- Neu
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: Systemische Pädagogik
Ricking / Albers Schulabsentismus
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8545-1
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Intervention und Prävention
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: Systemische Pädagogik
ISBN: 978-3-8497-8545-1
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heinrich Ricking, Prof. Dr. phil. Ausbildung und langjährige Berufserfahrung als Förderschullehrer. Hochschullehrer für Sonder- und Rehabilitationspädagogik mit Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Viviane Albers, Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik im Fachbereich Pädagogik bei Verhaltensstörungen / emotionale und soziale Entwicklung. Honorarkraft in der Leinerstift Akademie GmbH.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
4 Schulische Prävention und Intervention
4.1 Bedeutsamkeit schulischer Prävention
Ohne fachliche Einflussnahme zeigen die Verläufe von Schulversäumnissen vielfach einen Prozess der Eskalation mit zunehmender Entfremdung von der Schule: von der Schulaversion über den Schulabsentismus zum Dropout. Zu Beginn – oft noch in der Grundschulzeit – wirken sich unangenehme Erfahrungen mit negativen Begleitemotionen so aus, dass Unzufriedenheit sowie auch eine erste Abwehrhaltung gegenüber schulischem Handeln auftreten (Ricking 2023). Es sind vielfach demotivierende Versagenserlebnisse beobachtbar, die häufig weder in der Schule noch in der Familie aufgefangen werden. Die Grundbedingung dafür, dass mit dem täglichen Aufenthalt in der Schule überwiegend positive Gefühle verbunden sind, wird nicht erfüllt (Sälzer 2010). Eine schulaversive Haltung baut sich auf. Um kognitive Dissonanzen zu vermeiden, wird die Bedeutung von Schule abgewertet.
Es geht hier um einen Prozess, der relativ früh mit nachlassendem schulischen Engagement beginnt und dem man ebenso früh mit geeigneten Strategien der Teilhabe begegnen sollte (Partizipation, Schaffung sozialer Bindungen, Lernunterstützung, Identifikation ermöglichen u. a. m.) (Hickman et al. 2008). In der Folge verfestigen sich diese Erscheinungsformen leicht, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern. Zumeist häufen sich Konflikte (z. B. über das verspätete Erscheinen nach der Pause, das Sozial- oder Arbeitsverhalten des Schülers im Unterricht), die Beziehung zur Lehrkraft entwickelt sich ungünstig, manche Betroffene gewinnen Abstand zu Mitschülern oder werden gemieden. Vor diesem Hintergrund setzen erste unerlaubte Fehlzeiten ein, die emotionale Entlastung bringen und nicht selten auch durch subjektiv befriedigendere Aktivitäten am Vormittag verstärkt werden (Ricking 2023).
Abb. 3: Entwicklungsmodell Schulabsentismus/Dropout (Ricking 2014)
Die Distanzierung von der Schule ist somit ein langfristiger Prozess, der oft mit einer schulablehnenden Haltung beginnt, sich kontinuierlich aufbaut, sich später in Schulabsentismus manifestiert und in nicht wenigen Fällen im Dropout endet (Hickman et al. 2008). Der Schulabbruch bildet in diesem Zusammenhang vielfach den Endpunkt einer »Abwärtsspirale« aus Leistungsversagen, Demotivation, Perspektivlosigkeit und Vermeidung.
So können Schulen Versäumnisse begünstigen, indem sie basale Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Teilhabe und Kompetenzerleben missachten (»push-effect«). Die vermeintlich attraktiveren Bedingungen außerhalb der Schule vermögen die Abwesenheit zu unterstützen (»pull-effect«), wie z. B. auszuschlafen, dann mit schwänzenden Mitschülern durch die Innenstadt zu ziehen oder am Computer zu spielen. Gelingt es nicht, den Schüler zurückzuführen und wieder stärker an die Schule zu binden, droht eine Entkopplung, die mit zunehmender Dauer kaum noch rückgängig zu machen ist.
Denken Sie an einen Schüler, der bereits schulaversive Verhaltensweisen zeigt. Betrachten Sie dieses Entwicklungsmodell. Überwiegen eher Push- oder Pull-Faktoren, die eine mögliche schulaversive Tendenz in Schulversäumnisse oder sogar einen Dropout münden lassen könnten? Welche Motive, Ursachen und Merkmale der schulaversiven Haltung erkennen Sie – unter Berücksichtigung der vielfältigen Erscheinungsformen von Schulversäumnissen?
In präventiver Hinsicht muss es darum gehen, den Teufelskreis zwischen Versagen und Vermeiden zu durchbrechen, es nicht zu einer Chronifizierung kommen zu lassen und frühzeitig mit geeigneten Maßnahmen eine Verbesserung der Beziehungsqualitäten wie auch der Anbindung an Schule und Unterricht herbeizuführen.
»Präventive und frühe Interventionsmaßnahmen erscheinen dringend geboten, da Schulverweigerung oder die drohende Schulverweigerung nicht erst im 7. Pflichtschuljahr beginnt, sondern sich bereits in der Grundschule abzeichnet. Schulabstinenz als Endpunkt gravierender Belastungen von Kindern und Jugendlichen macht präventive Maßnahmen, die nicht zuletzt eine Veränderung vom Schulalltag, eine starke Verknüpfung von Schule und Jugendhilfe (z. B. Schulsozialarbeit) erfordert, dringend notwendig« (Mutzeck, Popp u. Oehme 2001, S. 71).
Dabei bieten Schüler, die die Schule aus eigenem Antrieb regelmäßig besuchen, einen wichtigen Orientierungspunkt: Diejenigen, die sozial eingebunden sind, Wertschätzung erfahren und sich sicher fühlen, entwickeln ein Zugehörigkeitsgefühl, sodass sie sich als wichtigen Teil einer (Schul-)Gemeinschaft erleben (Sälzer 2010). Werden sie darüber hinaus in ihrem Handeln bestätigt, erfahren sich als erfolgreich und wirksam in einem zufriedenstellenden Unterricht, der mitunter auch Freude bereitet, ist die Wahrscheinlichkeit illegitimer Versäumnisse gering und der Schulbesuch kein Problem. Es ist somit notwendig, schulische Bedingungen so zu gestalten und dahingehend zu entwickeln, dass sich Schüler in ihrer Gemeinschaft wohl und zugehörig fühlen sowie Erfolg und Bestätigung erleben (Ricking 2023). Schulabsentismus ist nicht nur ein schulisches Problem, doch Schulen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Anwesenheit und die Teilhabe von Schülern an ihren Aktivitäten deutlich beeinflussen und angesichts der extrem negativen Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihren Beitrag dazu leisten, illegitime Schulversäumnisse zu minimieren.
4.2 Elemente schulischer Prävention und Intervention
In vielen Schulen wird schulischer Absentismus immer noch als primär schulrechtliches oder bildungspolitisches Problem behandelt, das durch ein Ordnungswidrigkeitsverfahren und den gesetzlichen Schulzwang geahndet wird. So bieten entsprechende Vorgaben die abgestuften Möglichkeiten der Androhung und Auferlegung eines Bußgeldes, der Zwangszuführung durch die Polizei sowie von Arreststrafen (Ricking 2022). Aus pädagogischer Perspektive ist zu bezweifeln, ob eine Geldstrafe für Eltern – die häufig den erzieherischen Einfluss auf das Kind oder den Jugendlichen verloren oder stark eingebüßt haben – Zwangszuführungen oder Arreststrafen als angemessene Sanktionen betrachtet werden können bzw. angemessen sind, um zukünftigen Absentismus zu verhindern (Ricking u. Hagen 2016). Die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren über Mahnung, Bußgeld und Zwang die Schüler zurückzugewinnen, sind erfahrungsgemäß begrenzt (Ernst u. Höynck 2018). Das Verfahren kann ggf. dann seinen Zweck erfüllen, wenn Erziehungsberechtigte den Schüler bewusst von der Schule zurückhalten. Zwangsmaßnahmen sind häufig nur kurzfristig verhaltenswirksam, tangieren wichtige Faktoren nicht, und es mangelt ihnen an einer schulpädagogischen Komponente, die Schüler wieder an die Schule heranführt und sinntragend einbindet.
Vor diesem Hintergrund fordern Wissenschaftler und Praktiker seit mehr als 20 Jahren eine Reform im Umgang mit Schulversäumnissen und den Einsatz von wirksamen Strategien der Stärkung von Anwesenheit und Teilhabe in der Schule. Es sind pädagogische Alternativen gefragt und so zeigen sich mittlerweile in Deutschland Anzeichen eines paradigmatischen Wechsels. Vielerorts verlagert sich der Fokus auf ein proaktives und präventiv-pädagogisches Handeln wie auch auf ein professionelles Management von An- und Abwesenheit im Rahmen eines ganzschulischen Ansatzes. Im wissenschaftlichen Feld wurden Präventions- und Interventionskonzepte entwickelt; in der Praxis haben regional Schulträger und Schulen Maßnahmen und Programme kreiert, die abgestimmte Vorgehensweisen in einer Stadt oder einem Landkreis ermöglichen. Diese Veränderungen sind insbesondere an den aktuellen Handreichungen und den für die dortigen Schulen verbindlichen Richtlinien zu erkennen, die in Hamburg und Schleswig-Holstein veröffentlicht wurden (Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg 2023, Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schleswig-Holstein 2022).
Abb. 4: Zusammenspiel von Prävention – Intervention – Rehabilitation (Albers, Bolz u. Wittrock 2018, S. 271)
Der Umgang mit Schulversäumnissen verlangt, unabhängig von rechtlichen Regelungen, eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Schulabsentismus, um passgenaue und zielführende Unterstützungsmaßnahmen im Sinne der Prävention, Intervention und Rehabilitation initiieren zu können (Albers, Bolz u. Wittrock 2018) (s. Abb. 4).
Die Prävention verfolgt das Ziel, Schulversäumnisse zu vermeiden, was eine ressourcen- und beziehungsorientierte Haltung bedingt.
Der adäquate Umgang mit Schulabsentismus wird maßgeblich von einem Zusammenspiel verschiedener schulischer Ebenen bestimmt (Kearney 2016; Reid 2014). Ricking (2014) zufolge stehen zur Prävention von Schulabsentismus drei Ebenen im Fokus. Zu diesen Ebenen zählen sowohl die organisatorische als auch die pädagogische sowie die unterrichtliche Ebene.
Abb. 5: Präventionsebenen (Ricking 2014, S. 43; Albers, Bolz u. Wittrock, S. 272)
Auf pädagogischer Ebene gilt es, zum einen durch Lehrerverhalten und Beziehungsgestaltung mit Schülern Einfluss auf das Wohlbefinden der Schüler zu nehmen. Zum anderen soll die schulische Integration, bspw. durch eine enge Vernetzung mit der Schulsozialarbeit und...