E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reznicek SKYDANCER
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-906037-45-5
Verlag: boox-verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Niemand spielt eine Rolle
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-906037-45-5
Verlag: boox-verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Walter Müller ist ein Niemand. Ein farbloser Bankangestellter. Elias Lee ist charmant, gutaussehend und der Chef eines erfolgreichen Verlags.
Eine zufällige Begegnung am Flughafen beschert dem Bankangestellten Walter Müller das aufregende Leben von Elias Lee. Obwohl die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten, scheint niemand den Identitätentausch zu bemerken. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser verwirrenden Situation entdeckt Walter, dass im Verlag seltsame Dinge vor sich gehen. Kann er, der biedere Bankangestellte, als Elias Lee dessen Probleme im Verlag lösen? Und wieso bemerkt niemand, dass er nicht der ist, für den ihn alle halten?
Michelle Reznicek ist Autorin und Artistin. In der Zeit zwischen Schreiben, Proben und Auftritten widmet sie sich den grossen Fragen des Lebens wie:
Was macht den Menschen einzigartig?
Der vorliegende Roman nähert sich dem Thema auf eine traumtänzerische Weise.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog … 7
Ein Mann namens Walter Müller … 9
Orangensaft und Café … 18
In der Welt von Elias Lee … 40
So gut wie goldblond … 69
Skydancer … 105
Eine Frau namens Vanessa … 122
Die Wunderwelt von Elias Lee … 137
Im Schoss der Familie … 179
Ein Kuss im Dunkeln … 193
Schnittstelle … 236
Ein Abschied … 256
Der Flughafen ... 271
Ein Mann namens Walter Müller
Saturday International Bank, verkündeten die grossen goldenen Lettern stumm über dem Eingang der Bank. Gleich hinter der Schiebetür befanden sich die lebhaft besuchten Schalter, und hinter denen, in einem etwas verborgenen, abgetrennten Bereich, war ein grosses Büro – in dem Treuhandabschlüsse und allerlei andere Transaktionen getätigt wurden. Wenn man das Gebäude von der anderen Seite, durch den Mitarbeitereingang, betrat, taten sich zwei Wege auf. Rechts hin zu den Schaltern, von denen meist nicht alle besetzt waren, und links hin zum separierten Grossraumbüro. Es waren sieben oder acht Büroboxen, die sich in dem grossen Raum befanden, alle fast identisch, mit ihrem dunklen Grau etwas eingeschränkt wirkend und sich nur durch vereinzelte Bilder unterscheidend, die der aktuelle Besitzer an die Trennwand gepappt hatte. Hier gingen die Bilder der Neugeborenen mit der Zeit über in die Bilder von Teenagern und Abiturienten. Haustiere wurden mit der Zeit ersetzt, und Bilder des vergangenen Urlaubs wechselten die Saison. Manchmal hingen da Bilder von Menschen mit Skiern und Sonnenbrille, mal Pyramiden. Eine Art Leinwand für das vorbeiziehende Leben. Nicht immer waren die Büroplätze alle besetzt. Manche von den Bankangestellten waren an den Schaltern, wenn jemand eine besondere Auskunft wünschte, oder sie waren in Besprechungen. Manche waren am Kopieren irgendwelcher Dokumente oder suchten Papier als Nachschub für das Kopiergerät, was beides nicht unbedingt nötig war, denn jedes Dokument war hier so oft kopiert und abgespeichert, dass es selbst mit Absicht kaum vernichtbar gewesen wäre. In der ersten Bürobox, in die man vom Korridor herkommend hineinblickte, sass ein junger Mann mit Brille, das Haar kunstvoll zerzaust. Sein Gesicht war nur vom Licht des Computerbildschirms erleuchtet, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, als wäre seine Brille selbst ein Bildschirm. In der gleichen Box, ihm vis-à-vis, sass eine Frau, fast in derselben, seltsam steifen Position verharrend. Gemeinsam sahen sie aus wie eine merkwürdige Variante der Werbung «Für Sie und Ihn». Doch niemand bemerkte diese Analogie. Ganz auf der rechten Seite des Grossraumbüros, etwas versteckt, befand sich eine ganz bestimmte Bürobox, in der ein Mann sass. Er war nicht besonders auffällig. Genauer gesagt, schien er ausgesprochen langweilig. In der Regel übersah oder bemerkte man ihn überhaupt nicht. Man hätte ihn gut und gern mit hundert anderen von der Strasse verwechseln können. Ehrlich gesagt, nicht einmal er selbst bemerkte sich wirklich. Er war etwas dicklich, hatte angegrautes, strähniges Haar und trug ein weisses Hemd, dass er aus irgendeinem Grund in eine ziemlich hässliche Gummizughose gestopft hatte. Seine Haut war käsig, und er wirkte kränklich. Man schätze ihn gerne auf Mitte fünfzig, dabei war er gerade erst vierzig geworden. Er war kein besonders angenehmer Mensch, auch kein unangenehmer, doch niemals der Mensch, auf den man gerade gehofft oder gewartet hatte. Er war ziemlich langweilig und generell langsam. Insgesamt ein Mann, den kaum einer wirklich sah und über dessen einzigen geschmacklosen Witz schon lange niemand mehr lachte. Seine Augen waren grau und glanzlos. Nur manchmal war da ein berechnender Blick. Distanziert und kühl irgendwie. Auf dem Schild auf seinem Schreibtisch stand sein Name: «Walter Müller». Was ebenso nichtssagend war wie ein ausgeschalteter Fernseher. Denn das Schild schien wenig aussagekräftig: Walter wurde fast genauso oft Werner genannt wie Walter. Oder Meier statt Müller. Walter selbst hatte schon längst aufgehört, das zu korrigieren. Es kam ihm nicht so wichtig vor, ob es nun Werner oder Walter war, Meier oder Müller. Ebenso gut hätte auf dem Schild Werner Meier stehen können. Es wäre nicht einmal gross aufgefallen. Einfache Namen verwechselte man nun mal leichter. Um achtzehn Uhr war Feierabend, und die Schalter schlossen. Die Mitarbeiter verabschiedeten sich voneinander und machten sich einzeln oder in kleinen Gruppen auf zu den Mitarbeiterparkplätzen, um nach Hause zu fahren. Um achtzehn Uhr zehn fuhr Walter seinen Computer herunter, ging aus der Tür und zu seinem Auto, das auf dem Parkplatz mit der Nummer 213 stand. Seit nun fast zwanzig Jahren stand sein Auto auf demselben Platz. Einmal, ganz am Anfang, hatte er einen anderen Parkplatz gehabt: die Nummer 18. Doch nur gerade mal zwei Wochen – dann wurde der Platz einem Kollegen zugeteilt. Ja, seit zwanzig Jahren arbeitete Walter Müller in dieser Bank. Seit zwanzig Jahren hatte er immer dasselbe getan: Er stand um sechs Uhr auf, fuhr zur Arbeit, sass an seinem Schreibtisch und tat seine Arbeit, die um achtzehn Uhr zehn in der Regel ihr Ende fand. Danach fuhr er nach Hause. Er stand immer im Stau, was seinen Arbeitsweg unverhältnismässig verlängerte, doch er dachte nicht darüber nach. Zirka um neunzehn Uhr fünfzehn kam er zuhause am Langustinen Weg 12 an. Er ging die drei Treppenstufen hinauf, knipste das Licht für aussen an und trat schliesslich in die Dunkelheit hinter der Tür. Seit zwanzig Jahren war es so. Jeden Tag, wie ein Uhrwerk. Doch niemand bemerkte es. Nicht einmal der automatische Terminkalender der Geschäftsleitung erinnerte daran, dass Walter Müller seit nunmehr genau zwanzig Jahren in dieser Bank arbeitete. Hätte jemand daran gedacht, wären seine Kollegen vielleicht mit einer Flasche Sekt aufgetaucht und hätten ihm gratuliert, ihnen war jede Unterbrechung des gewöhnlichen Alltags recht. Und wenn es nur dafür war, um auf zwanzig belanglose Jahre mit einem billigen Sekt anzustossen. Selbst Walter Müller bemerkte es nicht. Er legte sich genau um einundzwanzig Uhr achtzehn ins Bett, schloss die Augen und dachte an nichts. Doch der nächste Morgen hielt etwas Neues für Walter Müller bereit. Nach nunmehr zwanzig Jahren verlässlichen, präzisen Klingelns um sechs Uhr morgens blieb Walter Müllers Wecker stehen. Endgültig. Er verstummte so gründlich und für immer, dass Walter Müller erst mit zwei Stunden Verspätung die Augen aufschlug, als ein lauter Knall von der benachbarten Baustelle die Stille zerschlug. Mit dem vagen Gefühl, länger geschlafen zu haben als sonst, warf Walter einen Blick auf den Wecker, der noch immer vierundzwanzig Uhr drei anzeigte – die exakte Zeit, zu der er stehengeblieben war. Das Telefon, das nicht unweit vom Bett an einem Kabel hing, sprach allerdings eine andere Sprache. Sein Herz tat einen sehr schmerzhaften Schlag. Mit einem angestrengten Keuchen sprang Walter aus dem Bett. So schnell es sein untrainierter Körper erlaubte, packte er seine Kleider und seine Tasche. Gründlich und sehr schmerzhaft stiess er sich seinen Zeh an einem Stuhl, als er versuchte, so schnell wie möglich aus seinem Schlafzimmer zu kommen. In seinem Kopf wummerte nur eine Information: Er hatte verschlafen – und er hatte in den letzten zwanzig Jahren noch nie verschlafen! Stöhnend humpelte er die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und rannte zu seiner Garage, ohne das Aussenlicht auszuschalten. Er schloss die Autotür auf. Der Gedanke, dass sein Auto sehr bald in den jährlichen Service musste, schoss ihm durch den Kopf, doch er verdrängte den lästigen Gedanken, drehte den Schlüssel herum und fuhr los. Pünktlich zum Mittagessen kam er bei der Arbeit an. Niemandem war seine Abwesenheit wirklich aufgefallen. Seine Kollegen amüsierten sich ein wenig über seinen panischen Gesichtsausdruck, besprachen aber dann weiter ihren Plan, heute zur Abwechslung für das Mittagessen zum Flughafen zu fahren. In der Regel assen sie alle gemeinsam. Ihre Mittagspause war sehr kurz und erlaubte keine langen Ausflüge. Aber heute hatten sie Zeit und Lust auf ein Abenteuer. Die Idee wegzufahren gefiel Walter nicht. Ihr Stammlokal lag auf der anderen Strassenseite. Eine mittelprächtige, keiner bestimmten Nationalität angehörende Beiz, die weder besonders gut noch besonderes schnell kochte, doch sie lag gleich gegenüber, und sie kannten die etwas ältere Bedienung beim Vornamen. Das Tagesgericht änderte täglich, und es gab einen kleinen Nachtisch dazu. Wenn einer von ihnen mal wieder Abwechslung wünschte, dann gingen sie – ein gewagtes Unterfangen – zum Chinesen, zwei Strassen weiter. Die Gerichte waren mehr oder weniger immer dieselben, und die Bedienung kannte sie bereits, doch sie war nicht gewillt, beim Vornamen genannt zu werden. Ausserdem war es dort immer zu laut, und niemand verstand so genau, was das Personal sagte. Nicht einmal dann, wenn sie deutsch sprachen. Wieso also wegfahren? Der Aushang mit der Information, dass sie an diesem Nachmittag freihatten, hing an der Eingangstür des Büros. Walters Blick fiel darauf. Er war schon eine Woche dort und verkündete jedem (der ihn las), dass sie an dem Nachmittag dieses...