E-Book, Deutsch, 640 Seiten
Reger Union der festen Hand
Neuausgabe 2022
ISBN: 978-3-7317-6218-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman einer Entwicklung
E-Book, Deutsch, 640 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6218-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erik Reger wird als Hermann Dannenberger 1893 in Bendorf am Rhein geboren. Der Sohn einer Bergmannsfamilie ist von 1920 bis 1927 Pressereferent bei der Friedrich Krupp AG in Essen und anschließend unter Pseudonym freier Schriftsteller. Für Union der festen Hand (1931) wird er mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet, der Roman wird von den Nazis verboten. Reger verfasst Romane und Erzählungen sowie ein Kriegstagebuch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er Lizenzträger, Mitherausgeber und Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel. Er stirbt 1954 in Wien.
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Zweites Kapitel
Man muss wissen, dass der derzeitige Besitzer des Stahlwerks, Herr von Zander oder »der Freiherr«, wie er kurz und unpersönlich von seinen Untergebenen genannt wurde, kein geborener Industrieller war, sondern aus der Uckermark stammte. Er war ein untersetzter Mann mit einer maskenhaften Starre im Gesicht, die ebenso wohl weltmännische Gewandtheit und diplomatische Undurchdringlichkeit wie ethischen Ernst oder bäuerische Zurückhaltung ausdrücken konnte. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in den Anschauungen und Gewohnheiten eines ostelbischen Grundbesitzers verwurzelt, war er durch seine Heirat mit der Alleinerbin des Stahlmagnaten Risch plötzlich in die erste Reihe der westdeutschen Großindustriellen gerückt. Dieser Übergang war so jäh gewesen und der Luftwechsel so umstürzend, dass eine gewisse Unsicherheit und kompromisslerische Schwäche die Folge waren. Nur schwer konnte er sich in die neue Rolle schicken, wo es ewig Schwierigkeiten und Aufforderungen zu schnellen Entschlüssen gab. Zum Glück hatten die Rischwerke, die zwar nach dem Tode des alten Risch formell in die »Gussstahlwerke Risch-Zander Aktiengesellschaft« umgewandelt, doch gleichwohl unangetasteter Familienbesitz geblieben waren, eine lange Tradition, und der Freiherr machte es sich zu seiner Lebensaufgabe, sie aufrechtzuerhalten.
Das Schloss, welches er bewohnte, war eines jener Gebäude, die wir mangels greifbarer architektonischer Substanz »imposant« zu nennen pflegen. Vielleicht kommt man der Sache am nächsten, wenn man sagt, dass es eine Kreuzung zwischen Akropolis und Walhalla war. Der alte Risch hatte die Villa bauen lassen, nachdem er fünfundzwanzig Jahre mitten in der Fabrik zugebracht hatte, in einem jener bescheidenen Herrschaftshäuser alten Stils, wie man sie zuweilen heute noch in Gebirgstälern neben kleinen Papiermühlen und Blaudruckfabriken antrifft: schmucklose Bauten, denen eine Rasenfläche mit Kiesweg, Rosenbeet und Springbrunnen den Ausdruck vornehmer Zurückgezogenheit gibt.
Es war nicht nach Rischs Kopf gewesen, dass er hier endlich ausziehen sollte, denn er liebte es, spartanisch zu erscheinen und mittels betont einfacher Lebensformen alle Geschäftsfreunde auf seine geringe Herkunft aufmerksam zu machen, damit sie an der zeitlichen Nähe zwischen der Abstammung von einem bankrotten Alteisenhändler und dem Aufbau dieses gewaltigen Stahlwerks desto besser seine Energie als Techniker und seine Klugheit als Kaufmann schätzen lernten. Aber er musste den Vorstellungen seiner Frau nachgeben, die in dem wachsenden Fabriklärm nicht mehr bleiben wollte und ein für ihre jetzige kommerzielle Stellung repräsentatives Haus verlangte.
Diese Nachgiebigkeit war beim alten Risch keine Folge ehelicher Gefühle. Gewohnt, alle ideellen Werte in materielle Spekulationen und alle persönlichen Beziehungen in geschäftliche Vorteile umzusetzen, galt ihm seine Frau kraft ihrer Siegerländer Verwandtschaft als »Handelsvermittlerin bei der Kleineisenindustrie«, und wenn er ihre Wünsche, die sie übrigens sehr entschieden äußerte, gelegentlich erfüllte, so geschah es eben, um einen Geschäftsagenten bei Stimmung zu erhalten.
Er kaufte also von einer Landgemeinde etliche Waldparzellen in der Nähe des Flusses. Die Pläne für die Villa entwarf er selbst, da er der Meinung war, dass ein Mann, der sich in seiner Branche hochgearbeitet habe, auf allen Gebieten als Selbstversorger auftreten müsse. So fertigte er nicht nur Konstruktionen für Geschütze und Waggongestelle, sondern auch Bilder und Gedichte für seinen Privatbedarf an, und selbst der Handwerker, der ein neues Türschloss anbringen sollte, bekam vorher eine Zeichnung von ihm in die Hand, aus der Lage und Zweck des Verschlusses ersichtlich waren.
Die Villa baute er ungefähr nach den Vorstellungen, die ein Mensch, der nie betrunken war, von den Phantastereien eines Weinrausches hat. Sein werktägliches Leben verlief knapp, sachgemäß und zielvoll, darum glaubte er, dass die Kunst als Gegengewicht sonntäglich aufgeputzt und mit sinnlosem Zierrat überladen sein müsse. So hatte alles seine Ordnung bei ihm, und die Villa mit der seltsamen Mischung von falschem Klassizismus und scheinheroischem Barock war folgerichtig aus seinem Wesen und seiner Lebensweise heraus entwickelt.
So wahr es ist, wenn man sagt, dass der alte Risch Talent und Charakter hatte, so bliebe es doch nur eine Teilwahrheit, wenn man nicht hinzufügte, dass er unter Charakter etwas ganz Bestimmtes, nämlich einen aparten Bürgerstolz verstand, das Selbstbewusstsein des Selfmademan gegenüber den Eigentümern von Ahnengalerien. Seine Frau hingegen war anderer Ansicht. Sie glaubte, dass es nunmehr für die arrivierten Bürger Zeit sei, mit Enkelkindern in die Ahnengalerien einzudringen. Darum hielt sie darauf, ihrer Tochter Alice einen Mann von Stand zu verschaffen. Unter allen möglichen Schwiegersöhnen, die sie auf zahlreichen Reisen in Augenschein genommen hatte, schien ihr der Freiherr von Zander der geeignetste zu sein. Schon als er noch Einjährig-Freiwilliger bei den Deutzer Kürassieren gewesen war, hatte er im Hause Risch verkehrt, und er war besonders empfohlen durch die Beziehungen, worin sein verstorbener Vater zu den Rischwerken gestanden hatte. Lange Jahre hindurch hatte dieser nämlich gegen Provision dem Verkaufskontor Risch in den Ministerien die Wege geebnet.
Bei aller Würdigung dieser Momente sträubte sich der alte Risch gewaltig gegen eine Familienverbindung mit dem Adel, und obwohl er zuletzt seiner Frau abermals im Interesse gewisser Kaufabschlüsse weichen musste, fand er noch einen Weg, um seinem Groll Luft zu machen. Er wies den Neuvermählten Wohnung im alten Fabrikhaus an und beschäftigte den Freiherrn gegen das übliche Assistentengehalt von jährlich 2340 Mark im juristischen Büro.
Das junge Paar musste sich gehörig einschränken. Der Freiherr musste wie jeder andere Angestellte einen Revers unterschreiben, wonach er sich dem allgemeinen Dienstreglement und den Vorschriften für Beamtenwohnungen unterwarf. Zum Beispiel durfte er in seinem Haus nichts verändern oder renovieren lassen, ohne vorher um Genehmigung nachgesucht zu haben, und sein Schwiegervater ahmte in der sarkastischen Beantwortung solcher Gesuche geflissentlich den alten Fritz nach. Es war also kein angenehmes Leben, zumal auch Frau Risch diese Tyrannei unter der Vorgabe, sie zu mildern, durch häufige belehrende Besuche eher unterstützte.
Nachdem aber der Alte von einer Lungenentzündung weggerafft worden war, rächte der Freiherr sich für diese Behandlung, indem er der prunkvollen Villa Risch bei seinem Einzug den Namen »Zandershöhe« verlieh. Indessen konnte er nicht verhindern, dass das Regiment darin auch weiterhin von seiner Schwiegermutter geführt wurde, die im Werk nach den Initialen der Vornamen ihres Mannes L.A. Risch allgemein »Frau Ella« hieß. Sie bewohnte einen weitläufigen Flügel, der die »Kemenate« genannt wurde. Dort veranstaltete sie ihre Audienzen, nicht bloß für Fremde, sondern auch für Familienangehörige. Selten betrat sie andere Räume des Hauses und niemals mehr die Wohnung der jungen Generation; aber weder in der Familie noch im Werk geschah etwas, ohne dass sie gefragt wurde.
Der Park von Zandershöhe grenzte unmittelbar an eine Bahnstation, die ihren Namen vom Schloss des Großindustriellen hatte. Sie lag ungefähr zwölf Kilometer westlich der Hauptstadt des Steinkohlenreviers, an einer Nebenstrecke, die sich durch ein anmutiges Flusstal schlängelte.
Freilich war der Fluss nur ein träger, schwärzlicher Wasserlauf, gekrümmt wie ein Schleichenlurch, verschlammt und verfettet von den Abwässern der Fabriken und Kohlengruben; unappetitliche Uferlachen schmarotzten an seiner Lebenskraft, Schilfinseln und Gewucher von Quellmoos und Froschlöffel bezeichneten die vielen seichten Stellen. Aber überall schoben sich die Ausläufer bewaldeter Hügel vor, unregelmäßig hintereinander gestaffelt wie ein zum Angriff formiertes Armeekorps auf der Karte des Feldherrn, und das silbrige Blau hundertjähriger Buchenstämme hinterließ selbst auf diesem trüben Gewässer einen Abglanz von Zartheit und Unberührtheit, Obgleich die Luft von den Abgasen der Zechen und Hütten noch ein wenig dick blieb, war sie doch schon sehr gereinigt durch die feuchte Kühle des Laubes, die Würze des Kuhmistes und den säuerlichen Dunst der Melkeimer. Die ganze Niederung war besprenkelt mit weißgekalkten Bauernkotten, Gartenlokalen, Fruchtäckern, Tennisplätzen, Bootshäusern, Wiesen und Viehherden.
Deshalb war es, wenn man genau hinsah, keine richtige, naive Landschaft, sondern eher ein gesetzlich geschütztes Erholungsgelände, das sich anstrengte, mit idyllischen Abwechslungen und einer verhältnismäßig gesunden Vegetation den berechtigten Ansprüchen der Industriebevölkerung auf Naturgenuss entgegenzukommen, und überdies mit einer Fülle von Sommerwirtschaften und »schönen Aussichten« zur Lösung der sozialen Frage beizutragen. Sonntags drängten sich auf diesem Fleck Tausende von Ausflüglern zusammen. Infolgedessen war der Bahnhof Zandershöhe, so einsam er die meiste Zeit dalag, ziemlich groß. Wie es sich in einem sozial denkenden Staat gebührte, erfreuten gefällige Anlagen mit Steingrotten und gewundene Treppen mit Geländern aus Naturholz das Auge der abgearbeiteten Städter. Ein Separatausgang führte in den Park des Freiherrn, weshalb die Station allgemein der »Zandersche Privatbahnhof« hieß.
Natürlich fuhr der Freiherr nicht mit der Eisenbahn ins Geschäft. Er hatte einen prachtvollen, tadellos ausgerüsteten Mercedeswagen, Fabrikationsjahr 1914; doch traf er zuweilen von einer weiten Studienreise mit dem Sonderzug hier ein (denn zur Erholung oder zum...