Radzeviciute / Radzeviciute | Das Blut ist blau | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Radzeviciute / Radzeviciute Das Blut ist blau


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7017-4604-0
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4604-0
Verlag: Residenz
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Das Adelsgeschlecht von der Borch war nicht minder einflussreich und machtgierig als ihre italienischen Verwandten, die berühmten Borgia. An der Schwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit kämpft Bernhard von der Borch, Landmeister des Deutschritterordens, in Livland um den Erhalt seiner Macht, er will einen neuen Kreuzzug ins Leben rufen - doch die Zeiten der Ritterlichkeit sind vorbei. Undiné Radzevi?i?t?, in deren Adern das blaue Blut der Borchs fließt, folgt ihrer eigenen Familiengeschichte und erzählt fesselnd und gewitzt vom Kampf der letzten Ordensritter um ihre Vormachtstellung. Wird es Bernhard von der Borch gelingen, sich mit Putsch und Intrige in einer Welt zu behaupten, die bereits in Auflösung ist?

Undiné Radzevi?i?t?, geboren 1967 in Vilnius, studierte an der Kunstakademie Vilnius Kunstgeschichte, Kunsttheorie und -kritik. Sie arbeitete als Art director für Werbefirmen wie Saatchi & Saatchi. 2003 erschien ihr erster Roman 'Strekaza', 2011 und 2013 kamen ihre Werke auf die litauische Shortlist der besten Bücher des Jahres sowie auf nationale Bestenlisten. 2015 gelang ihr der Durchbruch mit dem Roman 'Fische und Drachen' (dt. 2017, Residenz Verlag), der mit dem EU-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen: 'Das Blut ist blau' (2019). Derzeit ist sie Stipendiatin der Villa Concordia in Bamberg.

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Meine Tante Liucina ruft meine Mutter an und sagt, dass Undiiine, das bin ich, auf alles pfeift. Zu Hause nennt man mich so. Aus unbekannten Gründen dehnen alle dieses kurze i zu einem langen iii. Die anderen sprechen meinen Namen anders aus, daher fällt es mir nicht schwer, meine Sippschaft von den Fremden zu unterscheiden. Tante Liucina ruft also meine Mutter an und erklärt: »Undiiine pfeift auf alles.« »Nicht auf alles«, sagt meine Mutter. Ich weiß nicht, warum sie das sagt. Weil sie mich besser kennt? Weil Mütter ihre Kinder verteidigen müssen, was auch immer geschieht? »Auf alles!«, ereifert sich Tante Liucina. »Sie schert sich überhaupt nicht um ihre Familie. Soll sie doch ihren ganzen Unsinn …« Danach sprechen sie zwei Monate nicht miteinander. Obwohl das nicht gerade sehr vernünftig ist: Sie sind beide über siebzig, und jedes Gespräch kann das letzte sein. Wenn Tante Liucina sagt, ich schere mich überhaupt nicht um die Familie, dann meint sie, dass ich keine Ahnenforschung betreibe. In unserer Familie bedarf es nicht vieler Worte, um zu begreifen, wer was sagen will. »Sie hat es doch am meisten nöt …«, versucht Tante Liucina zu argumentieren. Nachdem sie gesagt hat, dass ich das alles doch am meisten nötig hätte, sprechen Mutter und Tante zwei weitere Monate nicht miteinander. Wenn meine Mutter sehr böse auf mich ist, sagt sie, ich sei eine »richtige« Liucina! Eine richtige! In jeder Hinsicht. Und jeder Tag sei ein neuer Beweis dafür. Dass es nun einmal so ist. Und ich verteidige mich, dass es nicht so ist, nicht in jeder Hinsicht, denn im Gegensatz zu Tante Liucina verschwende ich gerne Geld. Ich spüre es ständig: Im Blut und in den Beziehungen unserer Familie sind Spuren eines eigenartigen Gifts, und es ist nicht so, dass uns jemand vergiftet hätte, sondern eher, dass wir das schon selbst tun. Und dieses Gift ist vor langer Zeit in unser Blut gelangt. Vor so langer Zeit, dass es sogar zu einem Teil unserer Gene geworden ist. Ich wundere mich ständig über zwei Sachen. Die erste: In unserer Familie hat sich nie jemand wegen »Was werden die Leute sagen?« aufgeregt. Das lag nicht daran, dass alle Familienmitglieder darauf aus gewesen wären, irgendwelche Grenzen zu überschreiten, sondern daran, dass wahrscheinlich der Ausgangspunkt ihrer Weltsicht ein anderer war. Die zweite, traurigere Sache: Jeder in der Familie hatte seine ganz eigene Vorstellung vom Leben, jeder ging seinen eigenen Weg und wollte die Gefühle der übrigen Familienmitglieder überhaupt nicht verstehen. Wenn ich zurückdenke, so scheint mir, als führte mein ganzes Leben zum Zusammentreffen mit meinen Vorfahren, und viele Details meines Lebens erscheinen mir jetzt als Vorzeichen dafür. Ich weiß nicht, wann das alles begonnen hat: vielleicht, als die Großmutter ein altes Fotoalbum aufschlug und mir meine Mutter zeigte? Damals war ich fünf. Oder als ich träumte, ich sei ein alter Mann. Etwa vierzig Jahre alt. Ich liege auf einem Schlachtfeld in einer Rüstung und einem Panzerhemd. Ich liege auf der linken Seite, sterbe und weine. Damals war ich sechs. Meine Familie ist aus Kurland nach Litauen gekommen. Aus Mitau. Im Jahr 1919. Mitau war bis dahin die Hauptstadt von Kurland gewesen, eine Stadt, für die sich so berühmte europäische Abenteurer wie Casanova und Graf Cagliostro eigentlich nicht interessierten. Doch sie hatten in Mitau etwas zu tun. Jetzt wird das Gebiet von Kurland mit einem Wort bezeichnet, das an ein polnisches Schimpfwort erinnert, und Mitau ist zu Jelgava geworden. Aus diesem Grund ist die Ahnensuche in unserer Familie keine so einfache Angelegenheit. Und wenn Tante Liucina zu meiner Mutter sagt: »Undiiine pfeift auf alles.« Dann sage ich zu meiner Mutter: »Wollt ihr, dass ich ganz Kurland mit einem Spaten umgrabe?« »Eine richtige Liucina«, sagt meine Mutter. Um die Wahrheit zu sagen, die Ankunft meiner Familie in Litauen war nicht berauschend, obwohl sie mit einem Waggon voller Möbel ankamen. Diese »Ankunft« gilt in unserer Familie als die größte Tragödie. In den letzten hundert Jahren. Darum sind einige Mitglieder unserer Familie, meine Mutter inbegriffen, kategorisch dagegen, dass über dieses Thema gesprochen wird. »Da soll man nichts aufwühlen!«, sagt meine Mutter. Wenn ich das in irgendeinem Interview erwähne und sie dieses Interview liest, ruft sie sofort besagte Tante Liucina und auch noch Tante Irena an, um sich über mich zu beklagen. Doch Tante Irena sieht darin nichts Schlimmes, sondern nur eine neue Attraktion. Und für Tante Liucina dient jedes Ereignis ihren eigenen Interessen. Tante Liucina ist die älteste Schwester und meint, sie habe das Recht, meine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, was ein jeder zu tun und wie er zu leben habe. Und wohin alle zu schauen und was sie zu sehen haben. Und mit wem sie befreundet sein sollen. Also war die Ankunft der Familie in Litauen keine einfache Ankunft. Sondern die größte Tragödie. Das lag nicht daran, dass es nach Litauen ging. Sondern daran, dass sie Mitau verlassen mussten, weil zu dieser Zeit in den Straßen von Mitau ein Bürgerkrieg zwischen dem späteren lettischen Präsidenten Ulmanis und den deutschen und russischen Sozialisten herrschte. Und niemand wollte versehentlich erschossen werden. Vor allem mein Urgroßvater, ein charmanter Abenteurer aus Litauen, der schön sprechen konnte – so zumindest erscheint er in den Erinnerungen der Familie – und der meine Urgroßmutter Klementina Savicka-Savicz auf betrügerische Weise geheiratet hatte. Durch einen Betrug, den unsere ganze Familie noch immer nicht verzeihen kann, ungeachtet der Tatsache, dass es, wenn er sie nicht reingelegt hätte, auch uns nicht gäbe. Der Schwindel betraf die Größe des Hofes. Der künftige Urgroßvater sagte der künftigen Urgroßmutter, er habe einen Hof, na was denn, ein Schloss! Aber in Litauen. Er legte die Geige hin, beugte sich vor und sagte es. Natürlich hatte er überhaupt keinen Hof, er hatte nur den Eindruck erweckt. Als hätte er einen. Und er heiratete die vornehme Deutsch-Polin noch vor der Revolution, und nach der Revolution wusste er nicht mehr, was er machen sollte. Kurland hatte bis dahin zum Russischen Reich gehört, daher wurden die Straßen nach der Revolution überschwemmt von nasebohrenden Kommissaren mit Revolvern und Regenmänteln, die aus Leder waren, damit sich das Blut leichter abwaschen ließ. Doch warum hat meine Urgroßmutter Klementina meinem Urgroßvater vertraut? Vielleicht, weil sie sanft und leichtgläubig war? Oder vielleicht, weil ihr bis dahin kein einziger Abenteurer aus Litauen untergekommen war? Oder vielleicht, weil sie Witwe war, bereits vier nicht mehr ganz kleine Kinder hatte und unbedingt jemandem vertrauen wollte? Auf dem Foto vor der Begegnung mit meinem Urgroßvater wirkt sie so schön, so strahlend und stolz, und nicht einmal die vier neben ihr stehenden, herausgeputzten Kinder scheinen ihr Mühe zu bereiten. Auf dem zweiten Foto ist meine Urgroßmutter Klementina etwas älter und bereits zum zweiten Mal verheiratet. Mit meinem Urgroßvater. Sie sitzt in einer gestreiften Jacke da, eine Straußenfeder am Hut, und vor ihr auf einem Tischchen sitzt ihr weiß gekleideter, etwa dreijähriger Sohn in nagelneuen Schuhen mit dunklen Spitzen. Es gibt noch ein Foto. Das letzte. Sie sitzt auf irgendeinem quadratischen Hocker, nicht in einem prächtigen Fotoatelier, sondern im Freien, und von ihrem Gesicht kann man ablesen, dass in ihrem Leben etwas Schreckliches passiert ist. Die beiden ersten Fotos wurden in Mitau gemacht, das dritte bereits in Litauen. Sie kam mit einem Waggon voller Möbel nach Litauen. Und mit sieben Kindern. Vier aus der ersten Ehe und drei aus der zweiten. Nahe dem Städtchen Kedainai stand ein leerer Hof, über den mein Urgroßvater gut informiert war … und in den zogen sie. Als wäre es sein eigener. Nach einer Woche wurden sie von dort...


Undiné Radzeviciute, geboren 1967 in Vilnius, studierte an der Kunstakademie Vilnius Kunstgeschichte, Kunsttheorie und -kritik. Sie arbeitete als Art director für Werbefirmen wie Saatchi & Saatchi. 2003 erschien ihr erster Roman "Strekaza", 2011 und 2013 kamen ihre Werke auf die litauische Shortlist der besten Bücher des Jahres sowie auf nationale Bestenlisten. 2015 gelang ihr der Durchbruch mit dem Roman "Fische und Drachen" (dt. 2017, Residenz Verlag), der mit dem EU-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen: "Das Blut ist blau" (2019). Derzeit ist sie Stipendiatin der Villa Concordia in Bamberg.



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