Reichholf | Waldnatur | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Reichholf Waldnatur

Ein bedrohter Lebensraum für Tiere und Pflanzen

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-96238-897-3
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Der Wald bedeutet für jeden etwas anderes: Für die einen ist er ein wichtiger Klimaschützer, für andere ein Raum der Erholung oder sportlichen Betätigung, für die nächsten ein wirtschaftlicher Faktor, der Holz zu liefern hat.

Josef H. Reichholf nimmt uns mit auf eine Reise in heimische Wälder, klärt auf und begeistert, ordnet ein und überrascht. Er durchwandert urwaldartige Auwälder und Fichtenforste; erkundet den blühenden Frühsommer ebenso wie den vermeintlich kargen Winter; blickt zurück in die Geschichte der Waldnutzung und voraus in die ungewisse Zukunft vieler Baumarten. Indem er das große Ganze ebenso betrachtet wie mikroskopisch kleine Vorgänge, macht er die Vielfalt der Natur im Wald greifbar und liefert eine augenöffnende Einführung in einen der wichtigsten Lebensräume unseres Planeten.
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Einführung Ein Frühlingstag im Auwald   Jeder Waldgang hat seinen Reiz, so wir offen dafür sind, anzunehmen, was die Waldnatur gerade bietet. Im Jahreslauf fällt das sehr unterschiedlich aus. Zudem sind die Vorlieben recht verschieden. Manche Menschen mögen den Wald am liebsten, wenn das Laub die Herbstfärbung angenommen hat, die Luft mild wurde und man nicht mehr von Insekten belästigt wird. Andere stapfen am liebsten im Winter bei Schnee durch den Wald. Die meisten Menschen gehen im Sommer in den Wald. Doch auf das, was es zu sehen und zu hören gibt, achten sie im Frühjahr am intensivsten. Die Gesänge der Vögel animieren sie dazu, und ganz besonders die Blumen. In diesem Sinne reagiere ich also ganz normal, wenn es mich im April bei schönem Wetter in den Auwald zieht. Da erliege ich jedes Jahr wieder der Faszination von Kuckucksruf, Grasmückengesang, Rotkehlchentriller und den Blütensternchen der Buschwindröschen, Gelben Windröschen, Blausterne und anderer Frühlingsblumen, die den Boden des Auwaldes bedecken. Meistens komme ich mit einem bestimmten Vorhaben. Dann muss ich darauf achten, mich von der Frühlingsflut nicht allzu sehr ablenken zu lassen, die über Auge und Ohr über mich hereinbricht. Mitunter weiß ich nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Zählungen habe ich vor, Bestandsaufnahmen, um langjährige Entwicklungen verfolgen zu können. Aber dann singt plötzlich, früher als sonst, schon ein Fitis. Ich muss ihm zuhören, obwohl ich unzählige Male Fitisse singen hörte, muss dem Flug eines Zitronenfalters folgen, weil sein Gelb meinen Blick anzieht, wie das Liedchen des Fitis das Ohr. Der Himmel ist föhnblau, die Luft mild. Bussarde kreisen und rufen miauend, damit anzeigend, dass sie ein Brutrevier besetzt haben. Ein bräunlicher Falter eilt vorüber. Er fliegt fast genau in meiner Kopfhöhe und weicht von seiner Flugbahn nicht ab. Er ist unterwegs nach Norden. Die Föhnströmung hat ihn über einen Alpenpass getragen und nun strebt er hinaus ins Alpenvorland. Ich weiche einen Meter zur Seite, um seine Flugbahn nicht zu stören. Beim Zitronenfalter ist das nicht nötig. Er umfliegt mich und setzt seinen ohnehin im Zickzack verlaufenden Flugkurs fort. Bis er auf einen zweiten trifft und mit diesem einen kurzen Luftkampf ausführt. Ein Ansatz zum Revierverhalten ist das; bei Schmetterlingen nicht sehr ausgeprägt, aber bei manchen Arten zumindest ansatzweise vorhanden. Ein frühes Waldbrettspiel Pararge egeria meint es ernster, als wir am Weg in der Au aufeinandertreffen. Der bräunliche, gelblich gefleckte Falter fliegt mir fast an die Nase. Kein Zweifel, er versucht mich zu vertreiben. Die Männchen des Waldbrettspiels wählen eine Strecke von ein paar Dutzend Metern als Revier. Sie fliegen in diesem in einem bis eineinhalb Meter Höhe und verjagen andere Falter daraus. Zwischendurch, wenn die Luft noch kühl ist, auch längere Zeit, sitzen sie auf einem Ästchen und halten Wache. Oder sie wärmen sich am Boden auf. Das dauert einige Minuten, dann beziehen sie wieder ihren Ausguck. Es amüsiert mich, dass mich so ein Schmetterlingsmännchen zu vertreiben versucht. Ob es bei Rehen wirkt, die in der Größe infrage kämen? Bei Wildschweinen wohl nicht, deren Suhle ich gleich zu Beginn der Exkursion aus gebührender Distanz kontrollierte, ob die Rotte da ist und Frischlinge mit dabei sind. Ich will sie nicht stören. Sie werden ohnehin so intensiv verfolgt. Beim so großäugigen Reh kann ich mir vorstellen, dass der Anflug des Falters ein Ausweichen bewirkt. Gefährdet ist er dabei nicht. Wie auch ich ihn nicht gefährde, nur bewundere. Dabei hat er mich prompt vom Ziel der Exkursion abgelenkt. Ölkäfer sind es, weswegen ich genau dieses Auwaldstück am Inn aufgesucht habe. Der Austrieb der Traubenkirschbüsche signalisiert, dass es genau die richtige Zeit sein sollte, nach ihnen zu schauen. Die höchst komplizierte Lebensweise der Ölkäfer beschäftigt mich seit Jahren. Nur wenig davon bekommt man in den Frühlingstagen zwischen Ende März und Mitte oder Ende April mit. Etwas mehr, wenn der Frühling nasskalt verläuft, weil sich dadurch vieles verzögert. Ist es ein Super-Frühling, wie einige Male im letzten Jahrzehnt, läuft mir die Zeit davon, in der die so unförmigen Ölkäfer zu beobachten sind. Die Blauen Ölkäfer Meloë violacea, wie zu präzisieren ist. Was ich heute von ihnen zuerst entdecke, sind ihre Larven. Als schwarze, etwas dicklich geratene Striche mit winzigen Beinchen sitzen sie auf den Blüten von Buschwindröschen, von Gelben Windröschen und der Roten Pestwurz. Vor allem an solchen Blüten finde ich sie, die nahe am Wegrand stehen. In manchen haben sie sich zu einem Klumpen im Zentrum der Blüte zusammengeballt. Nähere ich mich, um zu fotografieren, löst sich dieser blitzschnell auf. Die Larven eilen zu den Rändern der Blütenblätter und verharren daran. Meine Annäherung wirkte also ähnlich wie eine anfliegende Biene. Diese wäre ihr Ziel. Sie springen die Blütenbesucherin an, halten sich an ihrem Pelz des Brustteils fest und lassen sich zu ihrem Nest tragen. Dieses hat die Sandbiene tief im Boden angelegt, mit einer Pollenkugel ausgestattet und für die eigene Larve vorbereitet. Die Ölkäfer sind Parasiten. Die eingeschleppten Larven verzehren Ei oder Larve der Bienen und deren Pollenkugel. Dabei wandeln sie sich in eine andere Larvenform um. Sie müssen eine ganze Anzahl von Einzelnestkammern der Sandbienen ausfressen, um groß genug für die Verpuppung zu werden. Die fertigen Käfer sind mehr als zwanzigmal so schwer wie eine Sandbiene. Mit dem Leben der Ölkäfer befasse ich mich, weil noch viele Fragen offen sind. Der weitaus größte Teil ihres Lebens spielt sich unterirdisch im Verborgenen ab. Doch auch das, was sichtbar an der Erdoberfläche geschieht, steckt voller Rätsel. So finde ich Ölkäferlarven fast immer schon bevor ich die ersten Käfer entdecke. Also müssen die Gelege den Sommer und Winter überdauert haben und die Larven können erst im Frühjahr mit dem Aufblühen der Windröschen und dem Hervorkommen der Sandbienen geschlüpft sein. Deshalb will ich versuchen, möglichst viele Paarungen mitzubekommen, und vielleicht auch die Eiablage der Ölkäferweibchen. Und anderes mehr. Zum Beispiel, welche Wildbienen die Ölkäferlarven tragen. Als Wirte geeignet sind nur wenige. Larven des Blauen Ölkäfers warten auf einer Buschwindröschenblüte auf Sandbienen, in deren Nestern sie schmarotzen. Im Frühlingsauwald wird sehr deutlich, wie Temperatur und Licht zusammenwirken. Die Weidenkätzchen blühen. Weithin sichtbar ist dies, weil sie nicht mehr silbrig glänzen, sondern gelb überzogen sind. Die Sandbienen fliegen zu ihnen hinauf und holen Pollen. Die Kätzchen sind viel ergiebiger als die für uns so auffälligen Blütensterne der Gelben und der Weißen Windröschen am Auwaldboden. Die Larven der Ölkäfer krabbeln zu diesen empor und platzieren sich in die Blüte. Die Weidenkätzchen wären völlig außer ihrer Reichweite. Aber wie finden die nur wenige Millimeter langen Larven die Blüten, die sich dem Licht entgegenrichten? Vom Boden aus können sie diese nicht sehen. Dennoch sitzen oft sogar zehn bis zwanzig von ihnen in so einer Anemonenblüte. Ich kann nur vermuten, dass sie hineinkriechen, wenn sich die Blüte abends glöckchenförmig zur Schlafstellung nach unten neigt. Hinzu kommt, dass die Ölkäfer hier im blütenreichen Auwald herumlaufen und sich paaren, wobei sie aus den Sandbienenkolonien kommen, die draußen am sonnigen Rand angelegt sind. Dutzende Meter entfernt. Darin haben sie sich entwickelt. Nach dem Auskriechen streben sie in den Auwald, fort von den Nestanlagen der Bienen. Wie finden sie den Auwald? Wie darin die besonders blütenreichen Stellen? Die Ölkäfer haben keine Flügel. Ihre geschwollenen Körper sind unförmig und gewiss nicht leicht zu bewegen. Die Paarung fällt offenbar auch nicht gerade leicht; die Hinterleiber sind zu dick. Doch genug davon, das Leben der Ölkäfer ist noch viel komplizierter. Was in dem schmalen Zeitfenster von Ende März bis April davon zum Ausdruck kommt, ist die komplexe Verbundenheit mit ganz anderen Abläufen im Auwald. Laubaustrieb und Erblühen der Weidenkätzchen, Blütezeit der Windröschen und ihre Häufigkeit, Sonnenstunden, die den dickleibigen Käfern genügend Wärme geben, und andere Umweltfaktoren wirken zusammen. Die Zitronenfalter fliegen, die bunten Kleinen Füchse wandern, Mönchsgrasmücken sind zurück und singen. Und zwar bereits »richtig« im Sinne der Abgrenzung von Brutrevieren, während die Fitisse vielleicht nur singen, weil ihnen zumute ist bei dem schönen Wetter auf ihrer Zwischenrast im Rückzug ins Brutgebiet irgendwo in den Birkenwäldern Skandinaviens. In den Büschelchen von Traubenkirschblättern, die dem Auwald in dieser Zeit schon mehr Grün verleihen als die Grauerlen und die Silberweiden, die beiden Hauptbaumarten dieser Weichholzaue hier, werde ich winzige Räupchen finden, die angefangen haben, erst kaum sichtbare Gespinste zu fabrizieren. Traubenkirschen-Gespinstmotten sind es. Von ihnen wird ausführlicher berichtet, weil sie ein Beispiel dafür sind, wie Bäume unter für sie natürlichen Lebensbedingungen mit der Massenvermehrung eines Insekts zurechtkommen, das Kahlfraß verursacht. Aus der Zahl der frischen Triebe, in denen ich die gerade aus den Eiern geschlüpften Räupchen finde, lässt sich eine erste Prognose ableiten, ob es wieder zu Kahlfraß kommt oder ob wenige Wochen später die Traubenkirschbäume blühen und den Auwald mit ihrem Duft erfüllen werden. Längst weiß ich, dass die Prognose fehlschlagen kann, wenn ein Spätfrost die noch winzigen Raupen trifft und vernichtet. Erfrieren dabei auch die Blütenanlagen, gibt es weder Duft noch die kleinen schwarzen...


Reichholf, Josef H.
Josef H. Reichholf ist einem breiten Publikum als Autor zahlreicher Sachbücher bekannt, darunter mehrerer Bestseller. An der TU München lehrte er 30 Jahre Gewässerökologie und Naturschutz. Jahrzehntelang führte er Forschungen an Inn und Isar durch. Er gehört zu den 40 prominentesten Naturwissenschaftlern Deutschlands (Cicero-Ranking) und wurde mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet.


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