E-Book, Deutsch, 320 Seiten, eBook
Rapino Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio
1. Auflage, neue Ausgabe 2022
ISBN: 978-3-0369-9486-4
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9486-4
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Remo Rapino, geboren 1951, unterrichtete Philosophie und Geschichte am Gymnasium und hat mehrere Romane, Erzählungen und Gedichtsammlungen veröffentlicht. Mit seinem Roman 'Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio', der von der Kritik und der Presse in Italien enthusiastisch gefeiert wurde und zum großen Überraschungserfolg avancierte, gewann er 2020 unter anderem den renommierten Premio Campiello. Remo Rapino lebt in Lanciano in den Abruzzen.
Weitere Infos & Material
1926
Jahr, in dem Liborio Bonfiglio die Bühne der Welt betritt, und zwar im Sommer
Die Leute auf der Straße sagen, ich spinne, weil ich immer Hunger habe.
juan rulfo, MACARIO, in: DER LLANO IN FLAMMEN
Ja ihr lieben Leute, glaubt mir nur, diese Sache ist nicht so unerheblich, als Manche von euch glauben mögen.
laurence sterne, LEBEN UND MEINUNGEN DES HERRN TRISTRAM SHANDY
Jetzt gehen die auch noch her, die andern da, die ganzen Leute in diesem blöden Kaff und sagen ich spinne. Das brauchen die mir nicht jetzt zu sagen, die andern da, die ganzen Leute in diesem blöden Kaff, dass ich spinne. Weiß ich doch selber, und denk auch dauernd dran, Tag und Nacht, im Winter wie im Sommer, jeden Tag, den der Herrgott kommen und gehen lässt mit Licht und Dunkel, denk ich dran. Hab ich schon immer drüber nachgedacht, warum aus meim Schädel, der fast normal war, ein Knallkopf geworden ist, ein hirnrissiger Schmarrn. Ist ja so, wie wenn einer geradeaus geht und auf einmal verhakt sich der Blick an einer Weggabelung, die krumm und verschlungen ist wie ne Schlange, und er schlägt einen anderen Weg ein und merkt es gar nicht, und auf einen Schlag bist du an einem Ort, den du vorher noch nie gesehen hast, wo du nichts kennst, die Häuser nicht blickst, die Bäume, die Gesichter der Leute, die Stimmen, ja nicht mal die Stimmen; selbst die feine Stimme deiner Mutter klingt falsch, und du findest nicht mal mehr den Brunnen auf der Piazza Grande, dabei ist der richtig groß, und dann kacken dir voll gemein auch noch die Tauben auf den Kopf, du findest nicht einmal das Haus, wo du geboren bist, mit dieser Haustür aus völlig morschem altem Holz, wo die Holzwürmer ganze Wohnsiedlungen drin einrichten, ja das tun sie, und nach und nach alles in sich reinschlürfen, den Rost und den Schimmel fressen sie gleich mit, diese Holzwürmer. So was kann passieren. Ich meine, mir ist es auch so passiert, mir selber. Kann auch sein, es hat alles damit angefangen wie ich auf die Welt gekommen bin, zumindest nach dem was mir meine Mama erzählt hat, weil mein Vater weiß ich nicht mal, wer er ist und wo er jetzt lebt, ob er überhaupt noch am Leben ist, ob er gestorben ist als der elende arme Schlucker der er gewesen ist, weil er ja einer war, ein elender armer Schlucker der nur Pech hatte. Wer sich ihn erinnert, meint, er ist nach Amerika gegangen, nach Argentinien oder Barsilien, irgendwo hinterm Meer, aber ein großes Meer sagen sie, wie soll ich das denn wissen nach der ganzen Zeit. Wie groß wird es denn sein, dieses beschissene Meer? Was richtig Großes erzählen die Emigranten, dass die Wellen haushoch daherkommen und mit einem Schwapp ganze Schiffe und Dampfer verschlingen, und in manchen Nächten bei starkem Wind kotzen sich die Leute an Bord auch noch die Seele aus dem Leib, die Seele und die Erinnerungen und alles was sie hinter sich gelassen haben und das was noch kommt. Jedenfalls ward er seitdem nicht mehr gesehen und er hat auch keine Postkarte nicht geschrieben, kein Lebenszeichen von sich gegeben, und Geld hat er auch keins geschickt, dass man die Tage und den Bauch hätte füllen können. Gehungert haben wir, richtig gehungert, dass man sogar auf die Schafe eifersüchtig sein konnte, die hatten wenigstens ihr Gras. Vielleicht ist er auch gestorben, so was kommt vor, was weiß ich, ein Unglück, vielleicht von einem Baugerüst geflogen, das nur von Stoßgebeten und Wird-schon-gut-gehen-Sprüchen zusammengehalten war, oder ein Messerstich in ner Spelunke, ne schlimme Krankheit, oder er ist ins Meer gesprungen oder vor einen amerikanischen Zug. Woher soll ich das wissen, wo ich ihn doch nie gesehen und auch nie mit ihm geredet hab. Ich bin erst später gekommen. Mir hat meine Mutter gesagt, ich hab die gleichen Augen wie er. Das ist alles was ich weiß. Und seit ich ein kleiner Knirps war, ein ganz kleiner, und später, als ich etwas größer war auch, hab ich jedes mal wenn ich an einem Spiegel vorbeigekommen bin oder an einem Schaufenster, hab ich mich immer angeguckt, aber immer nur die Augen, um dahinterzukommen wie mein Vater ausgesehen hat, zumindest sein Geschau, wenigstens die Farbe seiner Augen. Auch als gestandener Mann ist mir das noch geblieben, wie ne Macke, eine Fantasie die ich immer mit mir herumtrage, aber es hat nichts gebracht, kein einziges Mal, nicht einmal wenn ich mich angestrengt und die Augen zugemacht habe um besser zu sehen. Nur ein Schatten ist mir geblieben zwischen den Fingern und im Herz, weil dem Herz war manchmal auch zum Heulen, vor allem nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte in Gedanken an diese schlimme Sache, keinen Vater zu haben, und mich zwischen den Decken hin- und hergewälzt und gerufen hab, aber leise, damit mich keiner hört, Papa, Papa, oh Pa. Wenigstens ein einziges Mal wollte ich ihn sehen, und dann alles nach dem Herrgott seinem Willen, Schöpfer des Himmels und der Erden, Amen. Dann überkam mich der Schlaf, aber geträumt hab ich nichts, zum Glück. Ein Glück war auch, dass ich den Namen meiner Mutter hatte, Bonfiglio. Denn so hat meine Mama geheißen, Bonfiglio, Maria Bonfiglio, Maria wie die Muttergottes, und so stand mein Name auch auf der Gemeinde, in einem Register mit schwarzer Tinte, und das o hatte ein Ringelschwänzchen ganz genauso wie bei denen, die einen richtigen Vater hatten, der da war, der sie in die Schule begleitete und ihnen ab und zu auch mal was schenkte. Also als ich geboren bin, sind diese Dinge passiert und noch viel anderes mehr, und vieles sollte noch passieren, was mir widerfahren ist, dieweil die Jahre nach und nach vergingen, wie lauter Wolken in allen Farben, weiße, violette, schwarze, rote, die Sonne ging auf und ging unter, und ab und zu kam ein Sturzregen, dass alle Meere vollliefen, alle Flüsse und alle Schlaglöcher der Welt, und die Gemüsegärten mit den Tomaten und den Kürbissen drin auch. So viel Regen hats auch gegeben als ich geboren bin, an nem Abend im August, wo am Himmel hinter den Wolken klar und deutlich das Zeichen des Löwen gewesen sein muss, was man aber nicht hat sehen können, weil es geschüttet hat wie aus Eimern, dass Petrus es nur so hat herunter prasseln lassen und ein Donnerwetter auf die Erde heruntergekracht ist, dass alle Viecher, Hunde und Katzen vom Angesicht der Erde verschwunden sind und die Vögel sich in ihre Nester verkrochen haben und keiner mehr geredet hat, nicht mal ein Stoßgebet zur Rettung der eigenen Seele. Es mag der Südwestwind gewesen sein oder der Libeccio, die Blitze zerfetzten jedenfalls den Himmel und der Donner ließ die Dächer erbeben, die Scheiben, die Häuser, die Herzen und die Ohren. Mein Opa, Nonno Peppe Bonfiglio, so erzählte es mir immer meine Mama Gotthabsieselig, hat unter Schreckgeschrei und Gezitter zwei Kerzen fest in der Hand gehalten, dass wenigstens ein bisschen Licht war, und hat in einem fort geflucht Wo bleibt verdammtnochmal dieser Esel von Don Nicola? Wo bleibt verdammtnochmal diese Hure von Commar’Elisa? Wobei Don Nicola der Gemeindearzt war und Commar’Elisa die Hebamme. Don Nicola spielte gern Karten und zwar mit jedem und allen, dem Bürgermeister, dem Pfarrer, dem Zöllner, dem Gemeindesekretär, aber mit dem nicht so oft, weil der ein Schwindler war und Punkte klaute, sagte Don Nicola immer, aber er spielte auch mit den Maurern und den Bauern, wenn die aus der Gegend heraufkamen, die Sachen vom Land zu verkaufen. Vielleicht war Don Nicola auch das eine Mal, als ich auf die Welt kommen sollte, im Wirtshaus, mit einem Glas Konjak und einer Zigarette im Mundwinkel, bei Kerzenschein, weil der Strom ausgefallen war, und da kannst du lange warten, wenn er keine Ansage für Herz bekam, bis der Lust kriegte, sich um meinen Mist zu kümmern. Und auch die Commar’Elisa machte unter all dem Wasser keine Anstalten, sich blicken zu lassen, bei den voll verschlammten Gassen und ohne das Licht der Laternen, oder vielleicht hatte sie selber ihre liebe Not, sie hatte ja auch einen Sohn, aber ohne Mann, wo sich die bösen Zungen das Maul zerrissen und spotteten, er sei der Sohn vom Heiligen Geist oder vom Baron Della Torre und Amen. Die einen sagten, der Vater, der ihr das Balg gemacht hatte, sei ins Ausland abgehauen, andere meinten, es sei einer, der schon verheiratet war, manche hielten den Pfarrer für den Vater des Kindes, zwar auch ein Don, aber Don Biagio allerdings. Dies Kind war so schön pummelig schon von Geburt an, und von seinen ersten Jahren an, wo es krabbelte und scharrte wie ein Besoffener der erst ganz ganz spät aus der Schenke herausfindet, nannten die Leute es Filippone, obwohl er Filippo hieß und klein war, dass man meinen konnte er kriegt nicht genug zu essen. Ich erinnere mich wie er groß geworden und schön und kräftig war, und weiß auch noch, wie sie ihn eines Tages, weil er so groß und schön und kräftig war, zum Militär eingezogen haben, ausgerechnet zu den Gebirgsjägern, und alle bewunderten ihn mitten auf der Piazza, als er mit seiner Alpini-Uniform mit dem Federhut zurückkam, und mit der Feder kitzelte er mich im Scherz und ich hatte Spaß am Kitzeln unter dem Kinn und hinter meinen Ohren, die auch ein bisschen abstehend waren, aber nicht so viel. Und Filippone war so groß, schön und kräftig, dass sie ihn ins Russenland schickten, ich erinnere mich daran, war ja schon fünfzehn, hatte schon ein bisschen Bart und Haare an den Beinen. An dem Tag weinten alle und nahmen Abschied und sagten ihm, Du musst den Krieg gewinnen, nur seine Mama und sein Hund blieben stumm, und die Leute fragten sich warum sie nicht weinten, wenigstens die Mama, weil von den Hunden weiß man ja, dass sie nicht weinen wie die Christenmenschen. Stattdessen nur ein Winken mit der Hand aus dem Fenster vom Postbus, der blau war und wo Vulcano draufstand, und keiner wusste wer das...