E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Riboulet Und dazwischen nichts
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95757-428-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 218 Seiten
ISBN: 978-3-95757-428-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mathieu Riboulet, 1960 geboren, lebt als Autor und Regisseur in Paris. Er studierte Literatur und Film an der Universität Paris III. 2012 erhielt er für sein Werk Les ?uvres de miséricorde den französischen Literaturpreis Prix Décembre. Karin Uttendörfer arbeitet als Übersetzerin, Autorin und Herausgeberin in Berlin und Paris. Sie hat u.a. Didier Daeninckx, Judith Perrignon, Marcel Aymé und Eric Hazan übersetzt. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien zuletzt Rue des Maléfices von Jacques Yonnet.
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II
Sex gibt’s nicht getrennt
von der Welt 1977
Wir haben nicht besonders aufgepasst, so beansprucht, wie wir von anderen Aufgaben waren, und als wir einige Jahre später den Kopf wieder erhoben, war die Schande schon über diese Zeit, die Ereignisse und die Frauen und Männer, die sie in Gang gesetzt hatten, gebracht. Die Welt hatte sich um ihre Achse gedreht, aber dieses Mal war es kein kleiner, mit bloßem Auge nicht zu erkennender Schwenk, sondern ein Umschwenken. Martins Tod 1989 in der Nacht vom 9. auf den 10. November, die Nacht als die Mauer fiel, dort oben in Berlin, tausendfünfzig Kilometer nordöstlich von der Pitié-Salpêtrière – zu symbolisch, um wahr zu sein, ich weiß, aber ich nutze es, um daran zu erinnern, dass Schriftsteller immer wieder feststellen müssen, dass die Realität die Fiktion übertrifft –, acht Jahre nach dem Ausbruch der Epidemie, ein Jahr nach der Wiederwahl Mitterrands, genügte allein schon, um mir das Ausmaß dieses Umschwenkens klarzumachen. Wenn auch das erste dieser beiden Ereignisse für mich beileibe nicht unerwartet kam, was seine Brutalität weiß Gott in nichts abschwächte, so hat das zweite doch alle kalt erwischt, zumindest beinahe alle. Martin war nur noch ein schwindendes Etwas auf seinem Krankenhausbett und sprach schon seit Wochen nicht mehr, und jeden Tag musste ich mich seinem Blick aussetzen, ich kann es nicht anders ausdrücken. Es war, als ob ich meinem eigenen Tod ins Gesicht sehen müsste: Seine Augen waren zwei Brunnenschächte, runde, ins Nichts weisende Öffnungen, in deren Tiefe einem das Ertrinken gewiss war; sie waren auch zwei Spiegel, in denen mein Bild zum Vorschein kam, und mit mir meine eigene Geschichte; und schließlich waren sie für ihn der einzige Weg, um sich mir mitzuteilen, und für mich, ihm zu antworten. Das, was wir uns sagten, ehe wir einander verloren, kann ich hier nicht mehr wiedergeben, denn die Worte waren unbrauchbar geworden, vergeblich, waren am Fußende des Betts verendet. Wir wissen, dass die Geschichte sich ohne uns fortsetzen wird, und manchmal bedauern wir es auch nicht, so sehr gleitet sie uns durch die Hände; was uns beide anging, so wussten Martin und ich seit fast zehn Jahren, dass unsere Stunde vorbei war, dass wir genau in dem Augenblick atemlos angekommen waren, als die Türen zufielen und uns somit zwangen, unsere Pläne zu ändern. Über den Fall der Berliner Mauer habe ich vor allem eine tiefe, instinktiv mit allen Berlinern geteilte Freude empfunden. In der Menschenflut, die ruhig und unerschütterlich die große, die Gleise am Grenzübergang Bornholmer Straße überspannende Stahlbrücke überquerte, in derselben Nacht als Martin stirbt, sehe ich nicht den großen Sieg des Westens und der Demokratie nahen, all diese Gemeinplätze, die seitdem einen ikonischen Gebrauch erleben, sondern diese Tausende von Männern, Frauen, Kindern, die sich endlich wieder jene andere Hälfte der Stadt werden aneignen können, von der sie, fast dreißig Jahre zuvor, Walter Ulbricht und seine Clique abgeschnitten hatten, ohne dass wir, ach so aufrechte Demokraten, auch nur den kleinen Finger gerührt hätten. Ich habe mir lange Zeit gelassen, bevor ich dorthin reiste, habe es vorgezogen, das Ende des 20. Jahrhunderts am östlichen Rand unseres geliebten Europas zu erleben. Aber inzwischen kenne ich die Stadt gut genug, um nachzuempfinden, was mich in jener Nacht so tief bewegte, und auch Martin kehrt zurück, denn ich kann nicht mehr auseinanderhalten, welche meiner Tränen seinem endgültigen Rückzug aus der Schönheit der Dinge galten und welche dem massenhaften Einzug der Kameraden aus dem Osten in eine nun mauerlose städtische Perspektive, an deren Achse sich auszurichten die Welt nun endlich bereit war.
Wir, die wir 1978 alle Hoffnung aufgegeben hatten, den Staat einschüchtern zu können, befanden uns seit 1981 im Visier einer Krankheit, die voll ins Schwarze traf und nur wenige ihrer Ziele verfehlte. Die drei Jahre dazwischen, in denen wir, ohne es zu wissen oder ohne den Mut zu haben, es zu sehen, durch unseren Verzicht, unsere Einsicht in die Kräfteverhältnisse, unsere Verzweiflung oder unsere Fluchten, das Bett für die darauffolgende Phase bereitet und das Scheitern unserer älteren Brüder endgültig bestätigt hatten, sie wurden uns in Form von Infektionen, Blässe, Durchfällen, kalten Schweißausbrüchen und drastischen Gewichtsabnahmen zurückgegeben, in Form von verwüsteten, ausgemergelten, ihres Verlangens entleerten Körpern und schließlich in Form von Leichnamen, die begraben werden mussten, so manches Mal auf die Schnelle, wie die Kadaver räudiger Hunde, deren Räude man fürchtet, eine Offensive, die uns zu Beginn des Kampfes völlig überrumpelte. Natürlich sah die finstere Dummheit, die den soliden Boden der schlimmsten reaktionären Kräfte bildet, verstärkt durch die nicht minder finstere, absolut zerstörerische Dummheit eines konformistischen Katholizismus – von Martins Familie bis zur Perfektion verkörpert –, in der Epidemie die gerechte Strafe für all diese widernatürlichen Abwege, Gedanken und Werke, vor allem Werke.
Ich werde euch sagen, was widernatürlich ist, und danach könnt ihr euch meinetwegen ficken lassen: Widernatürlich ist der Tod von Menschen abgeknallt wie Hunde auf der Straße in unseren in Frieden lebenden Ländern. Doch nicht ahnend, was ihr versäumt, werdet ihr euch nicht ficken lassen, die Anhäufung von Macht und Geld ist euer einziger Antrieb, und eure einzige Freizügigkeit ist der Einsatz eurer Stärke.
Wir kamen im September 1972 aus Polen zurück, und bis 1974, bis zu dem Tag, an dem ich auf dem Pont de Billancourt plötzlich verstanden habe, wie ich ich selbst werden und wo mein Platz sein würde, habe ich nichts anderes getan als gewartet. Die Weltenordnung war mir noch unverständlich. Die Eltern die Freunde die Nachbarn schienen wie von einer Schockstarre befallen, seit die Ermordung Pierre Overneys, vierundzwanzig Jahre wie ein Hund an den Werkstoren von Billancourt durch einen bewaffneten Wachmann eines Staatsunternehmens, die gesamte Bewegung, die sie auf die Beine stellten, in den Straßen den Fabriken den Werkstätten den Haushalten den Elendsvierteln, an den Rand der Frage getrieben hatte, wohin das alles führen würde, die Debatten die Aktion die beteiligten Kräfte die Wut die Beklemmung die Vergangenheit die Persistenz der alten keine neuen Horizonte mehr anpeilenden Funktionäre, jener Frage, die sich die Jugend Europas zur gleichen Zeit überall auf unterschiedliche Weise stellte, der Frage nach dem bewaffneten Kampf. Wahrlich keine unbedeutende Sache. Wie auch immer sie darauf antwortete, mit Nein in Frankreich, mit Ja in Deutschland und Italien, war das keine Anwandlung, keine Laune einer Handvoll verwöhnter, vereinzelter, exaltierter Babyboomer, sondern eine nicht zu leugnende, tödliche, politische Tatsache, in die Tausende von Menschen verwickelt waren und die einen Abdruck hinterließ, den man hier und da noch mühelos in den unterschiedlichen, oft nicht – oder noch nicht – reflektierten Erbschaften erkennt, die sie uns vermachte. Ich, der ich sie zwar nur indirekt miterlebte, tatenlos, mich aber genügend an ihr gerieben habe, um von ihr geprägt zu sein, kann mich, von da aus, wohin der weitere Verlauf der Geschichte mich führte, nicht damit abfinden, was die furchtbare Distanz uns die meiste Zeit vor Augen führt: Zahlen, Analysen, kniefällige Urteile in historischen und soziopolitischen Artikeln oder Büchern, dazu Erinnerungen, Widersprüche und immer noch kategorische Urteile auf Seiten der Akteure oder Zeugen, die beschlossen haben, Spuren ihrer Durchquerung dieses vor Wut schäumenden Kielwassers zu hinterlassen. Nichts ekelt mich mehr an als der Schleier aus Ironie, den man über diese Jahre breitet, der politische, moralische, intellektuelle Winkelzug, sie in eine Art Komödie zu verwandeln, in deren Verlauf unser französischer Esprit ein Abgleiten in die blutige Auseinandersetzung verhindert hätte, wie sie unsere deutschen und italienischen Nachbarn doch führten, die ersten, entsprechend den Gemeinplätzen über die europäischen Völker, bierernst, die zweiten leichtfertig, eine Komödie, die man sehr schnell, als sich die Gemüter schließlich wieder beruhigt hatten und Mitterrand gewählt war, mit Abstand, kritischem Geist, Selbstironie betrachtet hätte. Und nichts deprimiert mich mehr als die Erkenntnis, dass es oft genug die Akteure jener Jahre selbst sind, die diesen Schleier weben, inzwischen gehört das zum guten Ton und ist alles andere als die am wenigsten vollständige Art der Kapitulation.
Die Schockstarre der Eltern der Nachbarn der Freunde (waren wir, um ihr zu entfliehen oder sie zu vertreiben, nach Polen gefahren?) kam gewiss von dem Schwindel, der einen an Abgründen befällt: entweder weitermachen, was bedeutete, den Einsatz zu verstärken, indem man in die unsichtbare Ordnung der Dinge eintrat, in den Untergrund, den bewaffneten Kampf, und natürlich die gänzlich zu akzeptierende Möglichkeit zu töten oder getötet zu werden; oder aufhören – denn genauso weiterzumachen wie bisher hätte bedeutet, Pierre Overneys Tod wäre kein Einschnitt –, was implizierte, dass man etwas anderes finden musste, um seine Neuronen und seine Glieder zu beschäftigen, etwas anderes, das jedoch mindestens genauso ausschließlich war wie der Kampf gegen den Staat und das einige durchaus auch zu finden glaubten – doch tatsächlich bezweifle ich, dass irgendetwas sich an Intensität mit einem solchen Kampf messen kann: Weder die Religion noch das Wissen, die schöpferische Kreativität, die Amour fou, die Droge, die Depression, und schon gar nicht Zynismus oder...




