E-Book, Deutsch, 306 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
Riemer Post Mortem
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95996-114-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 306 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
ISBN: 978-3-95996-114-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Simone ist von den Toten zurückgekehrt. Zusammen mit Arthur und Ernesto, die ihr sonderbares Schicksal teilen, sucht sie in einer fremden Zukunft nach Antworten. Bill leidet an Schizophrenie und glaubt, unsterblich zu sein. Zoe ist unheilbar krank und weiß, dass sie bald sterben wird. Max hofft auf die Biographen, die nach seinem Tod von ihm erzählen werden. Immer wieder berühren sich die Geschichten dieser so verschiedenen Menschen. Während die Toten an ihrem neuen Leben verzweifeln, wünschen sich die Lebenden nur eines: Unsterblichkeit. Ein kühner Roman, ein surreal-philosophisches Abenteuer, das uns mit den großen Fragen nach Vergänglichkeit und Ewigkeit, Wahrheit und Illusion konfrontiert.
Martin Riemer, geboren 1981, ist Neurowissenschaftler und forscht an der Wahrnehmung von Zeit und Raum. Er ist Mitglied der Society for Neuroscience und veröffentlicht Artikel in internationalen Fachzeitschriften. Er lebt in Magdeburg und Groningen. In seinem Debütroman Post Mortem verknüpft er Themen aus seiner Forschung mit philosophischen Ansätzen. Auf unterschiedlichste Weise werden seine Romanfiguren mit den Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis konfrontiert. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören Jorge Luis Borges und Stanislaw Lem.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Simone, Max, Zoe
Mitten in der Dunkelheit, im Nichts, war plötzlich ein Gedanke: Etwas ist mir passiert! Simone öffnete langsam die Augen. Es war wie das Erwachen aus einem langen Schlummer, wie sie es während einer Zugfahrt nach Lausanne erlebt hatte, gedankenlos aus dem Fenster starrend. Ein Erwachen, das sich schwer einordnen ließ. Man ist sich nicht sicher, wie lange und wie fest, ja nicht einmal, ob man überhaupt geschlafen hat oder ob man nur tief in Gedanken versunken war. Manche Gedanken reißen einen aus der Zeit heraus wie der Schlaf. Es können einige Sekunden oder mehrere Stunden vergangen sein, seit man sich das letzte Mal seiner selbst bewusst war. Und die Zeit dazwischen verschwindet. Es ist erstaunlich, wie lange ein Gedanke einen in seinen Bann ziehen kann, und noch erstaunlicher ist es, wie wenig komplex er dazu sein muss. Ein einfacher Gedanke kann eine Ewigkeit ausfüllen, ohne vom Bewusstsein dabei erwischt zu werden. Von allen Seiten her glänzte gespiegeltes Sonnenlicht in den Schaufenstern von Geschäften und Hotels. Helligkeit und Lärm. Und überall waren Menschen. Sie kamen ihr auf dem Bürgersteig entgegen, überholten sie mit hastigen Schritten. Manche lungerten einfach nur herum, lasen Zeitungen oder spähten in Abfalleimer. Livrierte Bedienstete standen bedrohlich vor den gläsernen Hotelfronten und warteten auf die Ankunft von Gästen. Obwohl die meisten Häuser, insbesondere die Wolkenkratzer, noch nicht gestanden hatten, als sie das letzte Mal hier gewesen war, wusste Simone sofort, wo sie sich befand. Aus Tausenden von Orten hätte sie diesen problemlos wiedererkannt. Die 44th Street, dachte sie benommen. Sie lief die 44th Street in New York entlang! Aber sie verstand nicht, wie sie hierhergekommen war. Ihr Geist war gelähmt von dem plötzlichen Erwachen. Nur ihre Beine bewegten sich, als hätten sie nie etwas anderes getan. Simone lief und konnte sich nicht daran erinnern, losgelaufen zu sein. Es gab keinen Anfang in ihren Gedanken. Zu ihrer Rechten erspähte sie eine goldene Drehtür, die in das ausgeleuchtete Foyer eines Hotels führte. Bei dem Gedanken, der aufmerksame Blick des davor postierten Bediensteten könnte sich plötzlich mit ihrem kreuzen, sah sie rasch auf den gepflasterten Bürgersteig. Sie ahnte, dass sie nicht hier sein durfte. Wie bei ihrer ersten Ankunft in New York fühlte sie sich, als wäre sie unvermutet in eine Traumwelt geraten. Aber diesmal war New York nicht der lange ersehnte Traum, diesmal gehörte es zu der Welt, der sie sich auf so seltsame Weise entrückt fühlte. Simone war nun eine andere. Diesmal sagte sie: „Das bin ich!“, glaubte aber nicht so recht daran. Sie spürte ihr Anderssein so deutlich, dass sie sich all die Menschen in Erinnerung rief, die sie gewesen war, all die Mädchen und Frauen in unterschiedlichstem Alter, die einmal „Ich“ gesagt hatten und die doch nicht mehr „Ich“ waren. Sie erinnerte sich an all diese Personen in so vielen Einzelheiten. Sie wusste, was sie gedacht und gefühlt hatten, jede ihrer Handlungen konnte sie nachvollziehen. Sie erinnerte sich an das kleine Mädchen, das einmal gesagt hatte: „Ich bin Simone!“ Aber sie konnte sich ebenso gut in die Gedanken- und Gefühlswelten anderer Menschen hineinversetzen, die ihr in ihrem Leben begegnet waren. Da waren so viele Personen, die gesagt hatten: „Ich bin Zaza!“ und „Ich bin Marco!“ und „Ich bin Olga!“, und in der Erinnerung verstand sie deren Sehnsüchte und Launen genauso wie ihre eigenen. Sie erinnerte sich an eine Freundin aus Kindertagen, die sich nach einer Aufführung des Schultheaters dem Publikum präsentierte und ihrer applaudierenden Mutter schelmisch die Zunge herausstreckte. Noch immer konnte Simone ihre Ausgelassenheit und Erleichterung nachempfinden, wenn sie an diesen Augenblick zurückdachte. Und sie erinnerte sich auch an sich selbst, wie sie sich von unerträglichem Zorn gequält auf den Zementboden einer Hotelterrasse warf und schrie, weil ein von ihrer Mutter beiläufig dahergesagtes „Nein“ ihre kindlichen Freuden zu vernichten drohte. Auch diese Empörung über die mütterliche Willkür konnte sie ohne Weiteres wieder lebendig werden lassen. Wo war der Unterschied zwischen der Erinnerung an ihre Freundin und der Erinnerung an das Kind, das sie selbst gewesen war? Die Unterschiede erschienen vage und synthetisch, die Gemeinsamkeiten dagegen klar und greifbar und mündeten in dieses ewige, dieses unvergängliche Ich. Simone atmete tief die beißend kalte Luft ein und lief ziellos weiter. Sie sollte nicht hier sein. Alles war zu grell, zu bunt, als hätte sie nach langer Zeit zum ersten Mal die Augen geöffnet. Sie lief die 7th Avenue entlang und fürchtete halb, an einer der vielbefahrenen Kreuzungen zum Stehenbleiben gezwungen zu werden. Sie wollte nur einen Fuß vor den anderen setzen, eine Maschine sein, die nicht in der Lage war, an ihr unerhörtes Dasein zu denken. Es war, als würde der Stillstand in ihren Gedanken durch die Bewegung ihres Körpers gerechtfertigt. Später – sie hatte bereits Soho erreicht – bemerkte Simone, dass die Sonne hinter der dichten Wolkendecke schwächer wurde. Es musste später Nachmittag sein, wahrscheinlich Ende Herbst. Sie ergriff die Aufschläge ihres Mantels und zog ihn enger um ihren Körper. Die Geste erinnerte sie an das Gefühl der Kälte und sie begann zu zittern. Es fiel ihr jetzt etwas leichter, sich ihrer Umwelt zuzuwenden. Der Weg durch Manhattan hatte ihr eine unmittelbare Vergangenheit gegeben. Sie war nicht mehr plötzlich da. Nein, sie war von der 44th Street hierher gelaufen. Ihre Gedanken hatten nun eine Berechtigung, waren notwendige Folge in einer Reihe vorangegangener Gedanken. Es war beruhigend, dieses Gefühl, eine Ursache zu haben. Die Folge von etwas anderem zu sein, das vergangen war und deshalb unabänderlich und fest dastand. Im Gehen beobachtete sie die Menschen, die mit ihr auf den Straßen New Yorks unterwegs waren. Sie bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich fortbewegten. Wie sie mal schneller und mal langsamer liefen, wie sie einander auswichen, fast ohne einander dabei wahrzunehmen. Sie schienen zu wissen, wer und wo sie waren, und sie schienen sich auch nicht über Simones Anwesenheit zu wundern. Sie hatten eine gewisse Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft. Nie hatte Simone sich sehnlicher gewünscht, ihren Platz unter diesen Menschen wiederzufinden, in dieser Welt, auf die sie so oft mit Verachtung herniedergeblickt hatte. „Ich bin Simone“, murmelte sie ungläubig, und: „Ich bin da“, und zog ihren Kopf dabei noch tiefer in den Kragen ihres Mantels, als schämte sie sich für die Anmaßung in dieser einfachen Feststellung. Im Dämmerlicht – die Straßenlaternen waren noch aus – tauchte vor ihr die Fassade einer Bar auf. Dano‘s stand in geschwungener, altmodischer Schrift auf einem lackierten Holzbrett über der Eingangstür. Ohne zu zögern, ging Simone darauf zu. Sie brauchte dringend etwas zu trinken. Sie stemmte sich gegen die massive Tür und wunderte sich über die Kraft, die sie aufbringen musste, um sie zu öffnen. An die Stelle des kühlen Herbstwindes traten heimelige Wärme und der Geruch nach Kerzen und Alkohol. Die Geräusche, die nun zu ihr drangen, waren so anders als die Klangkulisse der Straße, dass sie meinte, in eine andere Welt hinübergewechselt zu sein. Das Innere der Bar war eine sonderbare Mischung aus Restaurant und Kneipe. Sofort fühlte sie sich wohler. Sie steuerte den Tresen an, der sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckte. Dahinter unterhielten sich ein Mann und eine Frau. Bis auf zwei weitere Menschen, die an einem Tisch weiter hinten saßen, war die Bar leer. Simone ließ sich auf einem Barhocker nieder und legte die Arme auf den Tresen. Noch immer wagte sie nicht, durch unnötige Geräusche die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen, als beruhte ihre Anwesenheit hier auf einem peinlichen Fehler, für den sie unweigerlich zur Rechenschaft gezogen würde, sobald man sie bemerkte. Sie blickte auf die Wand hinter dem Tresen, die vollständig mit Spiegeln ausgekleidet war, und durch eine Glaswand aus halbleeren Flaschen sah sie eine Fremde. Und dennoch erkannte sie sich selbst in diesem vergangenen Gesicht, das an ihr haftete und das sie vage mit „Ich“ assoziierte. Das dunkle Haar war hochgesteckt, so wie sie es früher einmal getragen hatte. Es waren noch keine grauen Strähnen zu sehen, aber um Augen und Lippen zeichneten sich die ersten Fältchen ab. Die Haut spannte sich am Hals, und es schien, als könnte sie bei einer unachtsamen Bewegung reißen wie Papier. Sie schätzte sich auf Mitte vierzig. Simone starrte ihr Spiegelbild an. Es war abscheulich, diesen Körper zu sehen – ihren Körper. Draußen hatte sie diese Masse von Muskeln und Sehnen, die sie durch die Stadt trug, nur am Rande ihres Bewusstseins wahrgenommen. Erst die plötzliche Konfrontation mit ihrem Spiegelbild machte ihr unmissverständlich klar, dass sie einen Körper hatte. Und das Bewusstsein dieser physischen Existenz war grauenhaft. Sie gehörte nicht hierher. Sie blickte auf ihre Hände herab und betrachtete sie ratlos, spreizte ihre Finger und erschrak beinahe, als sie sich tatsächlich bewegten. Was geschieht mit mir? Sie stellte sich vor, wie sie einen Barhocker packte und ihn mit aller Kraft über den Tresen schleuderte und die Glaswand zwischen sich und der Frau im Spiegel zertrümmerte. „Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme neben ihr. Simone blickte auf und...