E-Book, Deutsch, 198 Seiten
Rinke Die Braut
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-522-65377-0
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Radikal verliebt
E-Book, Deutsch, 198 Seiten
ISBN: 978-3-522-65377-0
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ich liebte dieses Gefühl. Die U-Bahn fuhr mit einem Ruck an und es wirbelte in meinem Magen. Ich hängte mich in die graue Halteschlaufe über meinem Kopf und wartete auf die Beschleunigung, die das Kribbeln verstärken würde. So musste sich eine Astronautin fühlen, die in einer Raumkapsel ins Weltall geschossen wurde.
»Du könntest dich setzen«, riss mich Kaylas Stimme aus meinen Gedanken. Sie zeigte auf den freien Platz neben sich.
»Das weiß ich.«
»Keine Ahnung, warum du so komisch bist.«
»Wenn du draufkommst, gib mir Bescheid und lass mich an deinem Wissen teilhaben, damit ich nicht dumm sterbe.« Das war jetzt schnippischer, als ich geplant hatte, aber Kayla lächelte. Manchmal bewunderte ich meine Freundin für ihre Gelassenheit.
Ein Mann in einem abgetragenen Parka mit Bundeswehr-Aufnäher rempelte mich an und drängte mich so stark in Richtung Tür, dass ich für einen Augenblick die Sicherheit der Halteschlaufe aufgeben musste. Vermutlich wieder einer dieser armen Obdachlosen, von denen Mama immer behauptete, sie wären nur zu faul zum Arbeiten und hätten nichts Besseres zu tun, als dem Staat auf der Tasche zu liegen.
»Haste vielleicht mal ein bisschen Kleingeld, bin gerade ziemlich klamm.«
Noch bevor ich den Kopf schütteln konnte, sprang Kayla von ihrem Sitz hoch und drückte dem Mann eine Münze in die Hand. Mein Blick huschte hektisch über den Bahnhof der Paulsternstraße, der an diesem Tag nur spärlich besucht war. An einem Werbeplakat blieb er hängen. »Life’s good«, stand da.
Der abgerissene Kerl schaute in dieselbe Richtung und schnaubte. »Wer das glaubt, der hat …« Dann kämpfte er sich an mir vorbei und presste sich durch die Tür, die bereits begonnen hatte, sich zu schließen.
»Und es gibt keinen, der denen hilft«, sagte Kayla.
»Was meinst du?«, fragte ich verwirrt.
»Na, den Penner da. Hast du gerochen, wie der gestunken hat? Wer weiß, wie lange der schon keine Dusche mehr benutzen konnte. Manchmal kotzt mich diese Stadt so dermaßen an. Kalt, abweisend und die Leute alle hart wie Stahl. Eine verdammte Scheiße ist das.«
Ich nickte nur. Das war Kayla, dafür konnte man sie wirklich nur gernhaben. Aber so ganz unrecht hatte der Typ nicht. Ich stemmte mich gegen den anfahrenden Zug und sah aus dem Augenwinkel das Plakat an mir vorbeifliegen. Life’s good. Ja, genau. Vielleicht war das Leben toll, aber ich hatte davon noch nicht viel bemerkt. Gut möglich, dass es anderen da anders ging. Aber ich …
Nun ließ ich mich entgegen meiner Gewohnheit doch auf den Kunstledersitz neben Kayla fallen, die das mit einem Grinsen quittierte und in ihrer Einkaufstüte wühlte. Wie ich geahnt hatte, zog sie mit einem verhaltenen Kreischen ihr neuestes Beutestück hervor, einen kurzen roten Rock.
»Ich bin so stolz darauf. Ist er nicht toll? Ich weiß schon jetzt, dass das für die nächsten Wochen mein Lieblingsteil sein wird.«
Ich deutete ein Nicken an, obwohl mich dieses ganze Gerede über Mode überhaupt nicht interessierte. In der Schule wehrte ich mich seit Monaten erfolgreich dagegen – was mir keinen Applaus eingebracht, sondern mich einige Freundschaften gekostet hatte. Im Grunde war nur Kayla geblieben, nachdem ich durch die Sache mit meinem Vater in ein ziemlich tiefes Loch gerutscht war. Aber das war egal, denn eine Kayla war mehr wert als Hunderte von Vanessas, Sophies, Claras und wie sie alle sonst noch hießen. Und wenn Kayla sich einmal was gönnte und Geld wirklich nur für sich allein ausgab, dann war ich die Letzte, die ihr die Freude verderben wollte.
»Ja, ja, ich weiß, was du gleich wieder sagen wirst, und du hast ja recht. Mein Vater hätte es am liebsten, wenn ich mit langen Röcken und Kopftuch rumlaufen würde.« Sie verdrehte entnervt die Augen.
Ich nickte erneut. Mein Kopf tat schon ganz weh davon. »Wann willst du ihn anziehen? Ich schätze, er wird dich in dem Ding nicht aus dem Haus lassen. Oder?«
»Ihm wird gar nicht auffallen, wie kurz der Rock ist.«
Ich lächelte ihr zu. Das war wohl eher Wunschdenken, denn es war nicht zu übersehen, dass das Teil nicht viel mehr war als ein breiter Gürtel.
»Du kennst doch meinen schwarzen Rock, in dem meine Beine so toll zur Geltung kommen, der mit den Schlitzen.«
Ich wusste genau, was sie meinte. Kayla hatte in einen normalen schwarzen Rock seitlich Reißverschlüsse genäht. Wenn sie Jungs den Kopf verdrehen wollte, öffnete sie die Zipper und zeigte ihre langen Beine. Ansonsten blieben sie geschlossen und das Teil bestand ohne Probleme die strenge Sittenkontrolle ihrer Familie.
»Da bin ich gespannt, was du mit dem neuen anstellen wirst«, sagte ich und lachte. »Der Designer wird wahrscheinlich neidisch werden. Deine Sachen sehen immer klasse aus.«
Kayla grinste. »Finde ich auch. Wer weiß, vielleicht werde ich mal so bekannt wie Philipp Plein. Seinen Stil finde ich cool. Wenn wir mal wieder in der Nähe vom Ku’damm sind, gehen wir bei seinem Laden vorbei. Vielleicht ist er ja da.« Sie guckte so verträumt, dass ich sie lieber nicht darum bat, mit dieser ganzen Modesache aufzuhören.
»Das können wir machen.« Ich meinte das tatsächlich ehrlich, konnte aber einen gelangweilten Blick nicht unterdrücken. Zum Glück merkte Kayla davon nichts, denn sie hatte den Kopf schon wieder in der Tüte vergraben.
Wenn ich etwas wirklich hasste, dann waren es diese elenden oberflächlichen Gespräche über Mode, Schminktrends und Frisuren. Wen interessierte es, ob der neueste Nagellack nun eine oder zwei Wochen hielt und wie schnell er trocknete? Mich jedenfalls nicht. So etwas tolerierte ich echt nur bei Kayla und nur deshalb opferte ich mich und begleitete sie auf ihren seltenen Shoppingtouren. Weil es mit ihr lustig war, weil wir Spaß hatten. Weil es selten vorkam und weil es eben Kayla war, die ich begleitete. Die Kayla, auf die ich mich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Und heute war es ausnahmsweise sogar sie gewesen, die darauf gedrängt hatte, den Heimweg anzutreten. Sie musste vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Ihr Vater kannte dabei keinen Spaß.
Als die U-Bahn erneut anfuhr, fiel mir ein, dass mir ein Abend mit meiner Mutter bevorstand, und ich spürte einen Stich in der Magengegend. Kurz überlegte ich, ob ich Kayla nicht zum Abendessen einladen sollte. Dann wäre es daheim nur halb so schlimm.
In diesem Moment stupste sie mich mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kopf in Richtung Tür. Sieben junge Männer standen dort, die selbst für Berliner Verhältnisse auffällig waren, wo man sich hier doch eigentlich über nichts wunderte. Weder über Leute, die am ganzen Körper tätowiert waren, noch solche, die in knappsten Hotpants oder voll verschleiert herumliefen. Diese Typen jedoch waren alle mit dunklen, bodenlangen Mänteln bekleidet, trugen Vollbärte und kleine weiße Häkelkäppis auf dem Kopf. Von ihnen ging eine tiefe Ruhe aus, eine Besonnenheit, und es schien, als warteten sie auf irgendetwas. Auch ich hatte das Gefühl, als würde gleich etwas passieren.
Gespannt setzte ich mich aufrecht hin, drückte den Rücken durch und beobachtete die Gruppe. Kayla neben mir wippte nervös mit den Beinen und auch andere Fahrgäste sahen sich nach den Männern um. Dann nickte einer von ihnen mit dem Kopf, stimmte einen Ton an und die anderen Bärtigen fielen mit ein.
Das Lied war rhythmisch und gleichzeitig melodiös. Die Klänge erfüllten das gesamte Abteil, hingen in der Luft, und es war, als würden sie mich umwerben. Die Melodie schmiegte sich sanft an mich, streichelte mich, war tröstlich und kämpferisch zugleich.
Die Männer hatten warme Stimmen. Ich konnte den Text zwar nicht verstehen, trotzdem klangen einige Worte vertraut. Es ging eindeutig um »Allah« und »Mohammed«. Aber auch ein paar andere Wörter kamen mir von meinen Besuchen bei Kayla zu Hause, wo arabisch gesprochen wurde, bekannt vor. Ich wollte Kayla danach fragen, doch sie kam mir zuvor.
»Das ist ein Kampf-Nasheed«, flüsterte sie.
»Kampf was?«
»Schhh«, machte Kayla und wedelte mit der Hand. »Ich erkläre es dir später.«
Wir hörten weiter zu, während andere Fahrgäste unruhig wurden, flüsterten und sich Blicke zuwarfen. Dann verstummte der Gesang, es entstand eine kurze Pause, und ich fühlte mich für einen kurzen Moment, als hätte ich etwas sehr Wertvolles verloren.
Einer aus dem Chor griff in seinen Mantel und ging auf den Mann zu, der uns gegenübersaß. Er zog mehrere grüne Blätter aus seiner Tasche und drückte dem Fahrgast eines davon in die Hand. Der guckte zwar etwas irritiert, nahm es aber mit einem Schulterzucken entgegen. Der bärtige Mann schritt die Reihen entlang und gab jedem einen Zettel. Es dauerte nicht lange und er stand vor mir. Als er seinen Blick auf mich senkte, ruckte die Bahn kurz, und der Stapel rutschte aus seiner Hand. Ich bückte mich schnell und hob die heruntergefallenen Papiere auf. Unsere Blicke kreuzten sich erneut, er hatte warme grünbraune Augen. Irgendwie war er süß. Fast hoffte ich, dass er etwas zu mir sagen würde. Er nickte mir jedoch nur mit einem Lächeln zu, bei dem sich kleine Grübchen in seinen Wangen bildeten, und ging weiter zum nächsten Fahrgast.
Der Zettel schien irgendwelcher Werbekrempel zu sein, vielleicht auch ein Flugblatt. Ich konnte nicht gleich erkennen, ob es um ein Produkt, eine Veranstaltung oder eine politische Gruppierung ging. So abgefahren, wie die Typen ausgesehen und geklungen hatten, war alles möglich. Die Schriftzeichen schienen arabisch zu sein, viele kleine Punkte und Kringel, als...