Raab | Die Netzwerk-Orange | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Raab Die Netzwerk-Orange

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

ISBN: 978-3-903081-01-7
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Wir befinden uns in der Hauptstadt eines Unionsstaats im Jahr 2025. Die Gesellschaft funktioniert, der Einzelne fühlt sich einzeln. Doch kleine Verbesserungen tun immer Not. Der ehemalige Psychologieprofessor Franzer, nun mehr Ministeriumsbeamter, versucht seine Lieblingsstudentin zu überzeugen, an seinem Projekt eines automatischen Netzwerk-Therapeuten, dem Cyberpeuten, der Hilfesuchende mit Lehrfabeln versorgt, mitzuarbeiten. Dazu durchwandern sie wie in einem Tableau vivant eine in soziale Segmente gesplittete Welt - die Netzwerk-Orange. Doch eine Gruppe Studierender ist unzufrieden. Jack, Caren und Cathy ahnen, dass hinter der perfekten Fassade der Union geheime Mächte Angebot und Nachfrage steuern.

Utopie oder Dystopie? Oder schon Realität? Die Netzwerk-Orange stellt die Frage, was in der "Verhaltensbox" Welt vom Einzelnen bleibt, wenn man die stabilisierenden Einflüsse des Netzes abzieht. In nüchtern-bürokratischem Stil und mit viel Ironie schreibt sich Thomas Raab auf die literarische Bühne zurück und versucht, die Aufgabe der Gesellschaftsbeschreibung von Soziologie und Ökonomie für die Literatur zurückzuerobern.
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nächsten Automatenkaffee fahren lassen musste, weil sein Kleist-Kafka-Seminar umgehend beginnen sollte. „Ich muss los“, meinte Bachmann zu Wachmann, als er bereits drei Schritte entfernt auf dem Weg zum Seminarraum war. Die weiße Wand, bekritzelt, Linoleumboden. Nach wenigen Schritten drehte sich Kollege Bachmann kurz um und rief dem zurückbleibenden Wachmann zu: „Also dann: Kontakt! Ich würde dich gerne einmal zu mir einladen. Meine Frau hat, glaube ich, deinen letzten Roman gelesen!“ Wachmann war wortlos. Nun waren sie offenbar für immer per du. Als Bachmann endgültig am Ende des Korridors verschwunden war, drückte er sich doch noch einen letzen Kaffee vor seinem Kurs. Der Automat funktionierte. Obwohl gemeinhin zu allen Ideologien auf Distanz, neigen die Postmateriellen aufgrund der von ihnen erkannten großen Zusammenhänge zu einem ganzheitlichen Weltbild. Sie erkennen zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen Psyche, Körper und Geist. Daher sind sie nicht nur die Vorhut des traditionellen Wellness-Trends, sondern auch der Neuen Gerechtigkeit. Die Postmateriellen streben nach Harmonie in allen Lebenslagen. Wachmann stand in seinen Hush Puppies vor dem Automaten und trank. Seine Studenten würden bestimmt nicht auf Pünktlichkeit Wert legen, dachte er vielleicht. Im Gegenteil, man würde von ihm nicht Pedanterie, sondern Nachlässigkeit erwarten. So hatte er das Manuskript einer Musterfabel aus seinem Ranzen gezogen und las es noch einmal durch, da er es wohl der Klasse – nach der Einführung zu Äsop – als Vorlage präsentieren wollte. Da eilte eine vorderhand fein geformte Studentin am Kaffeeautomaten und also an Wachmann vorbei. Sie trug ein gelbes American-Apparel-Benetton-V-Neck-Shirt, das dem aufmerksamen, ehemals freien Autor nicht entgehen konnte. Wachmann ließ Kaffeebecher und Manuskript sinken. Ihre Blicke trafen sich kurz. Dies war augenscheinlich keine Germanistikstudentin, lautete bestimmt sein Urteil, denn wie viele Schriftsteller hatte er natürlich ein feines soziales Gespür. Auch er war im Übrigen noch fein geformt. Die Studentin verschwand in Richtung der Seminarräume. Nach einigen Augenblicken des vermeintlichen Sinnierens las Wachmann weiter: Designer als Einzeller verstanden
Paramecium caudatum Sieht der Pantoffel über Monate hinaus immer ähnlich aus, drängt es den Designer zur Umformung des Produkts. Umformen, in Grenzen betrieben, heißt Überleben – in einem Milieu, das sich der Umformung immerzu zu widersetzen droht, sie im Grunde seiner Chemie jedoch braucht. Der Pantoffel befindet sich in einem Showroom in Paris, der in der Nähe der Location der Fashion Week gelegen sein muss. Auch der Bäcker darf sein Brot nicht immer gut und schön finden. Lässt die Nachfrage nach demselben nach, meldet sich der CEO des Bäckers flugs per Handy im Bio-Vertrieb. Dieser stellt ein völlig neuartiges Mehl zur Verfügung, aus dem der Bäcker den neuartigen Dinkelwecken formt. Das völlig neuartige Mehl existiert, weil die Großbäckerei des von allen Zollschranken befreiten Nachbarlandes es bereits vor Monaten geordert hat. Findet diese einen billigen Transporteur, wird der Bäcker auch seinen neuen Dinkelwecken nicht mehr gut und schön finden dürfen, da der vergleichbare Dinkelwecken im nahegelegenen Supermarkt um 15% billiger ist. Wieder steht ihm ein Relaunch ins Haus; der CEO greift abermals zum Mobiltelefon. Der Netzdesigner Kurt atmet derweil auf. Seine für den Relaunch der Bank erstellten Entwürfe wurden vom Vorstand genehmigt. Die Projektsumme ist so hoch, dass er sogar seine Programmiererfreunde beauftragen wird können, Teile der Homepage als Subunternehmer auszuführen. Vier Tage und vier Nächte hat er durchgearbeitet, jetzt ist sein inneres Milieu auf einem niedrigen Energieniveau. Der Netzdesigner öffnet sich deshalb ein Bier. Er wird heute früh zu Bett gehen müssen, um morgen sein großes Unterfangen, dessen Remuneration ihm ein halbes Jahr Überleben sichern wird, in Angriff zu nehmen. Der in der Bank beschäftigte Aktienmanager sorgt sich einstweilen um die Performance seines Anlagefonds namens Global Equity Raid. Dennoch wird er nicht alle kursinstabilen oder im Beobachtungszeitraum wertseitig gefallenen Papiere aus dem Fonds nehmen, da ein guter Fondsmanager nur etwa 10% derselben nach Gefühl kaufen und halten sollte. Ohne diese Anlageunsicherheit wäre zwar das Risiko geringer, doch ebenso die Wahrscheinlichkeit der vom CEO geforderten Rendite. Der CEO gestaltet derweil einen sprachlich ansprechenden Geschäftsjahresbericht. Die Biotechnikerin optimiert Form und Größe der neuen Ananas. Sie wird von der Werbefirma um so leichter zu vermarkten sein, als die Ananas schon sehr lange gleich aussieht. Besonders die Größe jener Ananasse, die in der Union gehandelt werden, hat sich auf ein Normmaß eingependelt. Die neuartige Ananas der Biotechnikerin wird nicht nur blau, sondern auch viel kleiner oder größer sein. High-Profile-Design heißt Mikrochirurgie, das Anmessen der individuellen Prothese. Der Neurochirurg bohrt als Designer ein kreisrundes Loch in die Schädeldecke, um eine elektrische Sonde in den Nucleus accumbens einzuführen, weil er gehört hat, dass dort die Depression verschaltet ist. Wachmann grunzte zufrieden. Die Ironie des Werks war merklich, die Interessen der derzeit Studierenden berücksichtigt, die Stoßrichtung der Polemik gegen jene anderen gerichtet, die wohl auch für die Studenten andere sein würden. Wachmann schob das Manuskript zurück in seinen Ranzen – zwischen seinen letzten Roman über Geschlechterrollenverschiebungen in der Großstadt und den Band „Konstruktive Unternehmensmodelle“, den ihm seine Bankberaterin am Vortag als Dank für seine langjährige Kontotreue überreicht hatte. Vielleicht hatte sie, die ihn noch aus seiner Zeit als freier Unternehmer-Dichter kannte, sich sogar etwas dabei gedacht … *** Jack, Cathy und Caren hatten verabredet, sich eine Stunde vor dem Creative-Writing-Seminar im Café Lush gegenüber der Uni zu treffen. Sie waren offenbar nicht aufgeregt, wollten sich auch nicht vorbereiten, da man sich bekanntlich auf kreatives Schreiben nicht vorbereiten konnte – so stand es in allen Poetikvorlesungen der Welt. Zudem galt ihr Wollen vorderhand einzig dem Schein und dem Spaß, dabei zu sein. Ihre xPhones hatten sie vor sich auf dem Caféhaustisch abgelegt. Die freudige Stimmung eines Vormittags. Jack (23) war der einzige rechtmäßige Sohn eines Anwalts Mayer sowie dessen Gattin, die Teilzeit in einer Unternehmensberatungsfirma arbeitete. Die Eltern bewohnten eine Villa in einem wohlhabenden Stadtbezirk, die Jack nur noch ab und zu besuchte. Jack hieß ursprünglich Johann, wollte aber Jack genannt werden. Sein Vater eignete eine Bibliothek mit 3.000 Bänden, die nicht ausschließlich den Fachgebieten Rechtswissenschaft und sonstige Sachbücher zugeordnet werden konnten. Nein, die Bibliothek von Jacks Vater hatte auch ein Belletristikregal, dem Jack seit Kindertagen immer wieder Bände entnahm, um so seine natürliche Neigung zum Schönen zu vervollständigen. Der Zauber der Bücher wurde noch durch ein Aquarium verstärkt, dessen bunte Fischchen Jack schon als Junge so gerne beobachtet hatte. Nun aber trat er bisweilen als wankelmütiger Charakter auf und besuchte einmal pro Woche einen Meditationskurs. Er studierte wohl auch deshalb Literaturwissenschaften im zehnten Semester. Die freudige Stimmung eines Vormittags in der Union. Cathy (23) trug ein gelbes T-Shirt und war die Tochter einer Beratungsfirmengründerin namens Tertschik, die mit Anwalt Mayers Gattin befreundet war. „Meine Mutter hat gerade ein Buch herausgebracht“, sagte Cathy, nachdem sie sich mit den anderen an den Tisch gesetzt hatte. Jack und Caren nickten. Cathys Taufname war Katharina, doch hatte sich Cathy eingebürgert. Jack und Caren waren gewohnt, Katharina mit Cathy anzusprechen. Auch Cathys Mutter, die seit langem geschieden war, lebte in einer Villa in einem wohlhabenden Stadtbezirk. „Und, ist es ein gutes Buch?“ fragte Caren. Laut § 531 des noch vollgültigen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811 ist das Erbrecht „das ausschließende Recht, die ganze Verlassenschaft, oder einen in Beziehung auf das Ganze bestimmten Teil derselben (z.B. die Hälfte, ein Drittteil) in Besitz zu nehmen. Es ist ein dingliches Recht, welches gegen einen jeden, der sich der Verlassenschaft anmaßen will, wirksam ist. Derjenige, dem das Erbrecht gebührt, wird Erbe und die Verlassenschaft, in Beziehung auf den Erben, Erbschaft genannt.“ Cathy wusste dies bestimmt, studierte sie doch Rechtswissenschaften im Masterstudiengang. Die freudige Stimmung eines Vormittags in unsrer Union. Caren (23) zuletzt, bürgerlich Karin, studierte...


Thomas Raab, *1968 in Graz, ist Autor, Übersetzer und Herausgeber mit naturwissenschaftlichem Hintergrund. Er lebt mit seiner Familie in Wien. Sein erster Roman Verhalten erschien 2002 in Köln. Er führte zu zwei Literaturpreisen und einer Einladung zum Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettlesen 2004. Raab erhielt mehrere Wissenschafts- und Literaturstipendien und hat bisher drei Einzelwerke verfasst, zuletzt 2008 den Essay Avantgarde-Routine. Seit 2013 ist er Schreiblehrer an der Kunstuni Linz.

www.nachbrenner.at


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