E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Raether Disko
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-27772-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-27772-7
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1975 in der norddeutschen Provinz: Nach dem Tod ihrer Mutter hält die 14-jährige Beeke nichts mehr auf dem tristen Hof ihrer Eltern, sie flüchtet mit dem Zug nach München. Hier soll ihr älterer Bruder seit Jahren ein wildes, freies Leben führen - und zwar als Disko-Produzent. Was das genau ist, weiß Beeke nur vage. »Du hast damals geschrieben, dass in München ein ganz neuer Sound entsteht, Munich Sound. Das sei das ganz große Ding.« In München spürt sie die fiebrige Aufbruchstimmung, tagsüber schläft sie, nachts sucht sie in Diskotheken nach ihrem Bruder. Doch als sie ihn endlich findet, ist die Situation ganz anders, als sie es sich vorgestellt hat. Und dann erfährt Beeke, warum sich ihr Bruder gezwungen fühlte, seinen Heimatort Hals über Kopf zu verlassen. Empathisch, humorvoll und mit viel Zeitkolorit lässt Till Raether eine einzigartige Zeit aufleben - die musikalische Avantgarde der 70er Jahre in München - und beschreibt ein Lebensgefühl zwischen gesellschaftlichem Aufbruch und Auseinandersetzung mit den Lebenslügen der Eltern-Generation.
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1
Alle paar Monate ändern sie im Oldie-Radio die Songauswahl, damit ab und zu was neues Altes läuft. Manche Sachen spielen sie immer, andere verschwinden nach ein paar Monaten wieder und kommen erst Jahre später zurück. »Daddy Cool« wird immer dabei sein, solange es Oldie-Radio gibt, oder »Live Is Life«. Aber sowas wie »Never Say You’re Sorry« taucht nur alle Jubeljahre auf. Die zweite, nicht ganz so erfolgreiche Single eines One-Hit-Wonders. Was dich vielleicht zu einem Anderthalb-Hit-Wonder macht. Diese Bezeichnung nimmst du mir hoffentlich nicht übel, nur eine harmlose Stichelei von der kleinen Schwester an den großen Bruder. Denn das waren wir damals, inzwischen sind wir so gut wie gleichaltrig, fünfundsechzig und siebzig. Heute in der Morgendämmerung bin ich also in meinem kleinen Auto von der mobilen Pflege übers Land gefahren, und im Radio kam das Übliche, »Living Next Door To Alice« und so weiter. Einerseits beruhigt mich diese Vertrautheit, andererseits ist es ein leichter Nervenkitzel, ein Risiko: ob ich es zufällig mitkriege, wenn alle paar Tage »Dance Into My Love« auf diesem Sender gespielt wird, dein einer großer Hit. Ich erkenne deinen Synthesizer am Anfang sofort, und dann verwandeln sich die eingeregneten Hügel und Felder vor meinen Augen in die Landschaften unserer Kindheit. »Never Say You’re Sorry (For the Good Times That We Had)« hatte ich aber nun so lange nicht mehr gehört, dass aus der Nostalgie ein regelrechter Sehnsuchtsschock wurde und ich auf der Landstraße rechts ranfahren musste. Du legst sicher Wert auf den vollständigen Titel, mit Klammer. Ich habe wenig Zeit zwischen meinen Patienten. Wobei, wir sagen Kunden. Sie warten darauf, von mir gepflegt zu werden. Ich machte das Radio aus, bevor Stella D. anfing zu singen, starrte ins Land und dachte daran, wie schön es mal war, deine Schwester zu sein. Ich glaube, ich muss dir das alles endlich erklären. Und mir selber auch. Und heute Abend habe ich Zeit. Bitte wundere dich nicht, dass diese Nachricht von der gemeinsamen E-Mail-Adresse von Tim und mir kommt, die er eingerichtet hat, als wir zum ersten Mal T-Online bekommen haben. Ich schreibe so gut wie keine E-Mails, aber diese Ehepaar-Adresse gehört trotzdem zu den Dingen, die ich seit vielen Jahren endlich angehen will. Es wäre heute undenkbar, dass eine Vierzehnjährige ohne Wissen ihrer Eltern von Ostholstein nach München fährt und dann dort unbehelligt fast eine Woche verbringt, tagsüber schläft und nachts ihren Bruder sucht. Aber auch 1975 war es zumindest ungewöhnlich. Das merke ich aber erst jetzt, wenn ich darüber nachdenke. Wir haben damals in Seutendorf gewohnt, zwanzig Minuten zu Fuß von der Bundesstraße 430, ungefähr auf halbem Weg zwischen Lütjenburg und Plön. Ich weiß nicht, wie gut du dich an die Landschaft erinnerst. Du warst lange nicht hier, du bist damals gegangen, um nicht wiederzukommen. Du hast mich im Stich gelassen. Unsere Schwestern und mich. Viele Seen, das Wild frisst die Knospen von den Sträuchern, und die haushohen Hecken zwischen den Feldern und an den Straßenrändern heißen immer noch Knicks, ein Wort, das man in München niemals braucht, stelle ich mir vor. Störche landen ungeschickt, sie brauchen viel Platz dafür. Es hat sich in dieser Hinsicht nichts bei uns verändert seit fünfzig Jahren. Das mit dem Im-Stich-Lassen lösche ich später vielleicht wieder. Aber jetzt steht es da, und es scheint mir für den Augenblick die richtige Formulierung. Morgens um halb fünf bin ich aufgestanden an diesem 1. oder 2. November 1975. Es bestand keine Gefahr, dass unser Vater mich hören und aufwachen würde. Er lag im Wohnzimmer auf der Übereckcouch, die leeren braunen Flaschen auf dem Fliesentisch sahen aus wie ein Zaun. Und keine Gefahr, dass unsere Mutter mich hörte und aufwachte, denn sie lag tot auf dem Bett wie am Tag davor. Ab fünf Uhr morgens saß Oma Großkordt immer mit ihrem Kaffee am Fenster, so nah, dass die Scheibe vor ihrem Gesicht pilzförmig beschlug. Sie hat damals schon im Altenteil gewohnt, eine Weile war sie ja noch mit bei uns im Haus, schrecklicherweise. Aber in diesem November Mitte der 70er Jahre war sie mit ihrem ganzen Kram schon im Nebengebäude, wo vor hundert Jahren die Knechte und Mägde gewohnt haben. Unsere Schwestern und ich hatten Oma Großkordt am Abend zuvor nur mit Mühe und Not aus unserem Haus bekommen. Die Rolle der Schwestern bei diesem Vorgang war entscheidend: ihre beiden Gesichter wie ein einziges, traurig bis zum Gehtnichtmehr. Es passierte nicht so viel in Seutendorf. Wenn jemand starb, war es eine große Sache. Oma Großkordt konnte nicht genug bekommen vom Ableben unserer Mutter. Vielleicht wollte Oma Großkordt uns auch nicht mit unserem Vater allein lassen. Der ganze Hof war aufgeteilt worden, als Urgroßvater Großkordt starb, jeder hatte nur noch ein Fitzelchen seitdem. Inzwischen ist alles weg. Wir werden nicht umhinkommen, das auseinanderzuklamüsern. Eines Tages. Demnächst. So, wie es bei uns immer etwas auseinanderzuklamüsern gab. Oma Großkordt war nicht die richtige Mutter unseres Vaters, also war unsere Mutter auch nicht ihre richtige Schwiegertochter. Wir haben Oma Großkordt trotzdem Oma genannt. Der Hof und seine Reste kamen aus ihrer Familie, die Eltern unserer Mutter hatten einen Supermarkt. Kaufleute, sagte Oma Großkordt abfällig, obwohl sie auch erst nach dem Krieg hier aufs Land gezogen war und vorher in Hamburg selbst bei Hertie gearbeitet hatte. Oma Großkordt war immer groß in Spökenkiekerei, erinnerst du dich? Sie erzählte uns von den weißen Frauen, die in ihren Steingräbern keine Ruhe finden, prähistorische Schlafwandlerinnen. Einmal, als klar war, dass du in München warst, erzählte sie mir, dass sie gesehen hätte, wie du ins Licht gehst. Sie kam morgens zu uns in die Küche, als wäre es ihre, setzte sich neben mich, legte mir die Hand auf den Arm, mit dem ich gerade den Kaffeebecher anheben wollte, und sagte: Ich habe gesehen, wie Gerald ins Licht geht. Ich schwieg, weil ich mich gar nicht so gern mit ihr unterhielt, vor allem nicht über sowas. Nach einer Weile nickte sie, als hätte sie mich beeindruckt, dann stand sie auf und ging. Ich denke, sie hat eine Diskokugel gesehen, aber das konnte sie natürlich nicht wissen. Erst als ich an diesem Abend vor meinem Aufbruch nach München zu ihr sagte, dass ich noch in Ruhe mit meiner toten Mutter sprechen müsste, und dass es mich genierte, wenn jemand mir dabei zuhörte, ging sie über den Sandweg und verschwand hinter ihrer Butzenglastür. Sie wirkte ein bisschen enttäuscht, so, als hätte sie gern zugehört, was ich unserer Mutter zu sagen hatte. Wer selbst viel zu verbergen hat, denkt immer, dass er in den Geheimnissen der anderen vorkommt. Aber das ist mir erst später klar geworden. Ich ging mit dem Rucksack ins Zimmer unserer toten Mutter und stellte mich an ihr Bett. Ich konnte nur ihre Haare auf dem Kissen sehen, nicht ihr Gesicht. Ich traute mich nicht, das Licht anzumachen. Eigentlich wäre es die Aufgabe unseres Vaters gewesen, Totenwache zu halten, aber er kam nicht mehr so gut die Treppe hoch. Vor Trauer und wegen der Bandscheibe und den Bieren. Unsere Schwestern huschten tagsüber an der Schlafzimmertür vorbei mit abgewandtem Gesicht. Damals fand ich das ein bisschen zimperlich. Heute habe ich so viel Verständnis dafür. Nach und nach hatte ich im Zimmer unserer Mutter über den ganzen Tag meine Sachen für München bereitgelegt, weil das der einzige Raum im Haus war, den gerade niemand außer mir betrat. Unsere Mutter lag ja nur, sie würde die Tage abgeholt werden, hatte Oma Großkordt gesagt. Jetzt stand ich da, dachte an das Lied »Der Mond ist aufgegangen«, weil es im Zimmer nur diese Art von Licht gab. Es schien so ein wichtiger Moment, aber ich hatte unserer Mutter gar nichts zu sagen. Nach einer Weile fing ich an, den Rucksack vollzustopfen, chaotisch und unvollständig, wegen dem Mondlicht, und weil man immer etwas vergisst, wenn man über den Tag Einzelteile zusammensammelt. Dann ging ich schlafen. Kurz und unruhig, weil ich wusste, um halb fünf würde ich aufbrechen, um dich nach Hause zu holen. Am Morgen, als ich nach München aufbrach, war es in den Zimmern ganz kalt, Anfang November. Unsere Schwestern waren trotzdem verschwitzt, weil sie zusammen unter einer Decke lagen. Ich beugte mich über sie und dachte: Sie blickte zärtlich auf sie hinab. Dann nahm ich deinen Bundeswehrrucksack und ging leise die Stiege hinunter und aus dem Haus. Unsere Schwestern sollten schlafen, so lange wie sie konnten. Die Zwillinge. Ich glaube, wir haben alle immer gedacht: Die beiden haben ja sich. Ich ging den Umweg außen ums Dorf, und dann bei der Bushaltestelle auf die Landstraße zur 430. Ich wusste, dass niemand um diese Uhrzeit auf der Straße war, denn es war nicht Erntezeit, und die Melker fingen erst um sechs an. Das war ein hartes Geschäft und gefährlich, viele von den Melkern hatten nicht mehr alle Finger. Unser Vater sagte, das sei trotzdem ein guter Beruf für dich, die Molkerei sucht immer, und mit Extraschichten und Wochenendzulage kommst du bald auf vierstellig, und dann kannst du ein Häuschen anzahlen. Und dann kommt die EG und macht die Molkerei zu, und dann kriegst du eine Abfindung, und zwar richtig. Erinnerst du das? Die wirren Pläne unseres Vaters? Unser Vater wusste wirklich gar nichts von der Landwirtschaft, er kam aus Hamburg, Lehrer für Deutsch und Geschichte. Aber er kannte sich aus damit, Ratschläge zu geben. Und er sagte immer, erinnern sei ein reflexives Verb, und so wie wir es benutzen, sei das eine norddeutsche...