Rasmussen | Mythen und Sagen aus Grönland | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Rasmussen Mythen und Sagen aus Grönland

Mit über 30 Original-Illustrationen des Inuit Kârale, einer der Hauptquellen für diese erste Niederschrift des Inuit-Mythenschatzes
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29234-8
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit über 30 Original-Illustrationen des Inuit Kârale, einer der Hauptquellen für diese erste Niederschrift des Inuit-Mythenschatzes

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-29234-8
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf zahllosen Expeditionen hat der große Polarforscher Knud Rasmussen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Grönland bereist, um die Sprache und Kultur seiner Vorfahren zu erkunden. Dabei galt sein besonderes Interesse stets auch dem Erzählgut der Grönländer, das über Jahrhunderte mündlich tradiert worden war. Dieser Band versammelt 53 Sagen aus Ostgrönland, der Region um Angmagssalik, von den Schöpfungsmythen bis zu teils wüsten, teils anrührenden Erzählungen aus der Lebenswelt der Grönland-Inuit. 35 Zeichnungen, Nachwort und Karte machen dieses besondere Erbe erfahrbar und zugänglich.

Der grönländisch-dänische Polarforscher und Ethnologe Knud Johan Victor Rasmussen (geb. 7. Juni 1879 in Ilulissat, West-Grönland), war der erste, der die Nordwestpassage mit einem Hundeschlitten überquerte. Auf zahlreichen Expeditionen ergründete er den Lebensraum, die Kultur und die Lebensweise der Inuit, ihre Geschichte und Geschichten. Bis heute gilt er als einer der Pioniere in der Erforschung der Arktis. Für seine fundierte wissenschaftliche Arbeit fand er weltweit Anerkennung. Er starb am 21. Dezember 1933 in Kopenhagen.
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Die Phantasie der Eskimos

Die Dämmerung hatte uns überrascht, und da von Westen drohende, schwarze Wolken heraufzogen, suchten wir Schutz in einer kleinen Bucht und schlugen dort unser Zelt auf. Es war nicht ratsam, bei dem heraufziehenden Unwetter über den Fjord zu setzen.

Trotz des weißen Neuschnees, der das ganze Land bedeckte, war es ungewöhnlich dunkel. Ein frischer Ostwind hatte tagsüber alles Großeis ins Meer gefegt, und darum lag das Wasser des Fjords von Felsen umgeben ganz schwarz da, ohne den Widerschein der gleitenden Eisflächen. Der Himmel war in schwarze Wolkenfetzen zerrissen, die vor dem Sturm hertrieben; durchschnitt sie der Mond, so zeigte sich für einen kurzen Augenblick die wilde große Landschaft, die ihr strahlendes Lächeln verloren hatte und in barscher Unzugänglichkeit dalag. Hohe Felsen mit grimmigen Spitzen schossen drohend in die Höhe: Die Berge, bar aller Schönheit, standen in tiefem Schweigen, nackt, wie Gerippe. Über den offenen Schlünden der Abgründe dröhnte schon der Gesang des Sturmes. Alles ließ eine furchtbare Abrechnung ahnen, und stummes Entsetzen legte sich auch auf uns. Bei den äußersten Schären begann die Brandung zu lärmen, eine Warnung für die Menschen, die noch draußen waren. Jetzt hieß es Deckung suchen, um sich vor dem Unwetter zu schützen.

Wir wussten nicht, wie lange das Wetter uns auf der kleinen Felseninsel festhalten würde, wo wir uns vorläufig niedergelassen hatten, und obgleich wir nicht in Gefahr waren, wurden wir doch auf seltsame Weise von der Stimmung des Himmels und der Landschaft beeinflusst. Immer dichter legte sich die Dunkelheit um uns, und immer stärker wurde unser Verlangen nach Licht.

In aller Eile wurden große Haufen von Zwergweiden und Kassiope zusammengetragen, und bald knisterte ein großes Feuer in der kleinen Felsenkluft, wo wir uns gelagert hatten. Es war, als ob Feuer, Licht und Wärme uns der unheimlichen Stimmung des Wetters wieder entrückten; unsere geblendeten Augen sahen nicht mehr die Drohungen um uns herum, alles Grauen war vom hellen Feuer verzehrt. Unsere Unterhaltung belebte sich, seltsamerweise aber blieben unsere Gedanken dennoch an das gebunden, was wir zu fliehen suchten. Es flüsterte und tuschelte um uns herum, und eine phantastische Atmosphäre zog uns in die Mystik der Herbstnacht hinein: Es war, als ob wir das Herz der Welt schlagen hörten, und ich begriff, warum ein Eskimo nie allein ist, selbst wenn er die Einsamkeit zwischen den Eisbergen sucht. Seine Umgebung macht ihn zum Geisterbeschwörer, vorausgesetzt, dass er den Mut hat, sich dem Übernatürlichen hinzugeben. Die Natur selbst diktiert ihm seine Religion, alles um ihn her gewinnt Leben; Abenteuer und Zauberei, Riesen und beschwörende Geister lösen sich aus der Umgebung, deren Großartigkeit ihn in die Knie zwingt.

Darum gibt es keine Märchenwelt, so mannigfaltig und voll unheimlicher Zauberei wie die hier oben zwischen Fels, Meer und Gletschern in der großen Polarnacht. Der Menschengeist verkrüppelt hier nicht, sondern wächst mit den unglaublichen Visionen, denen eine fruchtbare Einfalt Schwingen verleiht. Die Wunder der Welt entschleiern sich, die großen Rätsel nehmen die Gestalt von Gnomen und Riesen an, und aus dem Übernatürlichen wachsen die Sagen mitten hinein in die handgreifliche Wirklichkeit des täglichen Lebens der Eskimos. Sie glauben selbst, dass alle Orgien der Phantasie Botschaften aus einer großen Welt sind, die dem Menschen unverständlich ist …

Ich war zum ersten Mal im Lande der Angmagssalikken. Der erste Eindruck hatte mich schwer enttäuscht, weil ich bei der Kolonie begonnen hatte, in der die Verlogenheit einer unverdauten Zivilisation sich immer am stärksten bemerkbar macht.

Ich zweifelte, ob es mir wirklich in dieser Umgebung und bei diesen Menschen glücken würde, mich zu der unberührten Ursprünglichkeit durchzuarbeiten, die zu finden ich so weit gereist war. Darum war ich so bald wie möglich zu den kleinen Wohnplätzen aufgebrochen, wo das alte Leben noch am tiefsten wurzelt.

In meinem Boot fuhren Männer und Frauen; andere Männer folgten in eigenen Kajaks; außerdem gehörten zwei ehemalige Geisterbeschwörer zu uns und ein paar alte Sagenerzählerinnen, die getauft worden waren, und in der Taufe Namen von so feinem Klang bekommen hatten, dass sie sie selbst kaum aussprechen konnten; ich will nur Klementine, Barbara und Apollonia nennen, weil sie es waren, die uns ihre Visionen verdolmetschten und dadurch der Stimmung in unserem improvisierten Lager Farbe gaben.

Auf der kleinen Insel, im Sturmesbrausen der Natur, fühlte ich mich plötzlich mitten in das große grönländische Märchen versetzt, und meine Freude darüber war umso größer, als ich von vornherein meine Erwartungen nicht sehr hoch gespannt hatte. Befand ich mich doch hier an der Quelle von Gustav Holms wunderbaren und unübertrefflichen Eskimoschilderungen, und in derselben Gegend hatte William Thalbitzer sein gründliches und gewichtiges ethnografisches Material gesammelt.

Und dennoch – unter dem Eindruck der gewaltigen Umgebung gab ich mich der Hoffnung hin, dass ich nicht umsonst gereist sei, denn alles, was ich jetzt erlebte, war ja Beweis genug dafür, dass die alten Traditionen noch im Gedächtnis der Geschlechter lebten. Die Ur-Religion und die Geschichte des Volkes waren ineinander übergegangen, Märchen und Wirklichkeit hatten sich im Bewusstsein des Volkes zu einer großzügigen Geschlechtssage verwoben und waren zu Volksmärchen und Volksliedern geworden; ich zweifelte nicht, dass, wer das Vertrauen dieser einfachen und unverdorbenen Naturmenschen gewonnen hatte, auch in die Seele ihres Volkes Einblick gewinnen konnte.

Plötzlich hören wir ein Wimmern, das wie fernes verzweifeltes Kinderweinen klingt. Es kommt aus dem Eis, einem Überbleibsel vom vorigen Winter, das der Sommer nicht zu schmelzen vermochte und das das Innere unserer kleinen Bucht einschließt. Während das Hochwasser jetzt darüber hinwegspült, knirscht es, in seinen Grundfesten erschüttert, gegen die Schären. Dadurch entstehen jene menschlichen Seufzern ähnlichen Laute. Wir können uns ihrem Eindruck nicht entziehen, das Gespräch stockt. Nur die alte Klementine, die die unheimliche Stimmung von sich abzuschütteln versucht, richtet sich auf und blickt prophetisch durch die Dunkelheit. Ihr Mund bewegt sich, irgendwo muss etwas Schreckliches geschehen sein, wenn die Unterirdischen weinen, und wir wissen, dass sie uns mit einer kräftigen Beschwörung einkreist.

Klementine, die viel von geheimen Dingen weiß, erzählt uns von ihren verschiedenen Begegnungen mit den Unterirdischen, die sie vor ihrer Taufe gehabt hat. Alle wollten sie bezaubern und zum Bleiben bewegen, sie aber war die Stärkere. Von dem Augenblick ihrer Taufe an hatten sie ihren Weg nicht mehr gekreuzt, denn sie fürchteten sich vor ihr. Keiner von uns bezweifelte die Wahrheit dessen, was sie erzählte, denn die Unterirdischen leben in ihrer Welt wie die Menschen auf Erden. Doch nur ein Heide kann ihnen begegnen.

Schlimmer aber als diese gutmütigen und den Menschen stets hilfsbereiten Unterirdischen sind ihre Verwandten, eine Art Riesen, die aus tiefen Klüften und Abgründen emporwachsen, ganz plötzlich, aus der großen Stille, unter Gelächter und Hohngeschrei, häufig ganze Bootsbesatzungen, lauter Männer, die sich auf einsame Reisende stürzen. Oder sie erscheinen im halben Kajak und töten alle, die ihnen begegnen. Einer der Riesen im halben Kajak heißt Sarquiserassak und ist mit einer Frau verheiratet, die noch gefährlicher ist als er; sie wohnt hoch oben in den Bergen, hat lange eiserne messerscharfe Nägel an Händen und Füßen, mit denen sie imstande ist, selbst in den härtesten Oranit Löcher zu graben.

Klementine schweigt, als sie ihr Teil zu der unheimlichen Stimmung beigetragen zu haben meint; Apollonia aber, die jüngere, hat voll Ungeduld gewartet, und nun beginnt sie von dem übernatürlichen Leben in den Einöden zu erzählen.

Sie erzählt von den Mákákâjuit, jenen kleinen nackten Wesen, die auf den höchsten Felsgipfeln wohnen und von dort das Treiben der Menschen beobachten, um ihnen den Fang zu rauben.

Von Aqajarorsiorpua, dem lebenden Stein in Riesengestalt, der ganze Wohnplätze allein durch sein Erscheinen zu Tode erschreckt.

Von den Erqitaliten, den gefährlichsten Feinden des Menschen, die, halb Mensch halb Hund, nur aus Freude an Mord und Vernichtung töten.

Und sie erzählt vom Mond, der am meisten gefürchtet ist.

Wenn jemand sich der Weisheit und den Sitten der Vorfahren nicht beugen will, steigt der Mond zur Erde herab, um den Ungehorsamen zu züchtigen, und wem kein Geisterbeschwörer mit vielen und mächtigen Hilfsgeistern beisteht, der ist verloren.

Der Mond gebietet über Ebbe und Flut. Wenn die Ebbe nicht kommt, und den Tang längs der Küste aufdeckt, haben die Menschen in den mageren Zeiten nichts zu essen. Auch über die Fangtiere des Meeres und der Erde gebietet er: Denn er sorgt dafür, dass die Tiere sich vermehren und mannigfaltig werden, damit es den Menschen nicht an Nahrung fehle.

Und dann berichtet Apollonia von der Mutter des Meeres, Imapukua, die auf dem Grunde des Ozeans wohnt. Die Sünden der Menschen sammeln sich als Schmutz und Scherben in ihrem Haar und auf ihrem Lager, und aus Zorn darüber hält sie die Fangtiere zurück. Dann muss ein Geisterbeschwörer sie aufsuchen und reinigen, worauf sie aus Dankbarkeit von Neuem die Tiere zu den Menschen zurückkehren lässt.

Auch Asiaq, die Gebieterin über Wind und Regen, muss ein Geisterbeschwörer aufsuchen, wenn das Eis im Frühjahr nicht aufbrechen will, und er muss sie...


Rasmussen, Knud
Der grönländisch-dänische Polarforscher und Ethnologe Knud Johan Victor Rasmussen (geb. 7. Juni 1879 in Ilulissat, West-Grönland), war der erste, der die Nordwestpassage mit einem Hundeschlitten überquerte. Auf zahlreichen Expeditionen ergründete er den Lebensraum, die Kultur und die Lebensweise der Inuit, ihre Geschichte und Geschichten. Bis heute gilt er als einer der Pioniere in der Erforschung der Arktis. Für seine fundierte wissenschaftliche Arbeit fand er weltweit Anerkennung. Er starb am 21. Dezember 1933 in Kopenhagen.



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