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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Retzlaff Familien-Stärken

Behinderung, Resilienz und systemische Therapie

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-608-20123-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Welche Stärken zeichnen Familien behinderter Kinder aus, denen es gelingt, 'trotz alledem' ein erfülltes Leben zu führen? Und wie können Beratung und Therapie diese Stärken fördern? Rüdiger Retzlaff untersucht, wie Akzeptanz und Resilienz entstehen und gibt detaillierte Anleitungen für die ressourcenorientierte Arbeit.

Das Leben mit einem behinderten Kind ist für Eltern eine große Herausforderung - doch viele Familien kommen mit ihrer Lebenssituation bemerkenswert gut zurecht. Welche Stärken zeichnen kompetente Familien aus, denen es gelingt, 'trotz alledem' ein erfülltes Leben zu führen? Und wie können Beratung und Therapie diese Stärken fördern? Ausgehend von Konzepten der systemischen Therapie, der Familien- und Kohärenzforschung und Interviews mit Familien vermittelt Retzlaff ein Verständnis davon, welche Familienmuster und Einstellungen dazu beitragen, dass Akzeptanz und Resilienz entstehen. In einem ausführlichen praktischen Teil finden Berater konkrete Hinweise und detaillierte Anleitungen für die ressourcenorientierte Arbeit, die gezielt die Stärken von Familien behinderter Kinder ansprechen.

Zielgruppen:

- Systemische Familientherapeuten
- Kinderärzte
- BeraterInnen aus Frühfördereinrichtungen, Sozialpädiatrischen Zentren, Rehabilitationseinrichtungen, Sonderpädagogischen Beratungsstellen, Kinderkliniken
- Betroffene
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Weitere Infos & Material


INHLAT
Vorwort 9
I Grundlagen
1 Einleitung 15
2 Behinderungen 21
2.1 Einführung 21
2.2 Körperliche Behinderungen 25
2.3 Geistige Behinderung 26
2.4 Genetisch bedingte Syndrome und Behinderungen 29
2.5 Das Rett-Syndrom. 31
2.6Seelische Behinderung 32
2.7 Chronische Krankheiten 33
2.8 Schwermehrfachbehinderung 33
2.9Zusammenfassung 35
3 Familie und Behinderung 36
3.1 Einführung 36
3.2 Das Modell der familiären Anpassung an Behinderung und chronische Krankheit 37
3.3 Stresserleben und Behinderung 59
3.4 Studien zu kompetenten Familien 72
3.5 Zusammenfassung 78
II Theoretische Modelle
4 Familien-Stresstheorie 81
4.1 Einführung 81
4.2 Das ABCX-Modell 81
4.3 Die Balance von Ressourcen und Stressoren 84
4.4 Ressourcen 85
4.5 Bedeutungsgebungsprozesse im Familien-Stressmodell 88
4.6 Bedeutungswandel und soziokulturelle Faktoren 91
4.7 Zusammenfassung 92
5 Familienresilienz 93
5.1 Einführung 93
5.2 Resilienz als individuelles Merkmal 93
5.3 Resilienz von Familien 95
5.4 Schlüsselprozesse der Familienresilienz 98
5.5 Kritische Anmerkungen zum Resilienzbegriff 110
5.6 Zusammenfassung 111
6 Das Familien-Kohärenzgefühl 113
6.1 Einführung 113
6.2 Kohärenz als individuelles Konstrukt 113
6.3 Kohärenz auf Familienebene 121
6.4 Eigene Untersuchungen mit dem Familien-Kohärenzbogen 127
6.5 Zusammenfassung 136
7 Narrative Ansätze 138
7.1 Einführung 138
7.2 Narrative als Sinnstrukturen menschlichen Erlebens 138
7.3 Krankheit und Bedeutungsgebung 139
7.4 Leitmotive in krankheitsbezogenen Narrativen 144
7.5 Familiengeschichten und therapeutische Zugänge 145
7.6 Zusammenfassung 146
8 Kohärenzerleben aus Familiensicht 147
8.1 Einführung 147
8.2 Narrative Typenbildung 149
8.3 Geschichte der wiedergefundenen Balance 151
8.4 Geschichte vom langen, mühsamen Weg bergauf 160
8.5 Zusammenfassung 167
III Therapie und Beratung
9 Beratungspraxis 179
9.1 Einführung 179
9.2Allgemeine Beratungsprinzipien 183
9.3 Aufgaben in der akuten Anpassungsphase 187
9.4Aufgaben in der mittleren Anpassungsphase 201
9.5 Aufgaben in der langen Anpassungsphase 244
9.6Persönliche Themen von Beratern 246
Anhang
Überregionale Behindertenverbände und Selbsthilfegruppen 251
Literatur 252
Personenregister 281
Sachregister 287


Vorwort
Ein Wort nur, es ist doch nur ein Wort: 'Behinderung'. Doch Worte sind nicht harmlos, Beschreibungen können in das Beschriebene eingreifen und es verändern, indem sie es mit besonderen Bedeutungen versehen. 'Behinderung' ist eine dieser Beschreibungen, die die Kraft haben, Leben zu verändern, Lebenswelten durcheinander zu schütteln. Unsere Kultur hat hier große Fortschritte gemacht; die Haltung zum Thema Behinderung in der Gesellschaft hat sich gewandelt, von der Schule bis zu den Olympischen Spielen stehen die Zeichen auf Integration. Und doch sind bis heute die Betroffenheit und die Hoffnungslosigkeit, in die Menschen hineinfallen können, groß, wenn sie mit diesem Wort konfrontiert werden. Entsprechend groß sind die Belastungen, denen sich die Familien mit dieser Diagnosestellung gegenübersehen.
In dem vorliegenden Buch wird davon ausgegangen, dass Belastung nur die 'eine Seite der Medaille' ist. Die andere Seite zeigt sich darin, dass eine Behinderung Menschen auch dazu herausfordern kann, ungeahnte Stärken zu entwickeln. Menschen können eine Widerstandsfähigkeit gegenüber der Bedrohung und der Belastung zeigen, die sie sich selbst nie zugetraut hätten. Der in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit bedeutsam gewordene Begriff heißt Resilienz. Er ist im Gegensatz zu 'Behinderung' ein 'polysemantisches' Wort, d.h. es können sich daran viele neue Bedeutungsfelder und Geschichten ankoppeln. Denn der Begriff Resilienz weist darauf hin, dass Menschen auch mit sehr massiven Belastungen ganz unterschiedlich umgehen können. Behinderung geht nicht zwangsläufig mit Stress einher, mündet nicht zwangsläufig in einer schicksalhaften Katastrophe. Wenn es gelingt, den Assoziationen, die der Begriff nahe legt, 'entdämonisierende' eigene Sinnzuschreibungen entgegenzustellen, dann können in der vermeintlichen Belastung auch besondere Kräfte entfaltet werden. Ich persönlich habe in der Arbeit mit Familien mit chronisch kranken Kindern mehr als einmal gehört, dass sie die Krankheit auch als 'Glück' bezeichneten - so schwer ich als Nicht-Betroffener dies nachvollziehen konnte. Die Familien beschrieben die Erfahrung als eine besondere Qualität, auch im positiven Sinn 'anders als andere Familien' zu sein:
-im Alltag in vielen Momenten das Geschenk, lebendig zu sein, bewusst zu spüren,
-symptomfreie Momente und kleine Besserungen beglückend zu erleben und
-die Beziehungen zueinander intensiv und stark wahrzunehmen.
Die von Rüdiger Retzlaff in diesem Buch veröffentlichten Studien zeigen, dass es möglich ist, Familien darin zu unterstützen, solche Qualitäten für sich nutzbar zu machen, Resilienz zu entwickeln. Dazu gehört als Wesentlichstes, nicht beim 'Stigma' und der 'Unveränderbarkeit' stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen, sich Unterstützung zu holen, Information aufzunehmen und zu verarbeiten und miteinander in Gesprächen zu bleiben. Die Erfahrungen lassen sich in Geschichten wiederfinden. Sie können zu Geschichten davon werden, wie Hoffnungslosigkeit durch eigene Sinngebung und durch Beziehung gebannt werden kann. Die beiden Typen von 'Resilienzgeschichten', die von der 'wieder gefundenen Balance' und auch die mühevollere 'vom langen, mühsamen Weg bergauf' sind in diesem Buch eindrückliche Belege für diese Prozesse.
Fachleute sind in diesen Prozessen nicht einfach 'objektive Beobachter', sondern sie sind intensiv mit einbezogen. Sie sind mit beteiligt daran, wie Behinderung erlebt wird, denn diese wird durch den Akt der Versprachlichung und Benennung (auch) eine soziale Konstruktion. Spätestens von dem Moment der Diagnose an re-agieren Fachleute nicht nur auf die Behinderung, sondern sie konstruieren die Phänomene mit, mit denen sie es zu tun haben. Daher ist es besonders wichtig, sensibel für den genauen Auftrag zu sein, mit dem man arbeitet. Die Metaphorik, die sich so schnell bei 'Behinderung' einstellt, darf nicht zu einer 'Problemtrance' des Therapeuten führen. Es sollte etwa nicht unhinterfragt davon ausgegangen werden, dass die jeweilige Familie emotional bedürftig sei und dringend eine Behandlung brauche. Im Gegenteil: Der Blick auf das Potential an Resilienz, das die Familie mitbringt bzw. entwickelt hat und entwickeln kann, hilft aus der Trance heraus. Weit entfernt von reinem Krankheits- oder Belastungs-'Management' geht es hier darum zu verstehen, also um komplexe Prozesse der Sinngebung. Es kann sinnvoll sein, als Fachperson der Familie eine ganze Reihe nützlicher Informationen zu geben und sie in Fragen des Umgangs miteinander zu beraten. Darüber hinaus aber kann man auch von diesen Familien lernen und erfahren, wie Menschen mit den Herausforderungen umgehen, vor die sie das Schicksal gestellt hat. Es kann sein, dass man als Therapeutin oder Therapeut/Beraterin oder Berater beeindruckt ist von der enormen Kraft, die dann entstehen kann, wenn jemand dieses Schicksal annimmt, sich ihm stellt und an ihm wächst. Wohl so mancher Profi mag sich fragen, ob er/sie in einer vergleichbaren Lage zu ähnlichen Leistungen in der Lage wäre - zumindest kann ich persönlich sagen, dass ich mir diese Frage mehr als einmal gestellt habe.
Doch sollen diese Familien hier auch nicht verklärt werden. Natürlich bleibt auch die Belastung bestehen und es gibt viele Familien und Eltern, die länger andauernde Unterstützung wünschen und brauchen. Und natürlich sind auch die soeben beschriebenen Reifungsprozesse alles andere als 'ein Spaziergang'. Die Auseinandersetzungen, die Konfrontation mit heftigen eigenen und fremden Gefühlen hinterlassen ihre Spuren, die manchmal aufgearbeitet werden wollen. Es ist daher gut, dass das Buch neben dem Aufzeigen der beschriebenen Dynamiken auch ein ausführliches Kapitel über Beratungspraxis enthält. Hier wird deutlich, dass es weniger um das korrekte Anwenden therapeutischer Instrumentarien geht als vielmehr darum, einen verstehenden Rahmen bereitzustellen, der den Betroffenen hilft, eine eigene kohärente Geschichte zu entwickeln - im gelegentlichen Innehalten, in der Rückschau und der Reflexion des eigenen Weges. Die Anregungen, die für die BeraterInnen dabei gegeben werden, sind weniger technischer Art (obwohl es auch diese gibt). Vielmehr helfen sie, die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Sie sind geeignet, gemeinsam mit der Familie nach einer neuen Geschichte zu suchen, die einen passenden integrierenden Sinnrahmen bietet - innerhalb dessen die Behinderung einen angemessenen Platz erhält: nicht als alles überschattendes Zentrum des Lebens, wohl aber als ein wichtiger und nicht wegzudenkender Teil der Familie.
Ich wünsche diesem wichtigen Buch viele Leserinnen und Leser, die sich anregen und bewegen lassen, auf die Geschichten betroffener Familien zu hören, Geschichten zu erzählen und neue Geschichten zu (er-)finden.
Arist v. Schlippe Osnabrück/Witten, im Mai 2010
TEIL I Grundlagen
1 Einleitung
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Friedrich Hölderlin
Dieses Buch befasst sich mit dem Zusammenhang von Schlüsselfaktoren, die zur Resilienz von Familien mit Kindern mit Behinderungen beitragen. Die Zahl der Kinder, die an einer körperlichen oder geistigen Behinderung leiden, ist beträchtlich. Die Mehrzahl von ihnen lebt in ihren Familien und ist auf lange Zeit auf deren Fürsorge, Unterstützung und Liebe angewiesen. Die meisten Kinder sind in der Lage, mit zunehmendem Alter mehr Verantwortung für sich zu übernehmen, und erreichen ein höheres Ausmaß an Autonomie (Seiffge-Krenke 1996). Bei schwer mehrfachbehinderten Kindern ist dies jedoch nur sehr bedingt der Fall. Ungeachtet der Fortschritte der Medizin kann bei ihnen kaum auf eine substanzielle Besserung ihrer Einschränkungen gehofft werden. Ihre Eltern bleiben über einen großen Teil der Lebensspanne hinweg in einer verantwortlichen Position und leisten über viele Jahre hinweg Langzeitpflege. Betroffene Familien sind deshalb mit großen, sich ständig wandelnden physischen, psychischen, sozialen und finanziellen Herausforderungen konfrontiert.
Die Eltern von Kindern mit Behinderung sind oft hochgradig belastet. Die Auswirkungen der Behinderung eines Kindes auf das Leben der Angehörigen werden in der wissenschaftlichen Literatur als ein kritisches Lebensereignis oder als burden konzeptionalisiert. Das Ausmaß elterlicher Hilfeleistungen und der Akzeptanz des Kindes werden allgemein unterschätzt (Eike & Braksch 2009). Zahlreiche Studien bestätigen den hohen Belastungsgrad der Angehörigen; manche Fachleute zeichnen - anders als eine große Anzahl betroffener Familien (Wikler 1981a) - ein wenig positives Bild von der Situation der Familien (Cummings et al. 1965, Cummings 1976, Floyd & Saitzyk 1992, Olshansky 1962), das vorwiegend Pathologie, Defekte, Mängel und neurotische Entwicklungen fokussiert.1 Viele Forscher neigen dazu, jedwede Besonderheit und Variationen normaler Familienprozesse als 'typische' Behinderungsauswirkung fehlzuinterpretieren und damit den Fokus vornehmlich auf Defizite zu richten (Antonovsky 1993, Beavers 1989).
In der Medizin, der Psychologie und Psychotherapieforschung hat sich in den vergangenen Jahren neben der pathogenetischen eine ressourcenorientierte Sichtweise etabliert (Holtz & Nassal 2008, Kazak & Marvin 1984). Sie befasst sich mit Faktoren, die zur Resilienz von Menschen und von Familien beitragen und helfen, mit widrigen Lebensumständen fertig zu werden. Für die Situation von Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben, spielen viele verschiedene Ressourcen eine Rolle. Familien2 von Kindern mit Behinderung sind nicht homogen; auch bei schweren Behinderungen eines Kindes entstehen keineswegs in allen Familien Stresssymptome oder dysfunktionale Beziehungsmuster. Die erlebte Stressbelastung, die Qualität der Bewältigung und die Langzeitanpassung hängen nicht ausschließlich von objektiven Faktoren wie dem Grad der körperlichen Beeinträchtigung ab. 'Trotz alledem' kommen viele betroffene Familien mit den Folgen schwerer Krankheiten und Behinderungen bemerkenswert gut zurecht und zeigen gegenüber widrigen Lebensumständen Resilienz (Beavers et al. 1986, Goldstein Brooks 2005, Hastings & Taunt 2002, Patterson 1988).
Obwohl die Ressourcenorientierung gerne als Markenzeichen der systemischen Therapie verstanden wird (Schiepek 1999, Sydow et al. 2007), wurde das Thema 'Familie und Behinderung' in der deutschsprachigen Literatur mit wenigen Ausnahmen vernachlässigt (Ahlers 1992, Rotthaus 1996, Schubert 1987, Sorrentino 1988). Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe fundierter systemischer Modelle, Konzepte und therapeutischer Vorgehensweisen, die sich in der Arbeit mit Familien von Kindern mit Behinderungen bewährt haben. Die systemische Familienmedizin, die Familien-Stressforschung, die Familien-Resilienzforschung und die salutogenetische Forschung befassen sich mit Faktoren, welche die Resilienz von Familien fördern und auf lange Sicht zu einer günstigen Anpassung beitragen.
All dies spricht für eine resilienz- und familienorientierte Perspektive bei der Untersuchung und Beratung von Familien mit von Behinderung betroffenen Kindern (Imber-Coppersmith 1984). Das Resilienzparadigma erscheint für die Zusammenarbeit mit Eltern von Kindern mit Behinderung im Rahmen der Frühförderung als eine sinnvolle Orientierung. Es vermeidet eine Pathologisierung, würdigt die herausfordernden Lebensumstände der Familien und versucht im Sinne einer gesundheitsfördernden Zugangsweise, die Eltern in dieser Situation zu unterstützen.
Aus systemischer Perspektive sind drei Klassen von Phänomen zu unterscheiden, die Auswirkungen auf den Umgang mit einer Behinderung haben und die unterschiedliche Ansatzpunkte für Therapie und Beratung bieten: Greifbare Belastungen der Familie. Dabei handelt es sich um Einschränkungen, die durch eine Behinderung oder Krankheit hervorgerufen werden, und objektivierbare Daten, zum Beispiel die Kinderzahl, weitere Belastungsmomente wie Krankheiten der Eltern und anderes mehr. Diese Ebene der 'harten' Wirklichkeitsbeschreibungen ist durch diagnostische Inventare, Pflegegutachten und medizinische Befunde abbildbar.
Funktionsweise und Prozesse von Familien. Dies ist der klassische Gegenstandsbereich der Familienforschung und der systemischen Familientherapie - Interaktionen, Kommunikation, Grenzen und Konflikte innerhalb der Familien und mit externen Systemen, affektiven Prozessen sowie die Verteilung von Aufgaben. Diese Ebene der Wirklichkeit ist deutlich 'weicher' und bezieht sich auf Familien als soziale Organisation. Sie wird üblicherweise durch Beobachtungsverfahren und Fragebogeninventare erfasst. Die Bedeutung von gängigen Formulierungen wie 'level of family functioning' oder 'the quality of family processes in a given family' zu übersetzen, ist nicht einfach. Weitaus stärker als im deutschen Sprachraum ist in der amerikanischen Familientherapie-Tradition die Idee verbreitet, dass eine Familie als soziales System, als ein Team betrachtet werden kann, das seine Aufgaben mehr oder weniger gut erfüllt und besser oder schlechter mit neuen Anforderungen zurechtkommen kann (Beavers & Hampson 1993, Cierpka & Stasch 2003, Cierpka et al. 2005). Mit family functioning oder Funktionsweise der Familie ist hier gemeint, inwieweit eine Familie ein gut aufeinander abgestimmtes Team bildet oder eine lose Gruppierung, die nur wenig miteinander verbunden ist (Patterson 2002a). Die systemische Organisationsberatung beruht auf der Annahme, dass in sozialen Organisationen ein Zusammenhang zwischen einer effektiven Aufgabenerfüllung und der Qualität der Kommunikationsabläufe, des Team-Zusammenhalts, der Flexibilität beim Lösen von Problemen in ungewohnten Situationen und gemeinsamer Team-Überzeugungen besteht (Schmidt 2004); dies gilt analog auch für Familien.
Familiäre Glaubenssysteme sind auf den Lebenswelt-Erfahrungen der Familien und ihren Familien-Geschichten begründet. Dies ist die Ebene einer 'weichen Wirklichkeitskonstruktion'. Als geteilte Konstrukte lenken sie die Wahrnehmung und prägen das Handeln der Familie. Familienparadigmen können aus dem Handeln und der Interaktion von Familien erschlossen werden - durch Beobachtung der Familieninteraktion, durch Befragungen und die Rekonstruktion von Leitmotiven aus den Narrativen von Familien.
Für eine präventiv orientierte Beratung von Familien mit Kindern mit Behinderung ist ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen der Ausprägung von Krankheiten und Behinderungen, Familienfunktionen und Familienkohärenz von entscheidender Bedeutung. Wiederholt wurde die Forderung nach Beratungsangeboten zur Stärkung der Resilienz für diese Familien erhoben (Hintermair 2002, Sarimski 1998a). In Deutschland gibt es zwar ein breit gefächertes Angebot an Einrichtungen für Kinder im Vorschulalter in Frühförderstellen und sozialpädiatrischen Zentren. Trotz des gut ausgebauten psychosozialen Versorgungsnetzes gelten die vorhandenen psychotherapeutischen Angebote für Menschen mit Behinderungen als unzureichend (Hoppe 2009, Ramisch & Franklin 2008, Werther 2005); insbesondere fehlen familienorientierte Beratungskonzepte. Das vorliegende Buch befasst sich mit folgenden Fragen, die für die Beratung betroffener Familien relevant sind:
-Welche Auswirkungen haben Behinderungen eines Kindes auf das Leben von Familien?
-Was hilft Familien, die mit der Behinderung eines Kindes zurechtkommen?
-Wie gelingt es manchen Familien, 'trotz alledem' ein gutes Leben zu führen?
-Welche Familienfunktionen, Haltungen, Rollenverteilungen und familiären Glaubenssysteme helfen ihnen dabei?
In den Versuch, auf diese Fragen Antworten aus Sicht der Familienforschung und der Familientherapie zu geben, fließt meine therapeutische Erfahrung aus der Beratungsarbeit von Familien mit Kindern mit Behinderungen und chronischen Krankheiten ein. Außerdem werden Konzepte der systemischen Familienmedizin vorgestellt, die sich in der Praxis als nützlich erwiesen haben, und durch Befunde aus eigenen Befragungen betroffener Familien ergänzt. In Kapitel 6.4 werden Ergebnisse aus drei Studien mit Familien von Kindern mit körperlichen und geistigen Behinderungen dargestellt - einer Gruppe von Kindern mit einem breiten Spektrum an Diagnosen aus der neuropädiatrischen Ambulanz der Universitäts-Kinderklinik in Heidelberg, einer Gruppe von Familien von Mädchen mit einer neurogenetisch bedingten Behinderung - dem Rett-Syndrom - sowie von Familien von Kindern mit geistiger Behinderung, aus einer bundesweiten Befragung an Schulen für Schüler mit geistiger Behinderung. Neben den Familienbögen zur Erfassung der Familienfunktionen wurde dabei auch der Familien-Kohärenzbogen von Antonovsky und Sourani (1988) eingesetzt. Diese Zugangsweise vermittelt eine 'Landkarte' des Lebens mit einem Kind mit Behinderung aus der 'Außensicht' des Familienforschers und Familientherapeuten.
Aus systemischer Sicht sind die eigentlichen Experten für das Leben mit einer Behinderung nicht Fachleute, sondern die betroffenen Familien selbst. Ihre subjektiven Landkarten vermitteln möglicherweise ein anderes Bild des Lebens mit Behinderung als die Theorien von Familienforschern und Therapeuten. Um Familien direkt zu Wort kommen zu lassen und ihre Geschichten zu erfassen, wurden narrative Interviews mit Familien von Kindern mit Rett-Syndrom geführt. Mit den Methoden der Grounded theory (Glaser & Strauss 1998) und der narrativen Typenbildung wurden Kernressourcen, die zur Resilienz beitragen, und Typen von Resilienzgeschichten rekonstruiert. Die Berichte der Eltern darüber, wie sie mit den Belastungen zurechtkommen, und ihre Empfehlungen für andere Familien werden in Kapitel 8 referiert.
Nach einer Diskussion der Konzepte und Ergebnisse der systemischen Forschung werden Schlussfolgerungen für die Praxis gezogen und praktische Konzepte, Techniken und Vorgehensweisen für die Beratung von betroffenen Familien beschrieben, mit denen sich ihre Stärken entwickeln lassen.
Eine dritte, ergänzende Perspektive, die in dieses Buch einfließt, sind meine Erfahrungen als Vater einer Tochter, die behindert ist. Vor einigen Jahren, unterwegs zu den Lindauer Psychotherapiewochen, stellte mein Kollege Jochen Schweitzer mir die Frage: 'Wie schafft ihr es eigentlich als Familie, trotz der Behinderung eurer Tochter gut zu leben?' Als eine Antwort auf seine Frage ist dieses Buch entstanden, das auch Ausdruck einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung, Resilienz und Familie ist.
Noch einige Hinweise vorab: Dieses Buch befasst sich vorrangig mit Familien von Kindern, bei denen schwere Entwicklungsstörungen und körperliche und geistige Behinderungen bestehen. Die Konzepte und therapeutischen Herangehensweisen lassen sich weitgehend auf andere Formen von Behinderungen und auf schwere chronische Krankheiten übertragen. Das Wesen des Kindes, seine besondere Persönlichkeit wird von einer ganzen Reihe von Merkmalen und Aspekten bestimmt, die Behinderung ist nur ein Teilaspekt. Im amerikanischen Sprachraum haben sich die Formulierungen children with special needs - Kinder mit besonderen Bedürfnissen - oder people who are physically challenged - körperlich geforderte Menschen - eingebürgert, was sehr viel freundlicher klingt als handicapped children oder etwa der spanische Ausdruck minusvalido (vgl. Efran 1991). Menschen allein über ihre Mängel, Einschränkungen und Defizite zu definieren wäre lieblos und eine unzulässige Einseitigkeit. Wenn im Text gelegentlich die Formulierung 'behinderte Kinder' statt 'Kind mit Behinderung' verwendet wird, geschieht dies lediglich, um allzu sperrige Sätze zu vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich die männliche Form verwendet, wobei die weibliche Form selbstverständlich mit eingeschlossen ist. Alle Eigennamen in den Fallbeispielen wurden zur Wahrung der Vertraulichkeit geändert. Bei der Beschreibung von Beratungstechniken und Interventionen habe ich mich um eine möglichst klare Darstellung des Ablaufs bemüht. Es handelt sich dabei um Empfehlungen, die selbstverständlich abgewandelt und an die Arbeitsweise jedes Einzelnen angepasst werden müssen.
2 Behinderungen
2.1 Einführung
Ein erheblicher Teil von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist von körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen betroffen, die eine selbstbestimmte Lebensgestaltung und ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschweren. Was eine Behinderung ausmacht, wird nicht allein durch die Medizin, Psychologie oder Sonderpädagogik, sondern ist auch im Sozialrecht festgelegt: 'Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistigen Fähigkeiten oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist' (§ 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX).
Die systemische Therapie nimmt eine kritische Haltung zu Diagnosen und Etikettierungen ein (v.Schlippe & Schweitzer 2007). Diagnoseschlüssel wie die Internationale Klassifikation von Krankheiten ICD-10 (Dilling et al. 2000) und das Diagnostic and Statistical Manual of Diseases DSM IV (APA 1994) wurden wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf Defizite kritisiert (Spitczok von Brisinski 1999). Ein neues ressourcenorientiertes Klassifikationssystem der WHO, die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF - 'Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit'), berücksichtigt eine große Bandbreite menschlicher Fähigkeiten und ihrer Ausprägung. Sie hat explizit den Anspruch, neben Defiziten auch Kompetenzen und Fertigkeiten zu erfassen (Nüchtern & Nitzschke 2004). Behinderung wird in der ICF definiert als eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit einer Person. In Anlehnung an das biopsychosoziale Modell schließt der Begriff Funktionsfähigkeit soziale Aspekte mit ein (Engel 1977). Behinderung wird weniger als ein Merkmal einer Person verstanden, sondern als ein komplexer wechselseitiger Zusammenhang von Beeinträchtigungen, die in konkreten Lebenssituationen die Handlungsfähigkeit und Teilnahmemöglichkeiten einschränken. Neben der Schädigung von Körperfunktionen und -strukturen werden in der ICF auch die Dimensionen der konkret durchführbaren Aktivitäten und das Ausmaß der Teilhabe an der Gemeinschaft für die Feststellung einer Behinderung herangezogen (vgl. Schuntermann 2005). Mit der ICF lassen sich mögliche Beeinträchtigungen in den Bereichen der Strukturen und Funktionen des menschlichen Organismus, Aktivitäten einer Person, der Teilhabe an Lebensbereichen vor dem Hintergrund ihrer sozialen und räumlichen Umwelt beschreiben. Die Definitionen der ICF sind in die Neufassung des Sozialgesetzbuchs IX eingeflossen (Keppner 2009).
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (2008) war in Deutschland zum Jahresende 2007 jeder zwölfte Einwohner (8,4%) schwer behindert; dabei handelte es sich meist um ältere Menschen. Überwiegend wurde die Behinderung durch eine Krankheit verursacht (82%), 4% der Behinderungen waren angeboren oder traten im ersten Lebensjahr auf, 2% waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen. Lediglich 2% der Schwerbehinderten waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Als schwer behindert gelten Personen, denen vom Versorgungsamt ein Grad der Behinderung von 50 % und mehr zuerkannt wurde. Etwa ein Drittel ist von Mehrfachbehinderungen betroffen. In Deutschland gibt es ca. 400000 bis 450000 Kinder und Jugendliche mit körperlichen, Sinnes- und geistigen Behinderungen. In 3 % der Mehrpersonenhaushalte lebt ein solches Kind (Eike & Braksch 2009).
Lange Zeit wurden der Körper und die Ebene somatischer Prozesse und damit auch Krankheit und Behinderungen als relevante Systemaspekte in der systemischen Therapie vernachlässigt (Weakland 1977, Sloman & Konstantareas 1990). Diagnosen wurden primär als soziales Konstrukt verstanden und weniger als eine Beschreibung objektiver Merkmale einer Person. Aus dem Wunsch, Menschen nicht auf Defizite festzulegen, werden Diagnosen üblicherweise hinterfragt und mit zirkulären Fragen 'verflüssigt', um ihren relationalen Charakter und die Prozesshaftigkeit von diagnostischen Zuschreibungen zu verdeutlichen. Eine ressourcen- und lösungsorientierte Vorgehensweise ist für Familien mit behinderten Angehörigen sinnvoll (de Shazer & Lipchik 1984, Efron & Veenendahl 1993, Lloyd & Dallos 2006). Bei aller Ressourcenorientierung sollte jedoch nicht übersehen werden, dass sich Menschen in ihrer biologischen Ausstattung unterscheiden. Sie lassen sich nicht hinreichend aus dem Familiengeschehen oder aus 'Spielen der Familie' ableiten (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1989, Sloman & Konstantareas 1990). Ein Handicap löst sich durch psychologische Interventionen nicht einfach auf.
Eine Diagnosestellung hat soziale Folgen, die nachteilig sein können; dies gilt umgekehrt aber auch für den Verzicht auf eine Diagnose. Diagnosen sind nicht an und für sich gut oder schlecht. Fisch et al. (1982) unterschieden zwei Klassen von Problemen - Situationen, die eigentlich kein Problem darstellen, aber dennoch zu einem gemacht werden, und Situationen, in denen ein Problem besteht, das aber nicht erkannt oder eingestanden wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine Familie nicht wahrhaben will, dass bei ihrem Kind eine Behinderung vorliegt. - Dazu ein Fallbeispiel aus der Beratungspraxis: Herr K. stellte gemeinsam mit seiner Frau die knapp fünfjährigen Zwillinge zur Beratung vor, bei denen eine Entwicklungsverzögerung unklarer Genese diagnostiziert worden war. Beide Jungen konnten nicht sprechen und hatten auffallende Gesichtsdysmorphien. Der Vater klammerte sich an die Hoffnung: 'Das Problem ist, dass sie noch nicht sprechen. Wenn sie erst einmal sprechen, platzt der Knoten, werden sie rasch aufholen!'
Der Umgang mit der Diagnose einer Behinderung ist für Eltern und Behandler nicht immer einfach. Manche Eltern zögern, einen Behindertenausweis oder die Eingruppierung in eine Pflegestufe zu beantragen oder ihre Kinder in einem Sonderkindergarten anzumelden. Sie befürchten negative stigmatisierende Auswirkungen oder glauben, ihr Kind aufzugeben, wenn sie sich eingestehen, dass eine bleibende Einschränkung besteht. Viele Kinderärzte gehen zu Beginn der diagnostischen Abklärungsphase sehr vorsichtig mit Diagnosen um, weil sie die Eltern nicht beunruhigen und sich nicht voreilig festlegen wollen.
Das Eingeständnis, dass eine Behinderung oder eine chronische Krankheit vorliegt, kann eine befreiende Wirkung haben, weil so der Weg für notwendige Anpassungsschritte geebnet ist und wichtige therapeutische Weichenstellungen ermöglicht werden (Grunebaum & Chasin 1978, Rolland 1994).
Diagnosen und Beschreibungen wie 'chronische Krankheit', 'Behinderung' oder 'geistige Behinderung' beziehen sich auf objektivierbare Merkmale, beruhen aber auch auf sozialen Beurteilungen von Phänomenen. Sie können deshalb besser innerhalb des jeweils gegebenen Sinngebungskontextes verstanden werden (Hennicke 1993, v.Schlippe & Lob-Corzilius 1993). Behinderungen gelten als Abweichungen von der Norm, doch wer legt fest, was normal ist? Die Überlegung 'Wer wird von wem als behindert definiert?' verweist auf die Bedeutung der Normen und der Interessen der Person, die das Vorliegen einer Behinderung feststellt. Möglicherweise wird ein Mensch von Außenstehenden als behindert wahrgenommen, ohne sich jedoch subjektiv als behindert zu fühlen (Duss-von Werdt 1995). Menschen eignen sich die Welt entsprechend den ihnen gegebenen strukturellen Möglichkeiten an.
Wenn man Behinderungen als Krankheit begreift, ist es folgerichtig, sie als Gegenstand der Medizin zu betrachten, diese Zuordnung ist jedoch nicht zwingend (Duss-von Werdt 1995). Sie können auch als Ausdruck der Vielseitigkeit menschlichen Seins verstanden werden. In manchen ethnischen Gruppen werden Behinderungen als ein Geschenk, in anderen als Strafe Gottes verstanden. Die Bedeutung von sozialen Normen und Konventionen wird bei der Zuschreibung einer geistigen Behinderung besonders deutlich (vgl. Klee 2004).
Vertreter von Behindertenorganisationen haben wiederholt darauf verwiesen, dass der Begriff 'Behinderung' kein absolutes Merkmal darstellt, sondern erst innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes Sinn macht. Was als Behinderung gewertet wird, ist abhängig von der Vorstellung, was als 'normal' gilt. Dies wird in der saloppen Formulierung 'Wer stört, ist gestört' deutlich (Simon 1993, S. 147). Ob das Vorliegen bestimmter körperlicher Einschränkungen als Behinderung gewertet wird, ist auch von sozialen Zuschreibungsprozessen abhängig und von den Erwartungen, die eine Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt. Die Unterscheidung normal/behindert kategorisiert Menschen in einer bestimmten Weise, die sich nicht zwingend aus den biologischen Merkmalen der Behinderung ergeben muss (Hohn 1989).
Generell wird das Label 'chronisch' für Krankheiten und Zustandsbilder verwendet, die als nicht beeinflussbar gelten. Die Beeinflussbarkeit hängt unter anderem von den Behandlungsmöglichkeiten ab, die in der jeweiligen Gesellschaft verfügbar sind (von Schlippe & Theiling 2002). Kleinwüchsigkeit galt früher als unheilbare Behinderung, heute können einige Formen in Industrieländern mit gut ausgebautem Gesundheitssystem durch die Gabe von Wachstumshormonen therapiert werden. Für Kinder aus ärmeren Ländern ohne Zugang zu teuren Medikamenten stellt sie jedoch nach wie vor eine chronische Krankheit ohne Aussicht auf Heilung dar. Seh- oder Hörbehinderungen können mit einfachen Hilfsmitteln wie Brillen oder Hörgeräten korrigiert werden und lösen in unserer Kultur schwerlich die Assoziation mit dem Begriff 'Behinderung' aus. In einer Jäger-undSammler-Kultur wären sie jedoch eine ernsthafte Beeinträchtigung, mit nachteiligen Auswirkungen auf die Überlebenschancen. Menschen, die an amelioritischer Lateralsklerose leiden, können mit Hilfe von computerbasierten Hilfsmitteln ihre Behinderungen zumindest partiell kompensieren. Ein anderes Beispiel ist der südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius, der mit zwei High-Tech-Beinprothesen die Strecke von 100m in einer Zeit läuft, die ihn für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen qualifiziert hätte. Die Diagnose einer erblichen Krankheit war über zwölf Jahre der deutschen Geschichte hinweg keine 'wertfreie' Feststellung, sondern bedeutete eine massive Bedrohung des Lebens der Patienten und ihrer Angehörigen. In vergangenen Jahrzehnten dürfte die Diagnose eines 'genetisch bedingten Leidens' überwiegend die Assoziation 'nicht therapierbar' ausgelöst haben. Heute bestehen bei genetischen Krankheiten hohe, möglicherweise überzogene Hoffnungen auf Heilungschancen durch die Fortschritte der Gentechnik.
Auf einer pragmatischen Ebene können Diagnosen, Etikettierungen und das Label 'Behinderung' als Einschränkung der Freiheitsgrade der Lebensgestaltung verstanden werden, die sich nicht einfach wegdefinieren lassen. Im Sinne von Berger und Luckmann (1966) besitzen sie Realitätscharakter1. Behinderungen werden heute weniger als individuelles Merkmal eines Menschen aufgefasst, sondern als ein mehrdimensionales, relationales Phänomen (Lindermeier 2009). Der Schwerpunkt der Betrachtung verlagert sich damit von der Person auf den Lebensbereich, in dem ein Mensch mit geistiger Behinderung spezielle Unterstützung und Begleitung benötigt.
2.2 Körperliche Behinderungen
Unter einer Körperbehinderung wird üblicherweise eine dauerhafte Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit verstanden. Die Ursachen können sehr unterschiedlich sein. Neben anlagebedingten Behinderungen spielen pränatale Faktoren eine Rolle, zum Beispiel eine Infektionskrankheit der Mutter, perinatale Komplikationen, zum Beispiel Sauerstoffmangel bei der Geburt, und postnatale Faktoren, zum Beispiel Unterernährung im Säuglingsalter, Infektionskrankheiten wie eine Gehirnentzündung in der frühen Kindheit, Unfälle, aber auch Umweltschäden und Medikamentenfolgen wie im Falle von Contergan. Körperbehinderungen stellen eine sehr heterogene diagnostische Gruppe dar. Sie betreffen überwiegend das zentrale oder das periphere Nervensystem und das Stütz- und Bewegungssystem. Häufige Erscheinungsformen sind
-zerebrale Bewegungsstörungen - wie Spastiken, muskuläre Hypotonie einer Körperseite oder der Extremitäten (Tetraplegie, Hemiplegie, Diplegie); Ataxien. Mit betroffen sind oft die Mimik und die Sprechmotorik. Damit verbunden sind oft Einschränkungen der Intelligenz, Sprach-, Hör- und Sehstörungen, Verhaltensstörungen, Leistungsschwächen und Epilepsien
-Querschnittslähmungen durch eine Fehlbildung oder eine Verletzung des Rückenmarks, oft einhergehend mit Störungen der Blasen-, Mastdarmfunktion
-Schädigungen des Skelettsystems, zum Beispiel Rückgratverkrümmungen (Skoliosen, Lordosen, Kyphosen)
-Angeborene Fehlbildungen von Gliedmaßen, zum Beispiel ein Klumpfuß, Fehlen von Gliedmaßen - etwa durch Unfälle oder Erkrankungen
-Muskelsystemerkrankungen, wie zum Beispiel progressive Muskeldystrophie
-chronische Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, die Schäden von Knochen und Gelenken und erhebliche Bewegungseinschränkungen bewirken
-andere Behinderungen - zum Beispiel hormonell bedingter Zwergwuchs y Behinderungen von Wahrnehmungsorganen
-Fehlbildungen von Seh-, Hör- und inneren Organen, etwa eine fehlende Anlage der Blase (Anton 2003, Keppner 2009).
2.3 Geistige Behinderung
Als allgemeine Kennzeichen von geistiger Behinderung werden üblicherweise eine seit der Kindheit bestehende Intelligenzminderung und eine aktuell gegebene Beeinträchtigung der sozialen Anpassungsfähigkeit genannt, die so gravierend sind, dass voraussichtlich über das ganze Leben hinweg besondere Hilfen benötigt werden (Davison & Neale 2002). In der Vergangenheit wurde bei der Diagnosestellung nach ICD-10 eine Kategorisierung nach dem Grad der kognitiven Beeinträchtigung in leichte, mittelgradige, schwere und schwerste geistige Behinderung vorgenommen. In den USA werden Lernbehinderungen oder mild mental retardation mit einbezogen (Lotz & Koch 1994, Wendeler 1993). Während Kinder mit leichetr geistiger Behinderung sich langsamer als die Norm entwickeln, im Erwachsenenalter jedoch viele praktische Tätigkeiten meistern und sich meist unabhängig versorgen können, ist dies bei einer mittelgradigen Intelligenzminderung nur eingeschränkt der Fall; außerdem hat die letztgenannte Gruppe häufig begleitende Schwierigkeiten beim Spracherwerb. Bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung liegen meist gleichzeitig erhebliche motorische Schwächen vor. Betroffene Personen sind verhältnismäßig passiv und nur für kurze Zeit zu konkreter Kommunikation fähig. Menschen mit schwerster geistiger Behinderung sind meist stark in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und überwiegend nur zu sehr einfachen Formen nonverbaler Kommunikation fähig. Nach einer Definition des Deutschen Bildungsrats gehört zu dem Personenkreis Menschen mit geistiger Behinderung, 'wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklung einher' (Deutscher Bildungsrat 1973, S. 37).
Geistige Behinderung stellt kein klar abgrenzbares Merkmal dar. Holtz et al. (1998) sprechen sich gegen eine Definition von geistiger Behinderung ausschließlich anhand von Intelligenzkriterien aus; die Grenzwerte sind meist willkürlich festgelegt, und eine isolierte Betrachtung des IQ-Wertes bietet kaum Hinweise für die individuelle Förderung. Sarimski (2006a) definiert geistige Behinderung 'als verlangsamte(n) Erwerb von Fähigkeiten, verzögertes Erreichen von Entwicklungsstufen und als asynchrone(n) Entwicklungsverlauf, bei dem einzelne Informationsverarbeitungsprozesse in unterschiedlichem Maße beeinträchtigt sein können' (S. 93).
Eine Beschränkung auf die Diagnostik der kognitiven Leistungsfähigkeit ist wenig sinnvoll (Duss-von Werdt 1995) - die Fähigkeiten zur emotionalen Selbstregulation und zur Entwicklung sozial-kognitiver Kompetenzen müssen ebenso berücksichtigt werden. Aussagekräftiger sind Beeinträchtigungen der sozialen Anpassungsfähigkeit. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, Beziehungen zu anderen aufzubauen und beizubehalten, sich an soziale Normen zu gewöhnen und Erwartungen anderer Personen zu erkennen. Hierzu gehört auch die adaptive Funktionsfähigkeit, zum Beispiel die Fähigkeit des Kindes, sich zu waschen und anzuziehen, mit Zeit und Geld umzugehen oder Werkzeuge zu gebrauchen (Davison & Neale 2002).
Nach de


Schlippe, Arist von
Arist von Schlippe, Jg. 1951, verheiratet, drei Kinder. Diplom-Psychologe, seit 2005 als Universitäts-Professor für Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke tätig, akademischer Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU). Lehrtherapeut und lehrender Supervisor für systemische Therapie (SG Berlin). Mitherausgeber der Fachzeitschrift 'Familiendynamik' (Klett-Cotta). Autor zahlreicher Bücher und Veröffentlichungen zur systemischen Praxis und zu Familienunternehmen.

Retzlaff, Rüdiger
Rüdiger Retzlaff, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Kinder- und Jugendpsychotherapeut, ist Leiter der Ambulanz für Paar- und Familientherapie der Universitätsklinik Heidelberg, Lehrtherapeut für systemische Therapie, Hypnotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Therapie, Lehrtherapeut am Helm Stierlin-Institut sowie in der Postgraduierten-Ausbildung von Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten tätig.>>Die Webseite des Autors: www.ruediger-retzlaff.de>>Die Webseite des Helm Stierlin Instituts: www.hsi-heidelberg.com

Rüdiger Retzlaff, Dr. sc. hum., Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Kinder- und Jugendpsychotherapeut, ist Leiter der Ambulanz für Paar- und Familientherapie der Universitätsklinik Heidelberg, Lehrtherapeut für systemische Therapie, Hypnotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Therapie, Lehrtherapeut am Helm Stierlin-Institut sowie in der Postgraduierten-Ausbildung von Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten tätig.
>>Die Webseite des Autors: www.ruediger-retzlaff.de
>>Die Webseite des Helm Stierlin Instituts: www.hsi-heidelberg.com

Arist von Schlippe, Jg. 1951, verheiratet, drei Kinder. Diplom-Psychologe, seit 2005 als Universitäts-Professor für Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke tätig, akademischer Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen (WIFU). Lehrtherapeut und lehrender Supervisor für systemische Therapie (SG Berlin). Mitherausgeber der Fachzeitschrift 'Familiendynamik' (Klett-Cotta). Autor zahlreicher Bücher und Veröffentlichungen zur systemischen Praxis und zu Familienunternehmen.


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