E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Ramseier In einer unmöblierten Nacht
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7099-3840-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3840-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Ramseier ist der Schweizer Meister zarter Töne. Der 1955 in Liestal geborene Schriftsteller, Journalist, Lektor und Flurnamenforscher versteht es, seiner Prosa eine poetisch-zarte Melodie zu verleihen. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, etwa den Buchpreis des Kantons Bern (1995), den Bettina-von-Arnim-Preis (2001) und den Kulturpreis Kanton Basel-Landschaft (2014). Bei Haymon erscheint nach 'Vogelheu' (2014) nun auch sein neuer Roman 'In einer unmöblierten Nacht' (2018).
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1
Yana mochte die Bronzefigur nicht, aber sie liebte ihren Besitzer. Victor saß auf seinem alten Schaukelpferd. Wie Pfeiler ragten seine Knie in die Höhe. Die Ameisenkönigin hatte er so auf die Kommode gestellt, dass die kühlen, vergoldeten Augen im schräg einfallenden Licht der Februarsonne in seinem Kinderzimmer Blitze warfen. Erhaben thronte die schmale Figur über allem, sparsam bemalt, umrahmt von Blattwerk. Ihr kantiger Kopf wurde getragen von einem bleistiftdünnen Hals. Die Königin war halb Mensch, halb Ameise, eine Riesin mit einem tiefen Dekolleté und einem Umhang, der von einem Gürtel notdürftig geschlossen wurde. Auf ihren erhobenen Händen balancierte sie zwei Ameisenmännlein. Das Männlein in ihrer Rechten trug auf seinem Haupt eine weltliche, die Figur in der Linken eine päpstliche Krone. Das alles spielte in einem auf dem Eichensockel angedeuteten Wald, wo sich zu Füßen der Königin eine Heerschar von Arbeiterinnen auf dem Laubboden abmühte.
Man müsste diese Szene malen, dachte Yana: der CEO mit der gebügelten Hose und den gespreizten Beinen auf dem Schaukelpferd vor der Skulptur mit den goldenen Augen – ein Stillleben. Auch wenn das Werk sie irritierte – sie genoss die Stille und Weite der Villa. Vics einstiges Kinderzimmer im Turm des Gebäudes war größer als ihre Wohnung in Moskau, ganz zu schweigen vom winzigen, dunklen Raum in Schabo, den sie mit ihrer Zwillingsschwester Ewa geteilt hatte. Mehr als ein Kajütenbett, ein Tischchen für die Hausaufgaben, ein schmaler, wackeliger Schrank und der kleine, blaue Zauberteppich am Boden hatten darin nicht Platz gefunden. Der Teppich war ihr Raumschiff gewesen, das sie aus der Enge in die Umlaufbahnen der Phantasie katapultiert hatte. Einmal waren sie zu einem roten Stern aufgebrochen. Dort hatten sie ihre Traumprinzen geheiratet. Die Landung auf der Erde nach solchen Expeditionen war hart.
Und jetzt? Ihr kamen bereits wieder Zweifel, wenn sie an ihren Prinzen dachte. Pack deinen Koffer, hatte Vic ihr vor dem Galaabend im Puschkin-Museum gesagt. Verabschiede dich von überflüssigen Dingen. Du gehörst zu mir. Sie hatte noch kaum etwas über ihn gewusst, außer dass er sich für alles interessierte, was von Belang war, und Belangloses mit einem einzigen Satz erledigen konnte. Und sie war seinem Charme im Nu erlegen. Nur für ihn hatte sie ihr Haar zu einem Kranz geflochten und die silbrigen Traubenanhänger ins Ohr gesteckt, ihren einzigen Schmuck. Wenn sie kerzengerade dastand, war ihre Haltung jener der Königin nicht unähnlich. Doch sie gehörte nicht zur Gilde, die in den Festsaal geströmt war. Sie trug keine Markenuhr. Die gesamte nationale A-Elite hatte sich an diesem Freitag versammelt. Die Oligarchengattin Balbukina hatte Victor so heftig geküsst, als sei er ein alter Bekannter. Ihr giftgrünes Bleistiftkleid war der Blickfang des Abends gewesen. Auch Yana hatte Grün getragen, dezentes, klassisches Lindgrün. Viel mehr hatte sie nicht in ihrem Kleiderschrank. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihr Tageshoroskop gelesen. Sie denken über sich selber nach. Und das bringt Ihnen neue Erkenntnisse, nämlich, dass Sie nicht nur das schönste und schlauste Wesen auf Gottes Erden sind, sondern im ganzen Universum. Wenn es nur einen Bruchteil so einfach wäre! Wie viele hier würden die Nase rümpfen? Ukrainerin erschleicht Schweizer Pass. In welchem Puff hast du sie aufgegabelt, Vic? Brauchst du täglich dreimal Sex und frisches Holz vor der Hütte? Wie willst du mit der reden: Kuh macht muh, nicht kikeriki, Swiss Kuh? Sie kannte diese Sprüche von angetrunkenen Touristen. Zu allem Elend war Victor ein Prominenter. „Liebesglück im Osten“ würden sie in den Zeitungen titeln. „Dolmetscherin mit berückend blauen Augen bezaubert Schweizer Unternehmer.“ Sie gab sich einen Ruck. Konnte Victor und ihr das Geschwätz nicht egal sein? Legal war ohnehin alles. Vics Junggesellenwohnung verfügte über mehr als die vorgeschriebenen zwei separaten Räume, Nasszelle und Küche.
Feiner Kuchengeruch stieg vom Erdgeschoß nach oben. Seit der Ankunft am Flughafen hatte sie nichts mehr gegessen. Der erste Gedanke in der neuen Heimat war: Ich sterbe vor Hunger. Im Duty-free-Shop war sie an allen Parfums vorbei zum nächsten Stand mit Süßigkeiten gerast und hatte eine Toblerone erstanden, um sich für das Treffen mit Victors Mutter zu stärken. Mehr als einmal hatte sie sich den Empfang in den schlimmsten Farben ausgemalt. In dieses überwältigend schöne Tal, dieses überwältigend große, noble Haus, in diese überwältigend wohlhabende, im Leben eingerichtete Familie brachte ihr einziger Sohn eine überwältigend einfache, mit den Sitten des Landes und der Gesellschaft nicht vertraute, mittellose Übersetzerin, die keinen Dunst von Kunst hatte. Zum Schreien war das. Würde die Mama sich nicht in wenigen Minuten breitbeinig vor Vic stellen und ihn gründlich durchschütteln? Würde er, der gesellschaftliche Vorzeigesohn, sich dann wehren und für seine Liebe einstehen?
Victor blieb reglos in seine Plastik versunken. Eine halbe Million hatte er in die Beweise investiert. Der Wert der Königin stieg mit jeder Expertise, die das Werk als echt auswies. Nicht eine um 1950 in Berlin versteigerte Kopie war in seinem Besitz, wie Neider vermutet hatten, sondern eine von Meister Rutzki neu geschaffene Figur. In Moskau, wo Kunst aus ganz Europa in den Sälen stand und an den Wänden hing, hatte man ihm die Absolution erteilt. Yana hatte den Segen vom Russischen ins Deutsche übersetzt.
„Ist es nicht hundertmal netter, mit Meisterwerken im eigenen Haus zu leben als mit Aktienzertifikaten?“, rief er in die Stille. „Ich danke Gott, dass ich zu diesem Werk gekommen bin. Es überstrahlt alles, was ich bis jetzt erreicht habe.“
Und das ist nicht wenig, ergänzte Yana in Gedanken. Seit die Königin ihm gehörte, galoppierte sein ohnehin bewegtes Leben mit ihm davon. Anfang des Jahres hatte er einen Kurs in Körpersprache besucht, hatte er ihr auf dem Flug erzählt: So behalten Sie die Oberhand. Es ging um klare Zeichen. Gelang der Auftritt, war der Rest ein Kinderspiel. Stärke gepaart mit Leidenschaft. Keine Magengeschwüre, keine feuchten Hände. Manche zitterten, wenn er einen Raum betrat. Einige hielten ihn wohl für verrückt. Vic konnte das Leben feiern.
Abrupt erhob er sich vom Schaukelpferd und trat ans offene Fenster. „Mit dir an meiner Seite wird alles noch einfacher!“
Er war groß und kräftig gebaut, fast einen Kopf größer als sie. Ein Windstoß brachte ihn nicht aus der Fassung. Seine buschigen Augenbrauen standen für Ehrgeiz und Willen. Am lebendigsten aber waren seine strahlend schwarzblauen Augen und seine dunkle Stimme. Vic verbrachte doppelt so viel Zeit mit der Morgentoilette als sie. Das Leben um ihn herum verlangte Tag für Tag perfekte Auftritte. Allein die Rasur kostete ihn eine Viertelstunde. Jede seiner Bewegungen wirkte überlegt und überlegen. Vielleicht, weil er sich an allem so unverstellt freuen konnte, selbst an ihr, der kleinen Dolmetscherin, die sich mit allem schwer tat, sich vor jedem neuen Wort fürchtete, das auf sie zukam, als gelte es, die Silben beim Übersetzen auf einer Höhe zu überspringen, die sie noch nie geschafft hatte. Das gefüllte Champagnerglas hieß im Schweizerdeutschen Cüpli, eine schwer übersetzbare Verkleinerungsform – sogar für eine Dolmetscherin, die Russisch, Ukrainisch und Deutsch als Muttersprache hatte. Auch Namen konnte man nicht übersetzen. In Moskau hatte ihr Victor einige beigebracht: Rivella, Toblerone, Ovomaltine, Ricola, Kägi-Fret, Zweifel Chips, Kultprodukte aus der Schweiz, Aromat, die unschlagbare Gewürzmischung von Knorr, ohne die der Prinz nie ins Ausland reiste. Auch Victor war eine unschlagbare Mischung. Den meisten Menschen fiel es schwer, von ihm nicht begeistert zu sein. Er hatte kein vollkommenes Gesicht, aber eines, in dem sich keine Katastrophen und keinerlei Zweifel eingenistet hatten.
„Ja, viel einfacher“, wiederholte er.
„Wie weiß ich denn, dass du der Richtige bist?“, fragte sie ihn neckisch.
„Ich bin der Richtige, Punkt.“
„Und wann ist einer der Richtige?“
„Wenn er sie hundertprozentig ergänzt.“
„Und wenn sie fast nichts hat und fast alles zu ergänzen ist?“
„Ach, tu nicht so bescheiden. Du bist wunderbar, Yana. Und ich gebe dir alles, was ich habe.“
„Ich bin anstrengend.“
„Du bist entzückend!“
„Du verwechselst mich mit einer andern.“
„Es gibt keine andere, da kannst du lang suchen!“
Seine Begegnungen mit dem anderen Geschlecht seien bis vor ein paar Wochen unspektakulär verlaufen, hatte er ihr gestanden. Er habe niemandem falsche Hoffnungen machen wollen. Wenn sich eine an ihn hängte, hatte er sie abgeschüttelt, nicht grob, aber entschieden.
Sie gab sich geschlagen. Um Luft zu bekommen, öffnete sie den obersten Knopf ihres Jeanshemds. „Fass es nur nicht als Freipass auf“, sagte sie ihm im Spaß.
Längst hatte sie begriffen, dass es kein Zurück gab. Er hatte einen Zeitzünder betätigt, der ihre bis anhin tief im Innern schlummernde Leidenschaft mit Schweizer Präzision ins Freie gesprengt hatte. Sie genoss seine Anflüge von Extravaganz. Vic war ein reicher Mann. Daran war nichts Böses. Das Edle, Große, Ganze war ihm wichtig. Sie versuchte, sich alles zu merken, was er sagte, wie er es sagte, sie entwickelte ein Extragedächtnis für seine Gesten, seine Mimik, seine Haltung, die Kraft, mit der er die Dinge anpackte. Alles kam ihr wichtig vor, richtig, wenn sie es mit ihrem eigenen Gebaren verglich, ihrer mickrigen Lebenserfahrung. Immerhin konnte sie sich in jeder Situation konzentrieren. Die Arbeit gab...




