E-Book, Deutsch, 245 Seiten
Rey Tageswandler 6: Igor
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7546-3203-1
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 245 Seiten
ISBN: 978-3-7546-3203-1
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Al Rey ist in Solingen geboren und aufgewachsen. Jetzt lebt sie im schönen Rheinland.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
„Wie soll ich sehen, ob du dich vor deinem Angriff verwandelst, oder nicht?“, fragte Okon missmutig und rappelte sich vom Boden auf. Sie trainierten seit über einer Stunde auf einer kleinen schneebedeckten Wiese abseits des Quartiers. Seichte Hügel und Sträucher schirmten sie ab, sodass ihnen niemand zusah. Igor hatte Okon erneut mit Leichtigkeit besiegt. Es spielte tatsächlich keine Rolle, in welcher Gestalt der Hundemann angriff. Er war zwar etwas älter, als Igor ursprünglich angenommen hatte, besaß jedoch noch zu wenig Erfahrung, um es im Einzelkampf mit ihm aufzunehmen.
„Ich weiß, es fällt dir schwer, aber überlass dich fürs Erste deinem Instinkt.“ Der Hyänenmann lehnte sich vor. „Er wird dir zeigen, was auf dich zukommt, solange du gegen Gestaltwandler kämpfst. Kontrolle lernen wir alle erst später.“
Nach drei weiteren Attacken gab Okon es auf. Er blieb im Schnee auf dem Rücken liegen und rieb sich die schmerzenden Knochen. „Vielleicht bin ich einfach kein Kämpfer.“
„Du hast mich gebeten, es dir beizubringen. Das spricht gegen diese These.“
„Du glaubst nicht, wie sehr ich das gerade bereue.“
„Hab Geduld mit dir.“ Igor half ihm mit einem Grinsen auf.
„Wie lange muss ich das?“
„Du hast dich Jahrzehnte lang gegen deine zweite Gestalt gewehrt und ihr Potenzial nicht entfaltet. Natürlich wird es dauern, bis du sie wie ich benutzen kannst.“
Der Albino nickte nachdenklich, während sie sich auf den Rückweg zum Quartier machten. Der Mond stand hoch am Himmel. Er tauchte die Gegend in ein kühles, fahles Licht. Jeder noch so niedrige Busch warf einen unwirklich langen Schatten. Trotzdem hatte Igor sich schnell wieder heimisch gefühlt. Hier war er aufgewachsen.
„Ich wünschte, ich wäre dir früher begegnet. Oder hätte den Mut aufgebracht, mich ein paar Abtrünnigen zu offenbaren. Dann hätte ich früher gelernt, ein Hund zu sein“, sagte Okon. Er bleckte die Zähne. „Abtrünnige leben gefährlich und müssen jedem gegenüber misstrauisch sein. Wer weiß, wie sie unter normalen Umständen auf dich reagiert hätten.“
„Ich dachte, in den meisten Gruppen ist meine Hundegestalt allgemein akzeptiert. Wäre ein anderer Clan besser gewesen?“
„Hätten sie dich aufgenommen, hätten sie von dir erwartet, ein Wächter zu sein und den Clan um jeden Preis zu beschützen. Gefragt, ob du das willst, hätten sie nicht.“
Der Hundemann zuckte mit den Schultern. „Warum tue ich mir diese Kampflektionen mit dir wohl an? Ich die anderen beschützen können.“
„Einverstanden.“ Igor stieg ein paar flache Felsen hinauf. Ihr Quartier kam in Sicht.
„Aber dann bin ich nicht mehr lange dein geeigneter Trainingspartner. Falls sich ein Clan gegen uns wenden sollte, was ich wirklich nicht hoffe, schicken sie zuerst ihre Bären. Du wirst Katinka fragen müssen, ob sie dir beibringt, wie man sich gegen sie verteidigt.“
Okon zog die Schultern hoch. Er konnte es ihm nicht verübeln. Einige im Clan fühlten sich von Katinka eingeschüchtert. Die hünenhafte Bärin war ebenfalls auf dem Weg ins Haus und warf ihnen einen kurzen Blick zu. Falls sie den letzten Teil ihrer Unterhaltung mit angehört hatte, schien sie noch nicht darauf eingehen zu wollen. Sie verhielt sich allgemein ein wenig reserviert und beobachtete jeden Einzelnen in ihrem Clan genau, bevor sie überhaupt ein Gespräch begann. Igor hatte sie inzwischen erzählt, dass ihre Familie aus Kroatien geflüchtet und sie in Kolumbien geboren worden war. Vor wem sie geflohen waren und wer ihre Eltern letztendlich getötet hatte, behielt sie für sich. Sie hatte nur gesagt, dass dem Clan ihretwegen keine Gefahr drohen würde. Igor vermutete im Stillen, dass Katinka ihre Familie gerächt hatte. Sie besaß ohne jeden Zweifel das Herz einer Kriegerin. Er betrat mit Okon die Eingangshalle. Die alten sowie die neuen Clan-Mitglieder hatten gemeinsam beschlossen, das Quartier zu renovieren. Zuerst hatten sie die dunklen Vorhänge und muffigen Teppiche entfernt und teils durch hellere Stoffe ersetzt. Statt der alten Gemälde zierten drei Dutzend Fotos die Korridorwand in der ersten Etage. Melissa hatte sie von sämtlichen Clan-Mitgliedern gemacht. Auch von jenen, die zuvor nie aus Spaß fotografiert worden waren. Dementsprechend hatten ein paar sehr irritierte Mienen in die Kamera geschaut. Igors Bild hing genau in der Mitte und zeigte ihn dabei, wie er auf einer Leiter stand und einen Karton von einem verstaubten Regal hob. Fjodor hatte gefragt, ob das Mädchen nicht besser neue und vielleicht etwas würdevollere Aufnahmen von ihnen machen sollte. Bisher gefielen sie Igor allerdings sehr gut. Melissa kam ihnen entgegen und begrüßte ihren Gefährten mit einem Kuss. Dann betrachtete sie seine vielen Blessuren.
„Was hast du schon wieder mit ihm gemacht?“, fragte sie an Igor gewandt.
„Es geht schon“, nahm Okon die Antwort vorweg. „Ich bin nur dreckig. Ich dusche mich schnell ab und dann streichen wir die letzte Wand in unserem Zimmer, einverstanden?“
Sie nickte begeistert, blieb jedoch stehen, während er schon die Treppe hinauf lief. Sie musterte Igor erneut, als ob er ihrem Geliebten all die Schrammen absichtlich zugefügt hätte.
„Er will kämpfen lernen“, sagte er leise. „Es gibt keinen anderen Weg, als zu trainieren.“
„Ich verstehe ja, warum. Aber wie wäre es mal mit zwei Tagen Pause?“
„Sag du ihm das“, schlug Igor vor. Melissa nickte resigniert. In diesem Punkt hörte Okon offenbar nicht auf sie.
„Marcus hat angerufen“, sagte sie, bevor sie sich zum Gehen wandte. „Er lässt dich grüßen.“
„Danke. Was hat er gewollt?“
„Er hat sich nur erkundigt, wie es Valeska und mir geht.“ Das Mädchen hob die Schultern. „Denkst du, er fühlt sich immer noch verantwortlich, obwohl wir uns selbst entschieden haben, bei euch zu bleiben?“
„Gut möglich.“
Diese Art der Nachfrage war unter den Gestaltwandlern unüblich, Igor nahm es seinem alten Freund aber nicht übel. Woher sollte Marcus wissen, dass Jason und Okon die beiden Mädchen als ihre Partnerinnen ansahen und nicht als Sklavinnen, was auch in diesem Jahrhundert nicht vielen Begabten vergönnt war. Melissa stieg leichtfüßig die Treppe hinauf. Es hatte ein wenig gedauert, aber sie hatte sich eingelebt. Ihre zierliche Erscheinung besaß etwas Elfenhaftes, was ihr den Spitznamen Fee eingebracht hatte. Zum Glück ärgerte es sie nicht. Im Gegenteil. Die jüngeren im Clan nannten sie fast alle so. Außerdem besaß sie das Talent, die anderen mit ihrer inzwischen meist guten Laune anzustecken. Igor sah ihr noch einen Augenblick nach, bis Sergej ihn in den Empfangssaal rief. Es musste entschieden werden, welche Wand welche Farbe erhalten sollte. Selbstverständlich packte er bei den Renovierungsarbeiten mit an, wann immer er konnte.
Erst nach Sonnenaufgang wurde es langsam still im Haus. Igor wusch sich zwei verschiedene Wandfarben von den Fingern, dann machte er sich auf den Weg in die Bibliothek des Quartiers. Als er die Eingangshalle durchquerte, zog Fjodor gerade die Haustür auf. Er und Sergej wollten offenbar einen ihrer üblichen Patrouillenwege ablaufen. Sie nickten ihm ergeben zu, bevor sie das Gebäude verließen. An die Regelmäßigkeit, mit der ihm diese Geste entgegengebracht wurde, hatte der Hyänenmann sich immer noch nicht gewöhnt. Genauso wenig wie an die Tatsachen, dass er das Vermögen des Clans verwalten musste, und ihm stets als erstes ein gefüllter Teller gereicht wurde, wenn sie gemeinsam aßen. Die Tür zur Bibliothek knarrte, als er sie öffnete. Dies war einer der Räume, die sie noch nicht renoviert hatten. Eine dicke Staubschicht bedeckte die Pergamentrollen und Lederbände, die über Jahrhunderte gesammelt worden waren. Im hinteren Teil des Raums befand sich ein abgeschlossener Schrank, zu dem kein Schlüssel zu finden war. Die Hunde vermuteten, dass eines der alten Oberhäupter darin Dokumente versteckt hatte, die die Verwicklung des Clans in den letzten großen Krieg gegen die Werwölfe vor über 500 Jahren bewiesen. In diesen Konflikt waren sie offiziell nicht involviert gewesen und keines der lebenden Clan-Mitglieder konnte das Gegenteil bezeugen. Dennoch hielt sich der Verdacht, da damals mehrere Kämpfer spurlos verschwunden waren. Igor hatte sich vorerst dagegen entschieden, das antike Möbelstück deswegen aufzubrechen. Zum einen waren sie immer noch damit beschäftigt, zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Zum anderen hatten innerhalb von zwei Monaten bereits vier fremde Gestaltwandler vor ihrer Tür gestanden, weil sie vom Umdenken des Clans unter Igors Führung gehört hatten. Drei von ihnen waren nur neugierig gewesen und wieder gegangen, ein Hundemann war geblieben, um vielleicht sogar für immer bei ihnen zu leben. Selbstverständlich waren alle vier eingehend darüber befragt worden, wer sie waren und zu wem sie Kontakt hatten. Schließlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Soraya irgendwo im Schatten lauerte und in ihrem Auftrag spioniert wurde. Die Gegenwart hielt sie alle in Atem, daher wollte Igor lieber keine alten Wunden aufreißen. Außer Fjodor waren ohnehin nur zwei weitere Männer alt genug, um sich an jene Zeiten zu erinnern. Er setzte sich auf das einzige Sofa im Raum und schlug den Band über die Entstehungsgeschichte seines Clans auf, den er als Kind nicht hatte lesen dürfen. Mittlerweile war er bei Aufzeichnungen angelangt, die sich hauptsächlich um Grenzstreitigkeiten mit einer gewissen Jasmina drehten. Angeblich war ihre Mutter seinem Clan entwendet und in eine Abscheulichkeit verwandelt worden. Darauf würde...