E-Book, Deutsch, Band 79, 222 Seiten
Reihe: Bibliothek rosa Winkel
Rexhausen / Wolf Zaunwerk
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86300-348-7
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Szenen aus dem Gesträuch
E-Book, Deutsch, Band 79, 222 Seiten
Reihe: Bibliothek rosa Winkel
ISBN: 978-3-86300-348-7
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Felix Rexhausen, Journalist, Satiriker, Lyriker und Romanautor (1932 – 1992), war einer der ersten offen schwulen Autoren der Nachkriegszeit. Er ist bereits mit dem Roman "Lavendelschwert" und dem Erzählband "Berührungen" in der Bibliothek rosa Winkel vertreten. "Zaunwerk" ist der seinerzeit nicht veröffentlichte Vorläufer dieser beiden Bücher, wiederentdeckt vom Literaturwissenschaftler Benedikt Wolf. Schon 1964 abgeschlossen, entfaltet das Buch ein Panorama vom Leben der Homosexuellen der alten Bundesrepublik, ihrem Leben im Versteck, ihren kleinen Freiräumen und großen Sehnsüchten.
Für Benedikt Wolf ist Zaunwerk ein »schwuler Pioniertext im emphatischen Sinne«, der es mehr als verdient hat, fast sechs Jahrzehnte nach seiner Entstehung »aus dem Schrank« kommen zu dürfen.
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AUF DER LEITER, die Jakob im Traum sah, stiegen die Engel auf und nieder – die Leiter war für sie kein Weg, dessen Strecke zurückzulegen war, sondern ein Aufenthaltsort, dessen Dimensionen sie auf- und niedersteigend ausmaßen. So verweilen die Leute auf der Spanischen Treppe in Rom. Sie gehen ein paar Stufen hinauf, vorüber an Kindern und Frauen und Halbwüchsigen, an Männern und Greisen, die dort sitzen, sie lehnen sich an das steinerne Geländer und reden, sie gehen abermals ein paar Stufen, sie überqueren die erste Plattform, sie beugen sich dort über die Balustrade, sie kehren zurück, schauen und sprechen mit irgendwem, sie stehen einen Moment vor den bunten Auslagen der Blumenfrau, sie gehen zu zweit, zu dritt, zu fünft, allein auf der anderen Seite der Treppe wieder einige Stufen hinauf, halten inne, wandern entschlossen bis ganz nach oben, von links nach rechts, von rechts nach links, wie die Treppe sie führt, zwischen den sonnensatten Häusern, bis ganz nach oben, von wo man auf Rom blickt, und immer sieht man nur einen Teil Roms, und die späte Vormittagssonne verwischt die gleißenden Umrisse bis hin zu der dunstigen Kuppel der Peterskirche, und sie steigen wieder ein Stück hinunter, setzen sich auf die Stufen, auf den Lauf des breiten Geländers selbst, und die eine Seite der Treppe liegt in der Sonne, und die andere im Schatten, und wieder gehen sie ein paar Stufen hinauf oder hinunter, zu zweit, zu dritt, in einer ganzen Schar oder allein, und dazwischen spielen die Kinder und springen Stufen hinauf, hinab. Und unten vor der Treppe liegt ehrwürdig und schön, klar und wohnlich die Piazza d’Espagna. Eberhard ging die Treppe hinauf und hinunter und hätte nicht geglaubt, daß man sich solange auf einer Treppe aufhalten kann. Am Nachmittag zeigte er sie seiner Mutter, Stufen hinauf, hinab, und am Abend, als seine Mutter schon ins Hotel gegangen war, kam er abermals hier vorbei. Abermals begann er, sie hinaufzusteigen, zwischen all den Leuten, die hier die Freiheit und die Kühle des späten Sonntagabends genossen. Ein häßlicher Junge starrte ihm unverschämt ins Gesicht, und plötzlich fiel Eberhard ein, daß ein Student, mit dem er vor einiger Zeit geschlafen hatte, von der Spanischen Treppe gesprochen und ihm erklärt hatte, da könne man abends fast immer was finden. Aber Eberhard war fest entschlossen, sich um derlei heute nicht zu kümmern – die Erfahrungen, die er in diesen drei Tagen in Rom gesammelt hatte, machten ihm wenig Lust zu Abenteuern am letzten Abend. Er sah auf seine Uhr und stieg dann weiter hinauf, hin und wieder die Hand auf den kühlen rauhen Stein des Geländers legend. Als er höher hinauf kam, sah er einen jungen Mann im leichten hellgrauen Anzug über die Balustrade blicken. Er war vielleicht zwanzig, hatte ein hübsch geschnittenes ernstes Gesicht und im Ganzen den Habitus eines jungen Mannes aus gutem Hause. Eberhard ging hinter ihm vorbei, ein Stück über die Plattform hin; der junge Mann blickte unverwandt auf die Piazza und die dahinter sich ausbreitende Nacht. Etwa zehn Meter weiter lehnte ein anderer Mann an der Balustrade und schickte dann und wann einen kurzen Blick zu dem Hellen hinüber; der rührte sich nicht. Eberhard wandte beiden den Rücken und sah hinauf zu der Kirche; als er sich wieder umdrehte, schien ihm, als habe sich die Entfernung zwischen den beiden an der Balustrade vermindert – freilich, der gutangezogene junge Mann stand noch an derselben Stelle wie vorher. Eberhard wollte ein wenig dem Leben auf der Treppe zusehen und stellte sich zehn Meter links von dem jungen Mann an die steinerne Brüstung. Nun sahen sie zu dritt hinunter – ein dreißigjähriger, ziemlich gewöhnlicher Mann, der ein paar Jahre jüngere Eberhard und in der Mitte zwischen ihnen der Junge, der sie beide nicht beachtete und mit großen dunklen Augen gradeaus sah, so oft Eberhard oder der andere auch zu ihm hinblickten. So verging eine Weile. Dann wurde dem Mann ganz rechts die Sache zu dumm – er nahm seine Arme von den Steinen, wandte sich ab und ging; man sah ihn drüben die Treppe hinuntersteigen. Eberhard wartete; aber auch jetzt drehte sich der hübsche Kopf nicht zu ihm hin, obwohl Eberhard ihn ein paarmal solange anstarrte, daß es dem anderen nicht entgehen konnte. Ein leichter Wind erhob sich. Der Fremde sah auf seine Uhr und wanderte plötzlich ein Dutzend Meter weiter von Eberhard fort, dann lehnte er sich von neuem gegen den Stein und blickte hinunter. Eberhard war froh, daß die Begebenheit so ein klares Ende gefunden hatte. Vermutlich wartete der junge Mann hier auf seine Freundin; sowieso machte er nicht den Eindruck eines Homosexuellen. Eberhard blieb noch einen Augenblick stehen, damit der andere nicht glauben sollte, er habe nur seinetwegen so lange hier ausgehalten, dann stieg er langsam hinab. Nach einem guten Dutzend Stufen drehte er sich noch einmal um – da hatte jener oben den Blick auf ihn geheftet. Eberhard ging weiter; an der nächsten Plattform zögerte er, dann überquerte er sie und stieg die Treppe auf der anderen Seite wieder hinauf. Jener sah ihn noch einmal kurz von der Seite an, wie er da heraufkam, aber dann blickte er wieder so unverwandt in die Ferne, wie zehn Minuten zuvor. Eberhard lehnte sich von neuem an das steinerne Geländer, ging zweimal, dreimal dicht hinter dem anderen vorbei, blieb einmal sogar anderthalb Meter neben ihm an der Balustrade stehen – der aber rührte sich nicht. Schließlich murmelte Eberhard irgendeinen Fluch in sich hinein, wandte sich den Stufen zu und ging endgültig hinunter. Er war wieder auf der nächsten Plattform angekommen, als er sah, daß der helle Anzug die andere Treppe herunter kam und dann, ohne innezuhalten, über die Plattform ging und weiter hinunter stieg; auf der dritten oder vierten Stufe unterhalb der Plattform wendete der Bursche den Kopf, sah noch einmal kurz zu Eberhard hin und setzte dann seinen Weg hinab fort. Eberhard schaute auf die Uhr, drehte sich um und ging die Treppe, die er nun schon zweimal hinunter gekommen war, wieder hinauf. Aber als er von oben hinunter sah, konnte er den hellen Anzug nicht mehr entdecken, er war in dem immer noch dichten Gewühl unten an der Piazza verschwunden. Einen Augenblick noch wartete Eberhard, und er wandte sich gerade abermals zum Gehen, als er den jungen Mann die Treppe wieder hinaufkommen sah. Wollte der ihn zum Narren halten oder hatten seine Handlungen irgendeinen Zweck, der mit Eberhards Existenz überhaupt nichts zu tun hatte? Eberhard sah zu der anderen Treppe hin und versicherte sich nur dann und wann durch einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln, daß jener wirklich noch immer höherstieg. Und wirklich stieg er die Treppe herauf, bis oben hin, ging schräg hinter Eberhard zu den schmaleren Stufen, die in den Park der Villa Borghese führten, und stieg auch die hinauf. Eberhard wartete einen Moment, dann ging er auch in das kühle Dunkel des Parks. Er sah den ersten Weg hinunter – dort schlenderte, sehr langsam, der junge Mann in dem hellen Anzug. Dicht über dem ersten Weg lief ein zweiter, diesen schlug Eberhard ein. Unter sich sah er hinter den fast schwarzen Sträuchern den hellen Anzug gehen. Eberhard blieb stehen, und der andere ging langsamer; Eberhard schritt etwas aus, und drei Meter unter ihm holte der andere ihn ein. Endlich liefen die beiden Wege in einem größeren zusammen, und die beiden jungen Leute gerieten nebeneinander. »Sera!« sagte der in dem hellen Anzug, und Eberhard antwortetet »Sera!« Als der andere wußte, daß Eberhard Deutscher war, sprach auch er deutsch, deutlich und nicht gebrochen, aber mit einem kräftigen Akzent, und manchmal gingen ihm die Vokabeln aus. »Ich heiße Giorgio«, sagte er, »du?« Eberhard nannte seinen Namen und fragte ihn, woher er so gut Deutsch könne. »Meine Mutter ist aus Österreich«, sagte Giorgio. Eberhard suchte sich diese Familie, diesen Haushalt vorzustellen; aus irgendeinem Grunde vermutete er, dies Haus müsse einen großbürgerlichen Anstrich haben. »Ich kenne gut den deutschen Gesandten hier«, sagte Giorgio, sah Eberhard vielsagend an und fügte feixend hinzu: »Er ist eine Frau.« Eberhard fragte: »Wieso?« »Er ist eine Frau«, sagte Giorgio, »und ich bin der Mann. Hä?« Eberhard nickte. Dann sprachen sie über Rom, über Italien. In dem dunklen Park, dessen Massen überall von dem kalten weißen Licht der Neonlaternen durchbrochen wurden, war noch viel Leben, Spaziergänger wanderten hin und her, in den Lokalen da und dort saßen noch Scharen munterer Gäste. Endlich ließ sich Giorgio in einem von Sträuchern umgebenen Winkel auf eine Bank fallen, und Eberhard setzte sich neben ihn. Ihre Füße und ihre Waden berührten sich. Eberhard sah auf die Uhr; er wurde etwas ungeduldig und hoffte, der Jüngere werde bald wieder aufstehen und ihn in jenes römische Bürgerhaus führen. »Wohin gehen wir?« fragte er einmal und zweimal und unterstrich die Frage durch eine Handbewegung, aber Giorgio nickte nur und erzählte von seinem Aufenthalt in Straßburg, wo er vor einiger Zeit gewesen war. Keine zehn Meter neben ihnen verschwanden zwei Soldaten in dem Gesträuch. Plötzlich wollte Giorgio Papier und Bleistift haben, und Eberhard gab ihm einen kleinen römischen Stadtplan, den er aus einem Reiseführer herausgerissen hatte und dessen Rückseite weiß war. Mit Eberhards Hilfe begann Giorgio, einen Liebesbrief an Eberhard zu entwerfen. Ein amüsantes Spiel, aber es kostete Zeit – Eberhard fand den Jungen nett, wie er da krakelte, doch begriff er nicht, warum der so viele Umstände machte, von denen sie beide wissen konnten, daß sie überflüssig waren. Giorgio nahm eine andere Ecke des Papiers und malte, in so vagen Andeutungen wie nur möglich drei oder vier Bilder, auf denen zwei Männer in jeweils anderer Weise obszön miteinander...