E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Richell Pfauensommer
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-24333-3
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-24333-3
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das verschlossene Zimmer im verstaubten Westflügel von Cloudesley Manor scheint vergessen. Nur die 86-jährige Lillian weiß, was dort geschah. Nur sie weiß um die dramatischen Ereignisse jenes verhängnisvollen Sommers, die ihr Leben unwiderruflich veränderten.
Sechzig Jahre später kommt Lillians Enkelin Maggie nach Cloudesley und die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln. Maggie, deren Herz sich nach Heilung sehnt, taucht in die düsteren Geheimnisse des Landguts ein. Wird sie die Geschichte ihrer Familie entwirren, bevor sie alles, was ihr viel bedeutet, verliert?
Hannah Richell wuchs in England und Kanada auf, verbrachte viele Jahre in Australien und lebt heute mit ihrer Familie im Südwesten von England. Sie arbeitete im Marketing der Film- und Verlagsbranche und für verschiedene Zeitungen und Magazine, bevor sie begann, Geschichten zu schreiben. Ihre Romane begeistern Leser und Presse weltweit und werden in 17 Sprachen übersetzt.
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2
Es ist drei Uhr früh, als Maggie aus dem Nachtclub taumelt – in Begleitung zweier junger Frauen und eines großen Mannes mit Schlangentattoo auf dem Unterarm. Die vergleichsweise Stille im Freien und die kühle Luft auf ihrer Haut sind ein willkommener Kontrast zur Hitze und zum wummernden Drum’n’bass im einstigen Lagerhaus.
Maggie rückt die Stofftasche über ihrer Schulter zurecht und wendet sich an ihre neuen Freunde: »Wie wär’s mit einem kleinen Abenteuer?«
»Woran denkst du da genau?«, fragt der Mann.
Tim. Jim. Sie erinnert sich nicht.
»Mir nach!« Sie führt ihn durch die Gasse zu den glitzernden Lichtern der Oxford Street.
Die Mädchen stolpern Arm in Arm hinterher und kichern. Sie kommen an einem offenen Dönerladen und einer Auslage mit grellrosa Schaufensterpuppen in Fetischkleidung vorbei. Vor einem rund um die Uhr geöffneten Supermarkt sitzt mit gesenktem Kopf ein Obdachloser, ein zerfetztes Pappschild vor sich auf dem Bürgersteig und einen zusammengeringelten australischen Schäferhund vor den Füßen.
Maggie sieht die gelben Scheinwerfer eines Taxis durch die Innenstadt geistern und hebt die Hand. Gemeinsam mit dem Mann klettert sie auf den Rücksitz, während sich die beiden Mädchen um den Beifahrersitz streiten.
»Clovelly Beach, bitte«, sagt sie. Der Fahrer, der ihr im Rückspiegel einen Blick zuwirft, nickt und wendet, verlässt die Stadt in Richtung Osten.
»Zum Strand?«, sagt der Mann neben ihr, dessen warme Hand über ihre Oberschenkelinnenseite streicht. »Wir könnten doch einfach zu mir gehen?«
Er lächelt, in seinen Wangen bilden sich Grübchen, doch sie schüttelt den Kopf. »Ich möchte das Meer sehen.«
»Ist das euer Handy?«, fragt die junge Frau neben ihnen.
Maggie lauscht. Aus den Tiefen ihrer Tasche dringt ein schwaches Tuten: ihr Handy, das schon so lange nicht mehr geklingelt hat. Sie hat ganz vergessen, wie sich das anhört. Sie lässt es läuten und konzentriert sich stattdessen auf die gelben Lichter von Bondi Junction, die jenseits der Scheibe vorbeigleiten, sowie auf den nicht nachlassenden Druck der Männerhand an ihrem Bein.
Das Taxi setzt sie auf dem Parkplatz hinter dem Surfclub ab. Maggie schlüpft aus ihren Schuhen und führt sie zur felsigen Landspitze, spürt das kalte Gestein unter den nackten Füßen und schmeckt das Salz in der Luft. Sie spürt, wie ihr der Mann folgt. Die Mädels sind ganz in der Nähe, stolpern lachend durch die Dunkelheit. Das Wellenrauschen unter ihr ist ohrenbetäubend. Sie knickt einmal um, doch ihr Begleiter fängt sie mühelos auf und hält sie fest. Seine Hände sind rau und haben kräftige Finger, die Hände eines Handwerkers.
»Woher kommst du?«, fragt er, zündet sich eine Zigarette an und reicht sie ihr, während sie sich über das unebene Terrain fortbewegen.
Sie nimmt einen Zug und gibt sie ihm zurück. »Aus England.«
»Das hab ich mir bei deinem Akzent schon gedacht. Woher genau?«
»Davon wirst du nie gehört haben.«
»Sag doch erst mal.«
»Es ist ein kleines Dorf, ein winziger Fleck auf der Landkarte.«
»Und der heißt wie?«
»Cloud Green.«
Er schüttelt den Kopf. »Nee, nie davon gehört.«
»Du bist aber weit von zu Hause weg«, sagt eine der jungen Frauen, als sie zu ihnen aufschließt.
»So weit, wie ich nur konnte.«
Sie findet eine Stelle, die genauso gut ist wie jede andere, lässt ihre Tasche fallen und geht bis zum äußersten Rand des Felsvorsprungs, starrt auf das schwarze Wasser hinunter. Es tost unter ihr, weißer Schaum glitzert in der Dunkelheit.
»Geht es ihr gut?«, hört sie eines der Mädels fragen.
Sie breitet die Arme aus und lehnt sich gegen den Wind.
»Komm zurück«, sagt der Mann mit einem nervösen Lachen, doch sie schließt die Augen und überlässt sich den heftigen Böen, dem unter ihr rauschenden Ozean. Sie fühlt sich wie ein Vogel, wie eine Möwe, die sich davontragen lässt.
So verharrt sie, bis sie sich, abgekühlt durch die salzige Meeresluft, umdreht und über die Felsen zurückkehrt.
Die anderen sitzen da und lassen einen Joint kreisen. Maggie fröstelt und schlingt die Arme um die Knie. Der Mann legt ihr einen Arm um die Schulter, die Zigarette lässig in der Hand. Den Mädels wird langweilig, sie laufen zu den Parkplatzlichtern zurück, doch Maggie bleibt, wo sie ist, starrt in die Dunkelheit und aufs tosende Meer hinaus.
»Und jetzt?«, fragt er.
Maggie zuckt mit den Schultern. »Ich mag das Meer. Es lenkt mich von mir ab. Außerdem wollte ich noch nicht wieder zurück ins Hostel. Eine meiner Mitbewohnerinnen schnarcht wie ein Bär.«
»Okay, aber es wird langsam kalt.« Er drückt seine Kippe auf den Felsen aus und beugt sich vor, um sie zu küssen. Sein Atem riecht nach Tabak und Bier. »Komm, am besten wärm ich dich ein bisschen auf.«
Seine Finger ziehen an den Trägern ihres Tops, streifen sie ihr über die Schultern. Sie lehnt sich zurück, sein Mund auf ihrem und seine Hände am Reißverschluss ihres Rocks. Sie schaut zum Meer, wo sich am Horizont bereits ein schwaches Leuchten abzeichnet. Sie ist nicht auf den Tagesanbruch vorbereitet, schließt die Augen und versucht, alles bis auf das Tosen der Wellen auszublenden, die sich unten an den Felsen brechen, und den Fremden, der sich auf ihr bewegt, sie gegen den Felsen presst. Fast fühlt es sich an, als würde sie ertrinken.
***
Als sie aufwacht, ist er fort. Nur sie und ein paar neugierige Möwen sind noch da, die in wenigen Zentimetern Entfernung dastehen und sie misstrauisch beäugen. Ihre Schultern sind verspannt. Dort, wo ihr Gesicht auf den Felsen lag, klebt Sand an ihrer Wange. Mehrere Jogger erscheinen nacheinander auf dem Küstenpfad. Ihre Turnschuhe trommeln einen regelmäßigen Rhythmus. Auf dem Parkplatz hinter ihr machen zwei Frauen in bunten Sportklamotten Dehnübungen und plaudern. Ihr Gelächter klingt schrill an diesem frühen Morgen.
Angesichts der Sydneysider beim Frühsport fühlt sie sich verklebt und verkommen. Maggie greift nach ihrer Tasche und ist erleichtert, dass ihre neuen Freunde sie nicht um ihre Wertsachen gebracht haben. Wenn sie sich beeilt, kann sie vielleicht im Hostel duschen, bevor ihre Schicht im Café beginnt.
Als sie zum Parkplatz zurückläuft, dringt wieder das schwache Tuten ihres Handys aus den Tiefen ihrer Handtasche. Sie zieht es heraus und wirft einen Blick aufs Display. . Sie ist versucht, es weiterklingeln zu lassen. Im letzten Moment gewinnt die Neugier die Oberhand.
»Hallo«, sagt sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Krächzen.
»Spricht da Oberon?« Es knackt in der Leitung. Die Frauenstimme klingt sehr englisch und sehr weit weg. »Hallo? Maggie Oberon?«
»Ja«, sagt sie. »Das bin ich.« Maggie schluckt, ihre Zunge ist wie ausgedörrt und liegt ihr schwer im Mund. Ihr aufziehender Kater macht sich in pochenden Schläfen bemerkbar.
»Ach, Gott sei Dank. Ich heiße Kath Davies. Ich rufe aus dem Krankenhaus in Buckinghamshire an. Ich versuche scho…«
Wieder dieses Rauschen in der Leitung. Maggie schließt die Augen. Irgendwo draußen auf dem Wasser kreischen Möwen.
» … Sie zu erreichen. Sind Sie noch dran, Maggie?«
»Ja«, sagt sie. »Ich bin noch dran. Entschuldigen Sie, aber die Verbindung ist ganz schlecht.«
»Ich rufe wegen Lillian an, Lillian Oberon.«
Maggie kneift erneut die Augen zu. »Ist sie … ist sie …«
»Sind Sie Ihre nächste …«
»Geht es ihr gut?«
»Verwandte?«
Ihre Stimmen überschneiden sich und bilden ein Wirrwarr.
»Ich bin ihre Enkelin. Geht es ihr gut?«
»Können Sie mich hören, Maggie? Die Verbindung ist wirklich katastrophal.«
»Ich kann Sie hören. Sprechen Sie weiter«, drängt sie, auch wenn ihre Worte aus knapp zwanzigtausend Kilometern Entfernung zurückgeworfen werden. »Sagen Sie endlich, was ist mit Lillian?«
***
Heathrow ist ein grässliches Durcheinander aus Menschen, Gepäck, Kerosingestank, weinenden Babys, Tränen und Geschrei. In der frühmorgendlichen Hektik der internationalen Ankunftshalle schauen die Leute erwartungsvoll, drängen sich gegen die Absperrung. Es fällt ihr schwer, nicht verlegen zu werden, weil sie sich wie auf dem Präsentierteller fühlt.
Zwei kleine Mädchen winken mit einem handgemalten Plakat. Die Mutter hinter ihnen tritt währenddessen ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Eine Frau in einer schwarzen Burka umarmt einen großen, weinenden Mann. Eine ältere Dame sitzt eingesunken in ihrem Rollstuhl, während ihre Familie sich über ihren Kopf hinweg lebhaft unterhält.
Auf Maggie wartet niemand.
Sie hat auf dem langen Flug von Sydney nach London kein Auge zugetan, doch etwas am Ruckeln des Heathrow Express lässt Maggie schnell auf ihrem Sitz eindösen. Das Kinn ist ihr auf die Brust gesunken, und sie bekommt kaum etwas von ihrer Umgebung mit, bis sie erschreckt hochfährt, als ein Bahnmitarbeiter sie an der Schulter rüttelt und ihr sagt, dass sie Paddington erreicht haben.
Mit geröteten Augen nimmt sie die U-Bahn bis zur Marylebone Station, kauft einen Strauß roter Tulpen an einem Blumenstand im Bahnhofsgebäude und lässt sich dann in die Ecke eines weiteren Zugabteils fallen. Der Zug kriecht durch Londons graue Vororte, bis sich die Landschaft öffnet und er Fahrt aufnimmt.
Nach der Hitze und der Sonne der letzten Monate ist es seltsam tröstlich, zurück in dieser Landschaft aus gedämpften Braun-, Grau- und Grüntönen zu sein. An Australien hat ihr vieles gefallen. Die endlose Weite des blauen Himmels, die rote...