E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8437-0803-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Ein berühmt gewordenes, in 16 Sprachen übersetztes Buch mit einer deutschen Gesamtauflage von über 1 Million Exemplaren.
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Erstes Kapitel Ich, Tiberius Claudius Drusus Nero Germanicus und so weiter – denn ich will nicht durch die Aufzählung meiner Titel ermüden –, der ich vor noch nicht langer Zeit bei meinen Freunden und Verwandten und Mitarbeitern bekannt war als »Claudius der Idiot« oder »Claudius der Stotterer« oder »Clau-Clau-Claudius« oder bestenfalls noch als »der gute Onkel Claudius«, habe mich entschlossen, die seltsame Geschichte meines Lebens zu schreiben. Dies ist nicht etwa mein erstes Buch. Literatur, besonders Geschichtsschreibung, war mein einziges Interesse, meine einzige Beschäftigung für mehr als fünfunddreißig Jahre. Meine Leser dürfen deshalb nicht erstaunt sein über meinen gewandten Stil: Es ist wirklich Claudius selbst, der dieses Buch schreibt, und nicht etwa einer seiner Sekretäre oder gar einer jener offiziellen Chronisten, denen Leute, die im öffentlichen Leben stehen, ihre Erinnerungen anzuvertrauen pflegen – in der Hoffnung, daß gewandter Stil der Dürftigkeit ihrer Erlebnisse Bedeutung verleiht und daß Schmeichelei ihre Laster verdeckt. Ich schwöre bei allen Göttern, daß ich das vorliegende Buch bis auf die letzte Silbe selbst schreiben werde, denn dürftig sind meine Erlebnisse nicht, und wie könnte ich vor mir bestehen, wenn ich mir schmeichelte? Ich muß hinzufügen, daß dies nicht die erste Geschichte meines Lebens ist, die ich geschrieben habe. Vor zwei Jahren habe ich eine andere verfaßt, in acht Bänden, für die Archive der Stadt. Ich diktierte die ersten vier Bände meinem griechischen Sekretär, und da ich späterhin sehr durch andere Dinge beschäftigt war, ließ ich ihn die zweite Hälfte aus dem Material, das ich ihm gab, selbst zusammenstellen. Und er paßte seinen Stil so genau dem meinen an, daß aus dem fertigen Werk niemand erkennen konnte, welche Teile von mir waren und welche von ihm. Es wurde ein trockenes Buch, jene erste Selbstbiographie. Ich war damals nicht imstande, Kritik am Kaiser Augustus zu üben, meinem Großonkel mütterlicherseits, oder an seiner dritten und letzten Frau, der Kaiserin Livia, meiner Großmutter, weil sie gerade zu Göttern erhoben worden waren und ich ein Priesteramt bekleidete, das mit ihrem Kult verbunden war. So wurde das erste Buch nur eine Aufzählung von Tatsachen. Ich erzählte zwar keine Lügen, aber auch nicht die Wahrheit in dem Sinn, wie ich sie jetzt zu erzählen gedenke. Denn dieses Buch soll ein vertrauliches Buch sein. Man könnte fragen: Wer sind meine Vertrauten? Meine Antwort ist: Dieses Buch ist für die Nachwelt bestimmt. Ich meine damit nicht meine Urenkel oder meine Ururenkel, ich meine die entfernteste Nachwelt. Doch hoffe ich, daß ihr, die ihr midi vielleicht einige hundert Generationen später lest, euch direkt von mir angesprochen fühlt, als sei ich euer Zeitgenosse, wie es mir oft mit Herodot und Thukydides ergeht, die schon lange tot sind. Aber warum rechne ich so sehr mit einer ganz entfernten Nachwelt? Ich will es erklären. Vor ungefähr achtzehn Jahren ging ich nach Cumae, in Campanien, um die Sibylle in ihrer Höhle am Berge Gaurus zu besuchen. Es gibt immer eine Sibylle in Cumae, denn wenn eine stirbt, wird die von ihr herangebildete Novizin ihre Nachfolgerin. Aber nicht alle sind gleichmäßig berühmt. Manche hat Apollo in den langen Jahren ihres Dienstes nicht mit einer einzigen Prophezeiung begnadet. Andere wieder äußern zwar Prophezeiungen, aber sie scheinen sich mehr an Bacchus als an Apollo zu entzünden. Bevor mir gestattet wurde, die Sibylle zu besuchen, mußte ich der Diana ein Schaf und dem Apollo einen jungen Stier opfern. Es war ein kalter Dezembertag. Ich kam vermummt, aber die Sibylle erkannte mich. Wahrscheinlich hat mich mein Stottern verraten. Ich stotterte wie ein Kind. Obwohl ich – unter der Anweisung von Redekünstlern – allmählich gelernt habe, bei öffentlichen Gelegenheiten mein Wort in der Gewalt zu behalten, passiert es mir doch bei privaten und unvorhergesehenen Anlässen – nur nicht mehr so häufig wie früher –, daß ich aus Nervosität über meine eigene Zunge stolpere, und so erging es mir auch an jenem Tag in Cumae. Ich betrat das Innere der Höhle, das mir Grauen einflößte, und sah die Sibylle, mehr einem Affen gleichend als einer Frau. Sie saß auf einem Stuhl in einem Käfig, der von der Decke herabhing. Ihr Gewand war rot, und ihr starres Auge erschien ebenso rot in dem einzigen roten Lichtstrahl, der von irgendwoher aus der Höhle herabfiel. Ihr zahnloser Mund grinste. Rund um mich herum spürte ich Todesgeruch. Aber es gelang mir, die Begrüßungsworte auszusprechen, die ich mir eingeübt hatte. Sie gab keine Antwort. Und es dauerte tatsächlich geraume Zeit, bis ich bemerkte, daß ich vor dem mumifizierten Körper der früheren Sibylle stand, die kürzlich im Alter von hundertundzehn Jahren gestorben war. Ihre Augenlider wurden durch Glaskugeln offengehalten, damit es aussehe, als ob die Augen noch leuchteten. Die amtierende Sibylle pflegt immer mit ihrer Vorgängerin zusammen zu leben. Es schien mir eine Unendlichkeit zu sein, die ich so vor der Toten stand, innerlich schaudernd, aber liebenswürdige Grimassen schneidend. Bis endlich, endlich die lebende Sibylle, Amalthea, eine noch junge Frau, sich enthüllte. Das rote Licht ging aus, so daß die Tote unsichtbar wurde, und ein anderer Lichtkegel, weiß, schoß herab, und Amalthea, auf einem Elfenbeinthron, wuchs aus dem Schatten hervor. Sie hatte ein schönes, wie mir vorkam, geisteskrankes Gesicht mit einer hohen Stirn und saß so unbeweglich wie die Tote. Aber ihre Augen waren geschlossen. Meine Knie zitterten, und ich verfiel in mein Stottern, aus dem ich mich nicht mehr befreien konnte. »O Sib … Sib … Sib … Sib … Sib …«, fing ich an. Sie öffnete die Augen, und mit einer bösen Stimme machte sie mich nach: »O Clau… Clau… Clau…« Darüber schämte ich mich sehr, und mit aller Kraft konnte ich mich auf meine Frage besinnen: »O Sibylle, ich bin gekommen, um dich über Roms Schicksal und mein eigenes zu befragen.« Langsam änderte sich der Ausdruck ihres Gesichts, die prophetische Gewalt überkam sie, und sie seufzte und zitterte. In den Wölbungen wehte es, Türen fielen zu, Flügel streiften mein Antlitz, das Licht schwand, und mit der Stimme des Gottes stieß sie einen griechischen Vers hervor: »Wer so den Fluch der Punier fühlt, wer so in goldner Schlammflut wühlt, wird kränker, eh’ sie Heilung kühlt. Ob Pest aus ihrem Atem weht, ob Wurmfraß ihr zum Herzen steht – kein Mensch bemerkt, wann sie vergeht.« Dann warf sie die Arme über den Kopf und begann von neuem: »In zehn Jahren, fünfzig Tagen und drei Clau-Clau-Clau mit etwas begnadet sei, wobei jedem außer ihm das Herz höher klopft. Vor Zeitgenossen, die schmeichelnd niedersinken, wird er stottern, glucksen und hinken, stets ist seine Lippe mit Speichel betropft. Doch nachdem er in Charons Nachen gefahren, in ungefähr neunzehnhundert Jahren, wird Claudius sich deutlich offenbaren.« Dann lachte der Gott Apollo durch ihren Mund – ein schöner, aber furchterweckender Klang: Ho! ho! ho! Ich verbeugte mich demütig, drehte mich hastig um, stolperte davon und fiel kopfüber die ausgezackten Stufen hinab. Dabei zerschnitt ich mir Stirn und Knie, und voller Schmerzen kam ich ins Freie, während ein gewaltiges Gelächter mir folgte. Heute kenne ich mich in der Wahrsagekunst aus, bin ein erfahrener Historiker und überdies ein Priester, der die Sibyllinischen Bücher genau studiert hat. Also vermag ich mit einiger Zuverlässigkeit die Verse von damals zu interpretieren. Mit dem »Fluch der Punier« meinte die Sibylle unzweifelhaft die Zerstörung Carthagos durch uns Römer. Dieser Tat wegen haben wir lang genug unter dem Fluch der Götter gestanden. Denn wir hatten den Carthagern Freundschaft und Hilfe gelobt – im Namen unserer mächtigsten Götter, Apollo einbegriffen. Dann aber wurden wir neidisch, weil Carthago sich von den Schlägen des zweiten Punischen Krieges so rasch erholte, und deshalb lockten wir es tückisch in den dritten Punischen Krieg: Wir zerstörten es bis auf die Grundmauern, metzelten seine Einwohner nieder und bestreuten ihr fruchtbares Land mit Salz. »Die goldne Schlammflut« ist die Folge dieses Fluchs: jene Geldgier, an der Rom zu ersticken droht, seitdem es seinen größten Rivalen im Handel zerstört und sich selbst aller Reichtümer des Mittelmeeres bemächtigt hat. Mit den Reichtümern stellten sich alle durchaus unrömischen Laster ein, als. da sind: Faulheit, Habgier, Grausamkeit, Unanständigkeit, Feigheit, Feminisierung. – Was nun das Geschenk sein sollte, das alle sich wünschten, nur ich nicht, das wird der Leser im Lauf dieser Geschichte erfahren: Genau nach zehn Jahren und dreiundfünfzig Tagen hat es sich eingestellt. Die Verse, in denen es heißt, daß Claudius sich aussprechen würde, haben mir lange Jahre viel Kopfzerbrechen gemacht, aber jetzt glaube ich, daß ich sie auch verstehe. Sie sind allem Anschein nach eine Aufforderung, das Buch zu schreiben, mit dem ich soeben beginne. Sobald es fertig ist, werde ich es in eine Flüssigkeit tauchen, die es konserviert, werde es in einer Bleibüchse versiegeln und irgendwo tief vergraben, von wo die Nachwelt es eines Tages ans Licht holen mag und lesen. Wenn ich den Spruch der Sibylle richtig verstehe, wird dies in ungefähr neunzehnhundert Jahren der Fall sein. Und dann, wenn alle anderen Schriftsteller meiner Tage, deren Werk sich erhält, zu hinken und zu stammeln scheinen, da sie nur für den Tag geschrieben haben und sich allen möglichen Zwang auferlegten, dann wird mein Buch kühn und klar die Dinge beim rechten Namen nennen. Wenn...