchen und sich wieder raffinierter zu nadeln, um sich zu sticheln . . . O, darin waren sie unübertroffen! . . . Und wie leicht schieden sie voneinander! Er sah sie vor sich, wie sie mit feindlichem, freehem Blick ihn mafs. „Jetzt weifs ich, dafs Sie mich nie geliebt haben. Ich erlöse Sie von dem schweren Joeh unserer Ehe." Und er kalt und ruhig: „Gnädige Frau, spielen Sie doch keine Komödie. Anfangs glaubte ich, dafs Sie es mit bewufstem Stolz getan haben, aber Sie sind feig wie die armseligste Wäscherin, Sie haben Ehebruch getrieben — all right — , aber sich vor sich selbst entschuldigen zu wollen, — es ist Scham und Schande." „Sie sind brutal!" „Warum? Vielleicht bin ich auch brutal; das eine nehme ich Ihnen übel, dafs Sie einen solchen Rotzbengel zum Geliebten gewählt haben. Sie haben recht: ich habe Sie tatsächlich nie geliebt; ich würde vollkommen einverstanden sein, wenn Sie sich einen meinesgleichen zum Geliebten wählen würden, aber dafs Sie, die ich einstens meine Frau genannt habe, auf den groben, dummen Leim eines dummen Rotzbengels eingehen — , das habe ich nicht erwartet!" Sie schlug die Tür zu. So sind sie auseinandergegangen. Jetzt fühlte er sein Haus rein und gut. Plötzlich: „Nur die Kinder, die Kinder, diese armen Waisen!" Er ging auf und ab und schämte sich vor sich selbst. „Was zum Donnerwetter, du wirst nicht zwei Kinder erziehen können, du willst dich durchaus in die Trauertoga einhüllen, wenn du weifst, dafs dies sogenannte Unglück für dich ein Glück ist?" O wie die Seele verlogen und boshaft ist!
Sie war doch für ihn nur Qual und Schmerz, — endlich hat er sich erlöst, und nun wollte er die Rolle eines verratenen Ehemannes schauspielern. „O nein, nein! Gott sei Dank, dafs ich mich nicht betrügen und belügen liefs. Endlich bin ich erlöst! O dieses herrliche Gefühl der Erlösung!" Er legte sich aul das Sofa und liefs seine trägen Angen müde an den Wänden hemmschweifen. Ringsherum hingen seltene Aquaforten von Goya, welche die wüstesten Hexensabbatszenen darstellten. Dort eine höllische, satanische Prozession, ein ineinandergewickeltes Chaos von Menschen, ineinandergewachsen in wüster Schamlosigkeit . . . Die Weiber in frecher Nacktheit, mit zerzaustem Haar, in furchtbarer Epilepsie, in unmenschlichen Kontorsionen der Glieder . . . Die Gesichter verunstaltet in ein wildes Wiehern des bestialischen Lachens, Stöhnens, ein Orkan von Schreien. Die Bestie im Menschen raste zügellos, der höllische Geschlechtstrieb bohrte sich in das Verlangen des lohheifsen Blutes, die Unzucht und der Wahnsinn stacheln die ganze Menge, stacheln die Menschen bis zum äufsersten Deliriumschmerz. Dort wieder der allmächtige Herr der Erde, der Vater der Bettler, der Elenden, der Verzweifelten, der Suchenden, der Vater jeuer, die da sündigen, die verzweifeln und sich auf bäumen, sitzt in furchtbarer Majestät auf einem riesenhaften Felsblock, gräfslich, ungeheuerlich, und zu seinen Füfsen, in tiefster, schreckerfüllter Andacht, kauert eine grofse Menschenmenge: seine unzählbare Parochie, die seinen Befehlen blindlings folgt. Er sitzt stolz in seiner hehren Majestät, weil er der einzige Herrscher über der Erde ist. Er beherrscht das Gehirn des Menschen und das ungeheure Reich des menschlichen Gedankens, der immer wieder von neuem die alten Werte und die alten Tafeln umstürzt, — er allein weckt in dem Menschen die Neugierde, um dunkle Rätsel zu lösen und in Sachen, welche dem Menschengehirn nicht gegeben sind, einzudringen, — er allein deutet die verborgen ruhende Nacht, er gibt den Mut, das Glück Tausender von Menschen zu zerstören, um ein neues Glück auf den Trümmern vernichteter Erden aufzubauen. — Er ruft im Herzen die verbrecherische Macht hervor, die in dem wutheifsen Verlangen, neue Daseinsbedingungen zu schaffen, die Erde durchglüht, die weitesten Fernen aneinanderrückt, die Himmelsweite zur Erde herabzieht, die Erdenreiche durcheinanderschüttelt wie die Würfel in einem Würfelbecher. Er, der gewaltige Machthaber über diesem Erdensein, verfolgt, verdammt; er, den man auszuroden versuchte, wächst hoch hinauf in den Himmel, in die Gewaltstätte dessen, der ihn hinabgeworfen hat; mächtiger und mächtiger schlägt er an die Himmelstore, und er, der immer besiegt wird, bleibt immer Sieger. Und sein Name ist Schmerz und Qual. Schmerz und Qual ist das Leben. Und sein Name ist das Böse, denn jeglicher Schmerz gebiert das Böse, und seine Wurzeln stecken in dem Urelemente des Bösen. Und plötzlich sah er den Satan, wie er die ganze Welt umkreiste, wie er sie mit seinen Krallen umfafste, wie er sie vergiftete, wie er eindrang in die Paläste der Reichen und in die Hütten der Armen, welche Karnevalsquadrillen er in der Kirche feierte, wie er in Gerichtssälen hohnlachend den Richtern ins Gesicht spie, wie er alle Verhältnisse löste, Hafs, Zank und Zorn unter die Menschen säte. Denn sein Name ist eine ewige Umwandlung, Ebbe und Flut, ewige Zerstörung und ewige Wiedergeburt. „Herr, erbarme dich unser, sei uns gnädig, o Herr! Von allem Übel, von aller Sünde, von deinem Zorne, von einem jähen und unversehenen Tode, von den Nachstellungen des Teufels, der hinterlistig mein Haus umschleicht, erlöse uns, o Herr!" Czerkaski ging im Zimmer lange auf und ab.
Die Gedanken zogen träge und schwer durch sein Hirn, wie bleierne Schwaden zerrissener...