E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Reuther Heilung Nebensache
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7453-1479-3
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kritische Geschichte der europäischen Medizin von Hippokrates bis Corona
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-7453-1479-3
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. med. Gerd Reuther, Jahrgang 1959, ist Facharzt mit Lehrbefugnis für Radiologie. Als diagnostischer und interventioneller Radiologe ist er ein Vertreter der letzten fächerübergreifenden Disziplin in einem subspezialisierten Gewerbe. Er blickt auf 30 Berufsjahre zurück, in denen er leitende Positionen in drei verschiedenen Kliniken innehatte. Sein erstes Buch Der betrogene Patient ist ein Spiegel-Bestseller.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog: Ein Kampf gegen Krankheiten oder gegen die Kranken?
Lohnt es heute noch, sich mit der Medizin vergangener Jahrhunderte zu beschäftigen? Haben doch hochwirksame Pharmaka den Aderlass und minimalinvasive Hightech-Chirurgie unsterile Verstümmelungen ohne Betäubung abgelöst. Allerdings fällt auf, dass noch immer zahlreiche Ärzte aus den Zeiten der Säftelehre Säulenheilige des Berufsstandes sind. Ist es lediglich Nachsicht mit Kollegen, die zu früh geboren wurden und es nicht besser wissen konnten? Oder besteht doch eine Kontinuität darin, dass in der Medizin vorrangig die Kranken statt deren Krankheiten »bekämpft« werden?
Es änderte sich längst nicht alles, als das ärztliche Denken umschlug. Wissenschaftlich orientierte Ärzte bedienen sich weiterhin eines griechisch-lateinischen Kauderwelsches: »Diabetes mellitus« = »süßer Durchfluss« oder »Infarkt« statt grammatisch korrekt »Infrakt«. Blutdruck und Blutgase werden noch immer in »mmHg« angegeben, obwohl Quecksilbersäulen bereits seit 1978 nicht mehr zulässig sind. Eine renommierte Fachzeitschrift trägt bis heute den Namen des Instruments, mit dem Patienten zur Ader gelassen wurden: The Lancet – die Lanzette. Eine Spurensuche in der Vergangenheit lässt die heutige Medizin in einem anderen Licht erscheinen.
Abwarten oder schaden?
Heilungsversuche mit Pflanzen, tierischen und mineralischen Stoffen, Ritualen und helfenden Händen waren der Anfang. Dann beherrschte die Lehre von vier Säften für mehr als 2000 Jahre die Bühne, bevor Krankheiten lokalisiert wurden. Ärzte und Quacksalber entzogen Patienten Körperflüssigkeiten – ohne Rücksicht auf Verluste – mit Aderlässen und Mitteln, die abführten, den Schleimfluss exzessiv steigerten und Erbrechen herbeiführten. Überdies kamen auch noch Schwitz- und Trinkkuren hinzu. Alle Krankheiten sollten damit ausgetrieben werden.
Erschwerend war, dass viele Arzneien zum Flüssigkeitsentzug Gifte wie Quecksilber und Antimon enthielten und ab dem 17. Jahrhundert sogar intravenös verabreicht wurden. Es käme allenfalls auf die Dosierung an. Transfusionen von Tierblut galten als vergleichsweise sichere Behandlungen, obwohl in Unkenntnis der Blutgruppen mindestens jeder Dritte daran verstarb.1 Bei Operationen ohne Schmerzausschaltung hatte Tempo Vorrang vor Präzision. 25 Sekunden reichten dem schnellsten Chirurgen im viktorianischen London, um ein Bein zu amputieren.2 Verstümmelnde Operationen gegen Hysterie und psychische Auffälligkeiten gesellten sich ab dem 19. Jahrhundert noch hinzu. Kein Wunder, dass die Homöopathie in den ersten 150 Jahren ihrer Existenz erfolgreicher als die Schulmedizin war – sie schadete wenigstens nicht.
Die Pharmaka des Industriezeitalters entstammten immer seltener der Welt der Heilkräuter, sondern der technischen Chemie. Ab 1818 stand sogar die hochgiftige verdünnte Blausäure als Heilmittel gegen Atemwegserkrankungen in Arzneibüchern.3 Ausgangssubstanzen und Abfallstoffe industrieller Synthesen von Farben und Kunstharzen waren bis spät ins 20. Jahrhundert die Basis symptomunterdrückender Medikamente. Noch der erste Cholesterinsenker Clofibrat fiel bei der Produktion von Phenolen an und gehört chemisch zu einer Gruppe, zu der zahlreiche Unkrautvernichter zählen!4 Viele Antibiotika und Immunsuppressiva sind ebenfalls chemisch eng mit Pestiziden verwandt und durchaus als zeitgenössische Gegenstücke zu Quecksilber und Antimon aufzufassen.
Substanzen wurden nicht unbedingt wegen bestimmter Eigenschaften gesucht. Oft war es umgekehrt: Vorhandene Stoffe klopfte man auf ihren möglichen Einsatz beim Menschen ab. Die Chemotherapeutika gingen aus dem berüchtigten Senfgas des Ersten Weltkriegs hervor. Pharmaka werden bis heute als Waffen missverstanden und degradieren Kranke damit zu Kriegsschauplätzen. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht jeder dritte Todesfall in Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen.5 Man kann nicht sagen, dass der Berufsstand zimperlich war und ist. Das Prinzip, es sei »besser, ein gefährliches Hilfsmittel anzuwenden, als gar keines«6 besteht fort.
Die akademische Medizin gilt heute als »systemrelevant«. Die Geschichte belehrt uns aber eines Besseren. Menschliche Zivilisationen vertrauten ganz unterschiedlichen Heilungskonzepten. Auf die Art der Heilkunde oder gar auf eine »ärztliche Kunst« kam es nicht an. Zu keiner Zeit verringerten Behandlungen die Krankheitslast oder erhöhten die Lebenserwartung.7 Selbst wenn heute Ärzte streiken, haben Bestattungsunternehmen nirgendwo mehr zu tun.8 Ärzte beeinflussten immer nur Einzelschicksale positiv oder negativ. Kriege, Not und Umweltbedingungen bestimmten das Wohlergehen von Gesellschaften.
Die Medizin leidet bis heute unter einem blinden Fleck für Heilungsvorgänge. Seit man Tote seziert hat, weiß man zwar viel mehr über Krankheiten, aber nur wenig mehr über die Heilungsstrategien unserer Biologie. Wie Heilung funktioniert, ist nun einmal keine Botschaft der Toten an die Lebenden, sonst wären sie schließlich nicht verstorben … Um herauszufinden, warum Menschen trotz widriger Umstände gesund bleiben oder wieder gesund werden (sogenannte Salutogenese), sollten wir besser von Genesenen und Hochbetagten lernen.
Alternativen zur Schulmedizin gab es immer
Naturheilkundige haben in den vergangenen 2500 Jahren mehr zu Linderung und Heilung beigetragen und weniger geschadet als Ärzte, schon weil sich ihre Anwendungen generationenübergreifend auf praktische Erfahrungen stützten. Als der französische Chirurg Ambroise Paré (1510–90) bei einer schweren Gesichtsverletzung eine Gesichtshälfte schulmedizinisch mit kochend heißer Paste aus Holunderbeeröl und opiumhaltigem Theriak, die andere gemäß einer Kräuterfrau mit einer Zwiebelsalbe behandelte, blieben nur unter der Zwiebelsalbe entstellende Narbenbildungen aus. Paré schaffte es in die Ahnengalerie.9 Die Kräuterfrau kennt heute niemand mehr. In keiner Geschichte der Medizin dürfen daher Naturheilmittel und Pflegende fehlen.
Therapeutisches Wissen war in der Bevölkerung verbreitet. Der vor etwa 7000 Jahren verstorbene »Ötzi« hatte den Birkenporling, einen Pilz mit antibiotischen Eigenschaften, im Reisegepäck. Die Schienung von Knochenbrüchen, das Einrenken luxierter Glieder, die Reinigung von Wunden und kaltes Wasser bei Entzündungen gehörten immer zur Selbsthilfe. Abführ- und Brechmittel waren wie Pflanzenzubereitungen für Wunden, Frauenleiden, Harnwegssteine, Magen-Darm-Entzündungen oder Herzschwäche aus der Naturapotheke verfügbar. Opium, Alkohol und Klistiere hatten Apotheker im Angebot.
Bei Fortbestehen der Symptome und stärkerem Leidensdruck suchte man Kräuterkundige, Handwerkschirurgen, Schäfer oder Scharfrichter auf. Handgreifliche Therapien wurden von akademischen Ärzten nur verordnet – ausgeführt haben sie Gesundheitshandwerker. Da konnte man sich gleich von der Baderin zur Ader lassen und das ärztliche Honorar sparen. Für Ärzte verblieb lange wenig mehr als giftige Chemie, die durch kostensenkende Verfälschungen von Apothekern noch verheerender wirken konnte.10 Bis ins 18. Jahrhundert waren Ärzte »Gäste im Raum der Selbstbehandlung«.11
Dies änderte sich mit den europaweiten »Hexen«-Verfolgungen, da vorrangig heilkundige Frauen und Hebammen sowie Querdenker denunziert und verbrannt wurden. Mit dieser Ermordungswelle wollten sich nicht nur die Kirchen unliebsamer Kritiker entledigen. Es ging auch um Einkünfte. In der Wirtschaftskrise nach Abriegelung des Orients und als Folge der Kleinen Eiszeit wurde der Kuchen im Heilgewerbe kleiner. Die Ausschaltung der Konkurrenz sollte die Einnahmen für Klerus und Ärzte sichern. Damit verschwanden narkotisierende Mischgetränke aus den Hausapotheken, die so manchen Arztbesuch erspart hatten. Die Rolle von Ärzten als »Gutachter« bei Folterungen ist dabei noch weit schlechter aufgearbeitet als ihre Mitwirkung in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.
Braucht die Medizin Helden?
Die Geschichte der Medizin ist keine Heldensaga. Die wenigsten heute noch bekannten Ärzte haben mehr genützt als geschadet. Ob Opium oder Aderlässe, Quecksilber oder abenteuerliche Operationen – alles verursachte Gesundheitsschäden und Tote. Paracelsus (1493–1541) verwarf zwar die Säftelehre, seine eigenen Krankheitstheorien waren allerdings nicht minder hanebüchen. Vermeintliche Kultfiguren der Bakteriologie wie Louis Pasteur (1822–95) und Robert Koch (1843–1910) waren keine »Retter der Menschheit«. Weder hat Pasteur die »Pasteurisierung« erfunden, noch verdanken wir Koch die Entdeckung der Erreger von Cholera, Milzbrand und Tuberkulose.
Bei genauer Betrachtung ist meist mehr Schatten als Licht. Kein Mensch taugt zum Säulenheiligen. Der Bekanntheitsgrad...