Riehm / Dörr | Digitalisierung und Zivilverfahren | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 906 Seiten

Reihe: De Gruyter Handbuch

Riehm / Dörr Digitalisierung und Zivilverfahren

E-Book, Deutsch, 906 Seiten

Reihe: De Gruyter Handbuch

ISBN: 978-3-11-075579-4
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Digitalisierung hat Zivilverfahren fundamental verändert. Das Handbuch behandelt alle im Zivilverfahren relevanten Themen der Digitalisierung und soll Richter/Richterinnen und Anwälte/Anwältinnen in die Lage versetzen, die digitalen Möglichkeiten der zivilrechtlichen Verfahrensführung zu kennen und richtig zu nutzen sowie die rechtswissenschaftliche und technische Entwicklung auf dem Gebiet der Digitalisierung aufzeigen.
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Teil I Einführung
§ 1 Einführung
Thomas Riehm Sina Dörr A. Digitalisierung des Zivilverfahrens als Überlebensfrage des Rechtsstaats
1Die Digitalisierung des Zivilverfahrens ist längst nicht mehr nur ein politisches oder praktisches Desiderat – sie ist zu einer Überlebensfrage für den Rechtsstaat geworden. Seit 2017 erreicht eine immer weiter steigende Flut von Klagen die Zivilgerichte; zugleich nimmt der Umfang und die Komplexität der Zivilprozesse stetig zu, wie sich an den steigenden Verfahrensdauern ablesen lässt. Diesem stark wachsenden Arbeitsanfall steht ein gravierender Personalmangel der Justiz im richterlichen und noch mehr im nichtrichterlichen Bereich gegenüber, der durch die anstehende Pensionierungswelle der „Babyboomer“-Generation001 noch weiter verschärft wird. Die Lösung für diesen Konflikt kann nicht (nur) in einem weiteren Personalaufbau in der Justiz liegen, denn das erforderliche qualifizierte Personal existiert schlicht nicht. Zudem stellt sich die Frage, ob die Strategie, immer mehr Personal in ein veraltetes System zu pumpen, wirklich nachhaltig und sinnvoll sein kann. 2Ein Baustein für die Problemlösung ist eine Neugestaltung von Arbeitsweisen und prozessualen Abläufen. Dazu gehört insbesondere eine Digitalisierung des Zivilverfahrens. Wo immer „analoge“ Abläufe digitalisiert werden, kann menschliche Arbeitskraft bei repetitiven und wenig anspruchsvollen Tätigkeiten eingespart und für komplexere Aufgaben eingesetzt werden. Digitale Kommunikation ist schneller und präziser als analoge, digitale Datenspeicherung ist flexibler und leichter kopierbar als analoge, und Maschinen erledigen Routineangelegenheiten schneller und weniger fehleranfällig als Menschen. Diese Effekte können sich zu einer erheblichen Entlastung der richterlichen und nichtrichterlichen Beschäftigten der Justiz aufsummieren – wenn die Potenziale der Digitalisierung auch tatsächlich genutzt werden. 3Nicht zuletzt kann eine Digitalisierung der Arbeitsabläufe die Justiz auch als Arbeitgeber wieder attraktiver machen – oder anders gewendet: Die gegenwärtigen Personalsorgen der Justiz dürften nicht nur an der verbesserungsbedürftigen002 Bezahlung der Richterinnen und Richter sowie der nichtrichterlichen Beschäftigten liegen, sondern auch an deren Arbeitsbedingungen. Diese unterscheiden sich erheblich von denjenigen in der Anwaltschaft, aber auch in der freien Wirtschaft, und erst recht von der Lebenswirklichkeit der „digital natives“. Wer es von Kindesbeinen an gewohnt ist, seinen Alltag mit Smartphone und Tablet im Internet zu organisieren, bringt für papiergebundene Kommunikation, „Wet ink“-Unterschriftenerfordernisse und Telefaxe keinerlei Verständnis mehr auf – und meidet daher Arbeitsumgebungen, in denen antiquierte Abläufe eine dominante Rolle spielen. 4Auch die Ampel-Koalition hat sich das Thema in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen. Dort heißt es: „Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden. Kleinforderungen sollen in bürgerfreundlichen digitalen Verfahren einfacher gerichtlich durchgesetzt werden können.“003 5Das ist auch nötig. Kürzlich hat eine Studie des Bucerius Center on the Legal Profession, des Legal Tech Verbands Deutschland und der Boston Consulting Group ermittelt, dass die deutsche Justiz in Digitalisierungsfragen der Weltspitze um ca. 15 Jahre hinterherhinkt. 15 Jahre, das sind in der Digitalisierung Welten: Vor 15 Jahren wurde das erste Smartphone, das iPhone, erfunden. Die Entwicklung, die seither nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die menschlichen Verhaltensweisen und Bedürfnisse genommen haben, war damals noch nicht im Ansatz absehbar. Ein solcher Rückstand ist in Zeiten exponenzieller technischer Entwicklung nicht aufzuholen. Allenfalls kann man hoffen, den Rückstand konstant zu halten; dafür müsste allerdings die deutsche Justiz ab jetzt mit demjenigen Digitalisierungstempo mithalten, das die Vorreiterländer – Singapur, Kanada, Vereinigtes Königreich, Österreich – in den letzten 15 Jahren gegangen sind und auch weiter gehen werden. 6Digitalisierung ist kein Prozess, der irgendwann „abgeschlossen“ ist. Sie bedeutet vielmehr stetige Fortentwicklung und Optimierung der digitalen Bearbeitung von Aufgaben. Auch in den Vorreiter-Ländern ist dieser Prozess noch in einer frühen Phase. Je digitaler das Justizsystem ausgestaltet ist, desto mehr Daten entstehen, die miteinander verknüpft und zur Verbesserung des Gesamtsystems eingesetzt werden können – entscheidungsunterstützende KI-Systeme können aus digitalisierten Gerichtsakten lernen, die Definition einheitlicher digitaler Standards und APIs ermöglicht effizienteren Datenaustauch und die Vernetzung vorhandener Softwaresysteme; vorhandene Plattformen für die Interaktion der Justiz mit den Nutzenden „lernen“ die menschlichen Antworten und können sie sukzessive technisch abbilden – die Möglichkeiten zur digitalen Weiterentwicklung sind unbeschränkt. Der Anfang muss aber gemacht werden, und der liegt in der vollständigen Digitalisierung des Justizsystems und der Zivilverfahren – das ist die Basis für jede weitere Entwicklung. Wie beim Smartphone wird es auch bei der Digitalisierung der Justiz so sein, dass weder die technische Entwicklung noch die zukünftige Veränderung der Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer schon heute absehbar sind. 7Dies ist kein Bruch mit der Tradition, sondern umgekehrt deren konsequente Fortschreibung: Die CPO und die gesamte Gesetzgebung im Bereich der Rechtspflege waren bei ihrer Entstehung stets auf der Höhe ihrer Zeit. Das Bestreben, ein Prozessrecht und eine Justiz zu schaffen, die den zeitgemäßen Formen des realen Lebens gerecht wird, und die dem an die Handlungsweisen der Gegenwart gewöhnten Publikum so weit wie möglich entgegenkommt, ist eine Konstante in den bis heute maßgeblichen Gesetzgebungsakten. An dieses Bestreben gilt es auch heute anzuknüpfen. B. Digitalisierung zur Erleichterung des Zugangs zum Recht
8Neben dieser eher justizinternen Perspektive kommt der Digitalisierung des gesamten Rechts- und Justizsystems – einschließlich der Anwaltschaft und sonstiger juristischer Dienstleister – vor allem eine herausragende Bedeutung für den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Recht zu.004 Dass in dieser Hinsicht schon heute ein Defizit besteht, belegen die bei den Landgerichten bis 2017 und bei den Amtsgerichten bis heute kontinuierlich und gravierend gesunkenen Eingangszahlen005 bei den Zivilgerichten.006 Zwar ist die zu den Ursachen für diesen Rückgang vom BMJ in Auftrag gegebene Studie noch nicht abgeschlossen; es steht aber dringend zu vermuten, dass diese Zahlen Ausdruck einer abnehmenden Bedeutung der Ziviljustiz für die Beilegung von Konflikten sind. Da die Ziviljustiz aber der einzige vorgesehene staatliche Weg der Streitbeilegung auf der Grundlage des materiellen Zivilrechts ist,007 bewirkt der Bedeutungsverlust der Ziviljustiz zugleich einen Bedeutungsverlust des BGB selbst als einzigem staatlich gesetztem, demokratisch legitimiertem zivilrechtlichem Regelwerk. Wer will, dass Konflikte unter Privaten vorrangig nach den Regeln des BGB und den darin getroffenen Wertentscheidungen gelöst werden, muss die Streitbeilegung vor Zivilgerichten attraktiver machen, damit die Streitparteien als Methode der Konfliktlösung wieder den Zivilprozess wählen. 9In diesem Zusammenhang ist immer wieder vom „rationalen Desinteresse“ der Bürgerinnen und Bürger die Rede, die ihre Rechte nicht vor den Zivilgerichten durchsetzen wollten, sofern der Streitwert nicht erheblich ist. Der häufig zitierte Roland Rechtsreport gibt einen Durchschnittswert von ca. 3.700 Euro an, unterhalb dessen Privatpersonen durchschnittlich keine Zivilklage erheben würden.008 Der Ausdruck „rationales Desinteresse“ wirkt indessen zynisch, denn das „Desinteresse“ ist nur deswegen „rational“, weil der Aufwand für einen Zivilprozess so hoch ist, dass er sich für geringwertige Forderungen nicht lohnt. Das „rationale Desinteresse“ ist mithin ein Gradmesser für die Zugangshürden des Rechts- und Justizsystems in seiner konkreten Ausgestaltung – verstanden als Gesamtheit von Rechtsordnung, Justiz und Anwaltschaft. Mit mangelndem Engagement oder Interesse von Verbraucherinnen oder Verbrauchern an einem Zugang zur Ziviljustiz hat es dagegen nichts zu tun. 10Gemessen an der gegenwärtig geringen Inanspruchnahme des Rechts- und Justizsystems durch Private muss daher konstatiert werden, dass die Hürden, die dieses System Rechtssuchenden in den Weg stellt, diese in großer...


Thomas Riehm, Universität Passau; Sina Dörr, Oberlandesgericht Köln/Landgericht Bonn.

Thomas Riehm
, University of Passau;
Sina Dörr
, German Federal Ministry of Justice and Consumer Protection, Germany.


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