E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Raabe Der längste Schlaf
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-27744-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-27744-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Leben der jungen Wissenschaftlerin Mara Lux dreht sich fast alles um das Thema Schlaf. Die Wahl-Londonerin ist eine führende Forscherin auf diesem Gebiet, gleichzeitig leidet sie selbst seit vielen Jahren unter quälender Insomnia. Sie fürchtet ihre Träume, die bisweilen auf unerklärliche Weise in die Wirklichkeit zu schwappen scheinen. Mara, die nicht nur durch und durch rational ist, sondern die auch gerne alles unter Kontrolle hat, macht das sehr zu schaffen.
In Deutschland ist sie fast nie, ihre Eltern sind früh gestorben, deshalb ist Mara nicht wenig überrascht, als sie eines Tages eine Nachricht von einem Notar aus Frankfurt erhält: Jemand möchte ihr ein großes, altes Herrenhaus in der deutschen Provinz vermachen, und zwar anonym. Mara glaubt an eine Verwechslung – und reist dennoch, neugierig geworden, in die ihr fremde Kleinstadt, um sich das Ganze anzusehen. Erstaunt muss sie feststellen, dass sie durch ihre Träume mit diesem Ort auf seltsame Weise verbunden ist.
Der neue Roman von Melanie Raabe – über Schlaf und Schlaflosigkeit, über Träume und die Geister der Vergangenheit, über Geheimnisse und den Verlust geliebter Menschen, übers Innehalten und Weitermachen.
Autoren/Hrsg.
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eins
Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Schlaflosigkeit längst ein Teil von mir ist. Dass sie zu mir gehört wie meine braunen Augen, meine Vorliebe für Blumen, warme Croissants und gute Bücher oder meine Abneigung gegen Angeber, Zyniker und Rosenkohl. Ich atme tief ein und aus und versuche, mein übermüdetes Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Es ist unerträglich heiß in der U-Bahn.
Die Tage werden schon seit Langem merklich kürzer, aber die Hitze hat den Hochsommer überlebt. London fühlt sich seltsam an in diesem September, die Schatten werden länger, ich rieche den Herbst bereits in der Luft – doch er kommt nicht. Ich spüre, wie mir mein T-Shirt am Rücken klebt, und bin froh, dass ich mich entschieden habe, das Kostüm für meine Präsentation nicht schon am Morgen anzuziehen, sondern es in einem Kleidersack mitzunehmen. Ich sage »das Kostüm«, weil ich mir in dem teuren, dunkelblauen Anzug von Ralph Lauren, den ich mir eigentlich absolut nicht leisten kann, einigermaßen verkleidet vorkomme. Normalerweise trage ich immer dasselbe: Jeans, ein weißes T-Shirt und – wenn es kühl ist – dazu einen lockeren schwarzen Blazer. Dazu mein unverhandelbarer roter Lippenstift, mein Markenzeichen, meine Kriegsbemalung – und fertig. Ich habe mich früh dazu entschieden, mich nicht mit Nebensächlichkeiten wie Kleidung oder aufwendigem Make-up aufzuhalten, und so hängen in meinem Kleiderschrank acht Paar Jeans, sechzehn weiße T-Shirts und vier verschiedene schwarze Jacketts. Ich betrachte den Kleidersack auf meinem Schoß. Es waren meine besten Freundinnen, die mich dazu gedrängt haben, mir ein besonderes Outfit für meinen Vortrag zuzulegen, und irgendwie landeten wir bei Harrods, und irgendwie drückten sie mir diesen Anzug in die Hand und jubelten, als ich damit aus der Umkleidekabine kam, und ihre Freude war so hinreißend, dass ich mich anstecken ließ.
Erschöpft schließe ich für einen Moment die Augen. Ich habe in den letzten Nächten erneut kaum ein Auge zugetan. Mein Körper fühlt sich schwer an, mein Kopf hingegen seltsam leicht. Ich schlafe seit Jahrzehnten schlecht, was einigermaßen ironisch ist, wenn man mein Forschungsgebiet bedenkt, und rund um den Todestag meiner Eltern, der ausgerechnet auf meinen Geburtstag fällt, den ich seither nie wieder gefeiert habe, ist es immer besonders schlimm. Ich bin natürlich nicht allein mit meiner Schlaflosigkeit, und ganze zwei Drittel aller Erwachsenen bekommen Nacht für Nacht weniger als die empfohlenen acht Stunden. Allerdings weiß ich besser als die meisten, was der permanente Schlafentzug für Körper und Seele bedeutet: Die Tatsache, dass ich die vergangenen Nächte damit verbracht habe, mich im Bett herumzuwälzen, hat schon jetzt verschiedene unangenehme Effekte herbeigeführt. Mein Herz schlägt schneller als sonst, mein Blutdruck steigt. Die Gefahr, irgendwann an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, erhöht sich mit jeder schlechten Nacht, ebenso mein Risiko für Diabetes und Alzheimer. Mein Immunsystem arbeitet nicht mehr effizient, meine Blutzuckerwerte sind gestört. Und das sind nur die Auswirkungen auf meinen Körper. Die auf meine Psyche sind ähnlich verheerend: Mangelnder Schlaf trägt zu allen psychiatrischen Erkrankungen bei, die wir kennen, allen voran Depression.
Ich weiß diese Dinge. Ich bin Neurowissenschaftlerin und befasse mich vorrangig mit Schlaf. Allerdings bräuchte ich weder all die Fachliteratur in meinem Arbeitszimmer noch meinen Doktortitel, um zu begreifen, dass tagelange Schlaflosigkeit keine gute Sache ist, denn: Ich fühle mich absolut grauenhaft.
Ich öffne die Augen, als ich spüre, dass ich jetzt und hier einschlafen und dann womöglich meine Station verpassen könnte, blinzele angestrengt, versuche, meinen Blick scharfzustellen. Schaue mich um im Abteil. Da ist eine hochschwangere Frau mit Kinderwagen, deren vielleicht anderthalbjähriges Mädchen mich neugierig ansieht. Ich schenke der Kleinen ein Lächeln, und sie strahlt zurück. Sie und ich sind die Einzigen in diesem Waggon, die nicht auf ein Display schauen, und ich schneide ein paar Grimassen für sie, was sie wahnsinnig zum Lachen bringt, bis sie schließlich, eine Station vor mir, mit ihrer Mutter aussteigt.
Die Underground holpert mich meinem Ziel entgegen, und als ich die Treppen Richtung Ausgang nehme und schließlich das Licht der Welt erblicke, da ist es kurz so, als sähe ich das alles hier zum ersten Mal. Die geduldigen Wasser der Themse, die unaufgeregt durch diese hektische Stadt fließen, die Tower Bridge, die schon um diese Zeit Menschen mit Handykameras anzieht. Auf meinem Weg zum King’s College, der Universität, an der ich einst studiert habe und nun selbst forsche und lehre, bleibe ich kurz stehen und sehe mich um. Versuche, diesen Moment festzuhalten. Aus dem ahnungslosen Mädchen aus der deutschen Kleinstadt, der jungen Studentin, die mit einem viel zu knapp bemessenen Stipendium und großen Hoffnungen in die Stadt kam, ist eine renommierte Forscherin geworden, die ihre Arbeit heute auf einer Plattform präsentieren darf, die sie potenziell Millionen Menschen auf der ganzen Welt zugänglich machen wird. Die berühmte TED-Konferenz fand bisher alljährlich in Vancouver statt. Dass die Veranstaltung dieses Jahr einen europäischen Ableger bekommt, stellt eine Premiere dar. Alle sagen mir seit Monaten, dass meine Teilnahme eine riesengroße Sache ist. Als wüsste ich das nicht selber.
Ich reiße mich vom Postkarten-London los und setze meinen Weg fort, halb, weil es zu heiß ist, um sich freiwillig in der Sonne aufzuhalten, halb, weil ich nicht so der sentimentale Typ bin und mich nicht besonders gerne mit früher beschäftige. Ich bin seit fünfzehn Jahren in der Stadt, ich bin gekommen, geblieben und habe nie einen Blick zurückgeworfen. Ich stecke Shawn, dem bärtigen Obdachlosen, der mit seinem Schäferhund an der Straßenecke sitzt, ein paar Pfund in den Pappbecher, bleibe kurz stehen.
»Wird heiß heute«, sage ich. »Brauchst du ein Wasser oder so?«
Er schaut mich an, freundliche braune Augen in einem wettergegerbten Gesicht.
»Der längste Sommer und der letzte«, sagt er.
»Wie meinst du das?«
»Genau wie ich es sage«, antwortet er. »Der längste Sommer und der letzte.«
Ich will gerade etwas erwidern, als ich bemerke, dass sein Hund sich aufgesetzt hat und intensiv etwas anstarrt, das sich direkt hinter meinem Rücken zu befinden scheint. Instinktiv drehe ich mich um, doch dort ist nichts. Auch Shawn starrt nun auf einen Punkt irgendwo hinter mir, einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht.
»Alles okay?«, frage ich, erhalte jedoch keine Antwort.
Stirnrunzelnd hole ich eine kleine Flasche Wasser aus meiner Tasche, die ich ohnehin nicht brauche, weil ich im Büro auch einfach Leitungswasser trinken kann, und stelle sie ihm hin.
Ich eile vorbei an Studierenden, die in die Bibliotheken schwärmen, vorbei an den , die manchmal gleich ein ganzes Rudel großer und kleiner Hunde ausführen oder von ihnen ausgeführt werden, man weiß es bisweilen nicht so genau. Ich durchquere den Park, vorbei an den schlafenden Männern auf der Wiese, an den Seniorinnen, die im Schatten Tai-Chi üben und deren fließende Bewegungen ich fast jeden Morgen bewundere, vorbei an den Grüppchen brauner Nannys, die in teuren Kinderwagen weiße Kinder vor sich herschieben. Ich biege ein in die Straße, die zu dem Gebäude führt, in dem mein Büro liegt, ignoriere den Baulärm, ignoriere das aggressive Gehupe eines Taxi-Fahrers, der mit einem anderen Autofahrer aneinandergeraten ist, ignoriere den Lärm, den ein vorbeifahrender Feuerwehr-Löschzug verursacht, und erreiche mein allmorgendliches Ziel. Als ich an dem Foodtruck vorbeikomme, der in der Früh Bagels und tagsüber Sandwiches anbietet, hebe ich grüßend die Hand in Richtung von Rami, der ihn betreibt und der mir normalerweise mein Frühstück verkauft: einen schwarzen Kaffee und dazu ein oder zwei Bagels, die ich für gewöhnlich oben am Schreibtisch zu mir nehme, während ich meine E-Mails beantworte. Ich bin so auf dieses Ritual konditioniert, dass mein Magen augenblicklich anfängt zu knurren, als ich Rami sehe. Und das, obwohl ich ausgiebig gefrühstückt habe. Aber so ist das eben bei mir: Ich kann immer essen. Ich liebe meine Arbeit, meine Freundinnen und Freunde, klare Definitionen und den Duden, roten Lippenstift und: Essen, da kann man nichts machen.
»Hey Rami«, sage ich. »Wie geht’s dir heute Morgen?«
Gleich wird er antworten, dass er zu viel zu tun hat und dafür zu wenig Geld bekommt, und ich liebe diesen ritualisierten kleinen Austausch, den wir hier jeden Morgen, Montag bis Samstag, aufführen.
»Viel Arbeit, wenig Geld«, sagt Rami, verdreht scherzhaft die Augen.
Ich grinse.
»Und wie geht’s dir?«
»Es muss ja«, antworte ich auf Deutsch.
ist einer von mehreren deutschen Sätzen, die ich Rami in den letzten Jahren beigebracht habe und sein absoluter Favorit. Er lacht.
»Das Übliche?«, fragt er schließlich, als sich eine weitere Kundin nähert.
Ich beschließe, mich zusammenzureißen.
»Heute nur einen Kaffee bitte, ich habe schon gefrühstückt.«
Er schaut beleidigt, sagt aber nichts. Ich nehme meinen Kaffee und lege ein paar Pfund auf den Tresen. Ich liebe es, dass ich bei Rami noch mit Bargeld bezahlen kann, wenn es ihn nicht gäbe, wüsste ich gar nicht mehr, wie sich das anfühlt.
»Und war dein Frühstück so gut wie meine Bagels?«,fragt er schließlich.
»Nicht mal annähernd«, sage ich und werfe einen begehrlichen Blick auf das...