E-Book, Deutsch, 114 Seiten
Riedel Charles Finch: Die Karte des Todes
8. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7467-7872-3
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 114 Seiten
ISBN: 978-3-7467-7872-3
Verlag: epubli
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5
Lucille Cantrell nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel vom Schreibtisch, und hantierte umständlich mit den Streichhölzern herum, bevor sie den Tabak in Brand setzte. Die Untersuchung sollte beginnen, und aus irgendwelchen Gründen war sie zuerst zur Einvernahme ins Arbeitszimmer gerufen worden, das Bradley zu seinem Hauptquartier erkoren hatte.
Er wartete darauf, dass sie sich einen der Stühle nahm, die neben dem Kamin standen. Jetzt stand er einfach nur da und beobachtete sie. Seine Finger füllten den Kopf der schwarzen Pfeife in seiner Hand aus einer roten Tabaksdose.
Am Fenster hatte sich Finch mit beiden Händen auf der Fensterbank abgestützt und schaute in den strömenden Regen hinaus. Wie so oft war er anwesend und auch wieder nicht. Wieder einmal schien seine Absicht darin zu bestehen, auch nicht das kleinste Detail zu überhören.
Lucille setzte sich und Bradley zog sich ebenfalls einen der Stühle heran.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie ausgerechnet mich zuerst vernehmen wollen, Mr. Bradley«, begann Lucille zaghaft. »Immerhin gehöre ich der Familie erst seit elf Monaten an. Spencer und ich haben vor knapp einem Jahr geheiratet.«
»Wissen Sie«, lächelte Bradley, »ich schätze es, mit den einfachen Dingen anzufangen … Sie kannten Duncan Cantrell erst seit einem Jahr. Wenn Sie einen Grund hatten ihn zu töten, dann liegt dieser weiter an der Oberfläche als bei jedem anderen, und lässt sich entsprechend leichter zu Tage fördern.«
Lucille wich seinem Blick nicht aus. »Aber ich habe ihn nicht getötet!«
Bradley riss ein Streichholz an seiner Schuhsohle an, hielt es an den Pfeifenkopf und blinzelte sie durch die Rauchwolke an.
»Ich habe ihn wirklich sehr gemocht«, stellte Lucille klar. »Er war mir hier im Haus ein ausgesprochen guter Freund.« Als Bradley nichts erwiderte, fuhr sie mit leicht erhobener Stimme fort: »Das klingt für Sie vermutlich so, als würde ich mit den anderen nicht auskommen. Aber das ist nicht wahr. Ich bin mir sicher, dass mich die anderen mögen. Ich …«
»Probleme mit der Schwiegermutter?«, erkundigte sich Bradley.
»Ich habe keine Schwierigkeiten mit Mrs. Cantrell«, widersprach Lucille. »Sie ist sehr nett. Sie versucht zwar Spencer und mich fernzuhalten, aber …«
»Aber Spencer klebt an ihr, nicht wahr?«
»Wie ich sehe, haben Sie bereits mit Dr. Finch gesprochen«, lächelte Lucille gequält. Sie warf einen Blick zum Fenster, wo Finch noch immer regungslos in den Regen starrte.
»Dr. Finch wollte mir über niemanden der Familie etwas erzählen«, klärte Bradley sie auf. »Aber ich habe gesunde Augen und Ohren.« Er lächelte wieder.
»Ist das denn alles so offensichtlich, für Sie?« Sie legte ihre Beine damenhaft aneinander. »Ich würde doch vermuten, dass jede junge Frau, die heiratet, mehr oder weniger ein Problem mit der Mutter ihres Mannes hat, oder? In meinem Fall, … nun, es ist weniger ein Problem mit Mrs. Cantrell als vielmehr mit Spencer.« Sie sah Bradley offen an und verzog ein wenig die Mundwinkel nach unten. »Ich finde es äußerst unangenehm, über die Familie und ihn zu sprechen, wenngleich ich weiß, dass es dazu früher oder später kommen muss.«
»Das sehen Sie richtig!«
»Ich habe Spencer über meinen Arbeitsplatz kennengelernt«, sprach Lucille weiter. »Als ich vor zwei Jahren das College abschloss, bekam ich Arbeit bei einem Buchverlag, in dem Spencer Juniorpartner ist. Ich wurde seine Sekretärin.« Sie lächelte. »Er ist furchtbar süß, sanft und freundlich. Wir haben viele Dinge gemeinsam, gehen gern in Kunstgalerien, haben den gleichen Geschmack an Büchern, Theater und Musik. Es ist immer lustig mit ihm. Wir mögen gutes Essen, und Spencer macht sich keine Gedanken um Geld. Aber wir beide haben das Gefühl, dass die Dinge, die wir am meisten wollen, die Dinge sind, die man mit Geld nicht kaufen kann.« Sie schwieg einen Augenblick. »Nun, … nach einem halben Jahr, in dem wir uns regelmäßig getroffen und viel unternommen haben, wurde es ernst und schließlich wollte Spencer für alle sichtbar zu mir stehen. Ich war bis über beide Ohren in ihn verliebt und akzeptierte. Die ganze Zeit über hatte ich seine Familie noch nicht kennengelernt, und ich muss zugeben: Ich habe darüber nicht einmal nachgedacht. Die Dinge sind glücklicherweise anders als noch vor fünfzig Jahren. Ich … ich habe keine Familie. Vermutlich ist das der Grund, warum ich nie daran gedacht habe. Aber nachdem wir uns entschieden hatten zu heiraten, brachte er mich eines Tages zum Abendessen mit … Und ich, nun ja, … Ich kam mir am Anfang wie auf einer Pferdeauktion vor.« Sie lachte kurz auf. »Ich habe tatsächlich erwartet, dass jemand auf mich zukommt, der den Zustand meiner Zähne begutachtet, um mein Alter festzustellen oder mein gebeugtes Bein, um die Sehnen zu betasten! Sie waren alle im Wohnzimmer, um mich zu treffen … Alle, außer Mr. Cantrell. Mrs. Cantrell und Tante Elizabeth waren herzlich und höflich. Nur von Dorothy hatte ich den Eindruck, dass sie mir gegenüber ein wenig feindselig war. Und Cedric … Nun, Cedric schien darüber recht amüsiert zu sein, dass Spencer überhaupt irgendeine Freundin hatte. Er machte Getränke für uns und brachte dann einige flotte Trinksprüche auf die zukünftige Braut aus. Ich spürte wie sich mir die Nackenhaare aufstellten … Ich hatte das Gefühl, dass Cedric und Dorothy glaubten, mit Spencer stimme etwas nicht, und dass Mrs. Cantrell und Tante Elizabeth mich strikt als einen gefährlichen Eindringling betrachteten. Dann erschien Mr. Cantrell.« Lucilles Stimme wurde weicher. »Er kam mit einem Rollstuhl in den Raum, den er allein bediente. Sie hatten einen dieser modernen neuen Fahrstühle eingebaut, als sich sein Herzleiden verschlechterte, und er ohne fremde Hilfe nicht mehr die Treppe benutzen konnte. Er hat Hilfe immer abgelehnt und sie sogar regelrecht übel genommen.« Sie hatte kurz auf ihre Hände gesehen, ehe sie den Inspector wieder ansah. »Es war, als würde die Sonne an einem regnerischen Tag durch die Wolken brechen, als Mr. Cantrell ins Zimmer kam, Mr. Bradley. Es schien mir, als strahlte er alle Wärme, Freundlichkeit und Verständnis der Welt aus. In ihm sah ich soviel von Spencer, nur dass er viel mehr Kraft ausstrahlte. Man konnte an ihm erkenne, wie Spencer einmal sein würde. Da waren eine große Vitalität und eine große innere Stärke in ihm. Ich mochte Mr. Cantrell auf Anhieb. Er war einfach wundervoll und sehr viel weniger formell mir gegenüber. Er nahm mich vorbehaltlos als eine der ihren an, und seine bloße Anwesenheit schien die anderen zu beeinflussen. Ich war nicht mehr länger der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und alle erschienen mir verändert. Cedric und Dorothy, Mrs. Cantrell und Tante Elizabeth verhielten sich mir gegenüber plötzlich viel aufgeschlossener. Nur bei Spencer hatte ich das Gefühl, dass ihn die Gegenwart seines Vaters störte.« Lucille brach ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, Mr. Bradley! Sie dürfen meine Bemerkung nicht falsch verstehen. Spencer und sein Vater waren sich so ähnlich, nur Mr. Cantrell … Nun, wie soll ich es ausdrücken? … Wenn Sie zwei rote Farben gegenüberstellen und eines hellere Pigmente hat als das andere, dann wirkt das andere dunkler als es wirklich ist. Jedenfalls fühlte ich mich sehr viel besser, nachdem ich Mr. Cantrell getroffen hatte. Ich hatte sehen können, wie Spencer einmal sein würde, wenn er erst ein wenig mehr Selbstvertrauen und Lebenserfahrung gewonnen hatte.«
»Vielleicht hat es Spencer nicht gefallen, wie sein Vater zu sein und doch nicht ganz so rot«, bemerkte Finch beiläufig und wandte sich wieder dem Regen zu.
»Nein! Nein!«, wehrte sie ab. »Er hatte den tiefsten Respekt vor ihm und eine aufrichtige Bewunderung für ihn. Sie müssen das verstehen: Es gab keinerlei Rivalität zwischen ihnen!«
Bradley schwieg. Er schien sich plötzlich intensiv auf seine Pfeife zu konzentrieren.
Lucille fuhr fort. Sie schien jetzt ein wenig außer Atem zu sein, so als hätte sie das Gefühl, gerade einen Fehler begangen zu haben, den es nun zu korrigieren galt. »Es war Spencer, der die Verwaltung aller Dinge übernahm, obwohl Cedric ja der ältere war und es wohl seine Aufgabe gewesen wäre … Vor einem Jahr hat Mr. Cantrell seinen Nachlass bereits an alle seine Erben verteilt. Er sagte damals, dass er nicht wolle, dass alle nur herumsitzen und auf seinen Tod warten würden. Er lächelte und meinte, er würde noch lange leben, aber … aber …« Ihre Stimme klang jetzt unsicher, und sie unterbrach kurz, um sich zu sammeln. »Als das Anwesen aufgeteilt wurde, war man sich einig darüber, dass die Erben, die hier wohnen, alle ihren Beitrag zum Betrieb des Hauses leisten sollten. Dazu gehörten Cedric, Dorothy, Spencer und auch Tante Elizabeth. Natürlich hatten auch Mr. und Mrs. Cantrell ihre Anteile und nun gehen seine an sie über. Aber die waren ja eigentlich schon immer ihre. Es war Spencer, der die Finanzierung des Haushalts übernahm. Ich glaube, Mr. Cantrell war sogar stolz darauf, wie er mit der Verantwortung umging, insbesondere in Cedrics Fall. Das erinnerte schon sehr daran Blut aus einem Felsen zu pressen. Für Cedric war es immer ein Grundsatz nichts zu zahlen, wenn es sich irgendwie umgingen ließ.«
»Er sitzt also auf seinem Geld?«, hakte Bradley nach.
»Ganz so ist es nicht«, erwiderte Lucille. »Cedric hat eine seltsame Eigenart. Wenn wir eine Runde ›Whist‹ spielen und er einen Penny verliert, vergisst er weiterzuspielen, wenn er nicht dazu aufgefordert wird. Er spielt auch exzellent Golf, gehört zu den richtig guten Spielern und hat es eigentlich nicht nötig zu schummeln, um zu gewinnen … Aber angeblich schafft er es nie, seine Punktzahl...