E-Book, Deutsch, Band 170, 64 Seiten
Reihe: Dr. Karsten Fabian
Ritter Dr. Karsten Fabian - Folge 170
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-3706-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In jener Nacht der Tränen
E-Book, Deutsch, Band 170, 64 Seiten
Reihe: Dr. Karsten Fabian
ISBN: 978-3-7325-3706-8
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jeder kennt das berühmte Märchen von Aschenputtel, in dem das hübsche, arme Mädchen so viel leidet, weint und hofft. Und genauso traurig beginnt auch das Schicksal der jungen Almuth aus Altenhagen. Jahrelang hat niemand im Dorf gemerkt, welche Qualen das bildhübsche Mädchen erleiden musste. Dr. Karsten Fabian und seine Frau Florentine sind zutiefst schockiert, als sie dahinterkommen. Dass so etwas in dem idyllischen Heidedorf, wo jeder jeden zu kennen glaubt, möglich ist!
Doch jetzt werden beide für Almuth kämpfen. Solche Gemeinheiten dürfen nicht ungestraft bleiben, und Almuths Tränen müssen endlich versiegen ...
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»Wo dein Vater nur wieder so lange bleibt«, knurrte Klara Wischer, die dem Witwer Michael Schlichting den Haushalt mehr schlecht als recht führte. »Rücksicht nimmt er nicht. Ich muss jetzt nach Hause. Mach keine Dummheiten, Almuth.«
»Ja, Tante Klara«, antwortete das zehnjährige Mädchen gehorsam. »Mein Papi muss viel arbeiten, um Geld zu verdienen.«
»So, sagt er das?«, fragte die magere, verdrossen wirkende Frau. »Na ja, wenn du das glaubst …«
»Mein Papi lügt nicht«, empörte sich Almuth und funkelte die Haushälterin wütend an.
»Schön, dass du so denkst.«
Almuth presste die Lippen fest aufeinander. Aus Erfahrung wusste sie, wie zwecklos es war, mit Klara Wischer diskutieren zu wollen. Argumenten war die Haushälterin nicht zugänglich. Sie hatte immer recht, auch dann, wenn sie offenkundig im Unrecht war.
»Du kannst ihn ja mal fragen, was er immer so abends macht, wenn du schläfst.«
»Dann schläft er auch«, behauptete Almuth aufgebracht. »Weil er morgens so früh aufstehen muss.«
»Dazu will ich nichts sagen, aber alle hier im Dorf wissen … ist egal, ich geh jetzt, Überstunden bezahlt dein Vater nicht. Ich kriege sowieso viel zu wenig für alles, was ich hier tun muss. Ich bin ganz schön dumm, dass ich mich ausnutzen lasse.«
»Du brauchst ja nicht zu kommen, wenn du nicht willst«, schleuderte Almuth ihr an den Kopf.
Sie war für ihre zehn Jahre recht groß, aber sehr dünn und eckig. Das Schönste an ihr war ihr dichtes, blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel.
»Werd nicht frech. Was würdet ihr hier ohne mich anfangen? Im Dreck umkommen«, gab Klara Wischer selbst die Antwort. »Aber nun genug geredet. Bis morgen dann.«
Sie nickte der Kleinen flüchtig zu und holte ihre Tasche aus der Küche. Sie war mit ihrem Schicksal unzufrieden, gehörte allerdings zu den unglücklichen Menschen, die immer unzufrieden waren, ganz egal, was passierte.
»Uff«, seufzte Almuth, als sich die Tür hinter der Haushälterin geschlossen hatte.
Sie ging in die Küche und überzeugte sich, dass das Abendessen im Mikrowellenherd bereitstand. Sie brauchte ihn nur einzuschalten, wenn ihr Vater kam.
Nach dem Tod ihrer Mutter war er für sie der Mittelpunkt ihres Lebens, ein Mann, der sie liebte und immer Geduld mit ihr hatte.
Almuth wanderte unruhig im Haus herum, während sie auf die Rückkehr ihres Vaters wartete. Tante Klaras Worte beschäftigten sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Eine halbe Stunde später hörte sie sein Auto und stürmte aus dem Haus, um ihren Vater draußen zu begrüßen. Sie schlang die Arme um seinen Hals, als er sie hochhob, und gab ihm ein paar zärtliche Küsse.
»Ich habe mich leider verspätet. Hast du schon gegessen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich mache das Essen rasch warm.«
»Ist Frau Wischer schon fort?«
»Ja. Weil du Überstunden nicht bezahlst, hat sie gesagt. Brauchen wir die eigentlich? Sauber machen kann ich doch auch und … und Kochen lernen wir gerade in der Schule.«
Michael Schlichting lachte, während er seiner Tochter zärtlich über den Kopf strich.
»Das wäre ja noch schöner, würde ich dich die ganze Hausarbeit machen lassen. Du magst Tante Klara nicht besonders, stimmt’s?«
»Überhaupt nicht«, versicherte Almuth in einem Ton, der verriet, wie ernst sie es meinte. »Die meckert bloß immerzu! Der kann man gar nichts recht machen. Und was die über dich sagt …«
»Was denn?«, horchte der Vater auf.
Er war groß und schlank, sein Haar an den Schläfen leicht ergraut, obwohl er erst Anfang vierzig war. Das Leben hatte ihm übel mitgespielt, als es ihm die geliebte Frau viel zu früh genommen hatte. Krebs, niemand hatte ihr helfen können.
Als er an Hanna dachte, glitt ein Schatten über sein Gesicht. Für ihn lebte sie in der Erinnerung weiter, und er war überzeugt, dass das bis zu seinem Lebensende so bleiben würde. Eine Frau wie Hanna gab es kein zweites Mal.
»Sie hat behauptet, du würdest abends weggehen, wenn ich schlafe. Ist das nicht dumm von ihr? Wo du doch morgens immer so früh aufstehst?«
»Die gute Klara redet zu viel«, stellte Michael grimmig fest. »Sie soll sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Das finde ich auch. Ich schalte dann die Mikrowelle ein. Den Tisch habe ich schon gedeckt.«
»Du bist ein tüchtiges Mädchen.«
Die Falten auf der Stirn des Mannes blieben, als er seiner Tochter nachsah, die in die Küche eilte. So wie jetzt konnte es im Haus nicht weitergehen, das war ihm klar. Allerdings … wie würde sie es aufnehmen, wenn er ihr von Vera erzählte?
Er betrieb in der Kreisstadt eine Wäscherei, und damit verdiente er sehr gut seinen Lebensunterhalt. Allerdings platzte sein Betrieb allmählich aus allen Nähten. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sich in die Arbeit gestürzt, um Vergessen zu finden. Jetzt hatte er Aussicht auf ein paar Großaufträge. Ein Bekannter hatte ihm gesagt, dass das Kreiskrankenhaus mit der jetzigen Wäscherei nicht zufrieden war und einen anderen Betrieb suchte, der zuverlässiger und besser arbeitete.
Hier in Altenhagen gab es große Grundstücke, und man würde ihm bestimmt keine Schwierigkeiten machen, wenn er hier einen Betrieb aufbaute. Der schaffte zusätzliche Arbeitsplätze und brachte Steuern in die Gemeindekasse. Allerdings war es ein gewisses finanzielles Risiko.
Aber nicht das war es, was Michael Schlichting im Augenblick hauptsächlich beschäftigte. Er hängte sein Jackett umständlich auf den Bügel. Er war ein ordentlicher Mensch, das gehörte schon zu seinem Beruf. Beim Nachdenken zog er die Unterlippe zwischen die Zähne. Dann ging er ins Badezimmer und wusch sich die Hände.
Dabei blickte er in den Spiegel und betrachtete sich kritisch. Bin ich ein Mann, in den eine Frau sich noch verlieben kann?, fragte er sich. Eigentlich nicht, fand er. Ich sehe verbraucht aus, glaubte er. Und dass Vera … nun, sie wusste, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert war. Und dass sie behauptete, ihn gernzuhaben … Na ja, Worte sind billig.
Michael glaubte seiner tüchtigsten Mitarbeiterin nicht. Vera brauchte einfach jemanden, der für sie und ihre Tochter sorgte. Sie war seit Kurzem geschieden und hatte eine elfjährige Tochter.
Michael hatte bloß das dumpfe Gefühl, Hanna zu verletzen, wenn er ihr eine Nachfolgerin gab. Aber Tote spüren keinen Schmerz mehr, und Hanna war viel zu vernünftig, um mich nicht verstehen zu können, beruhigte Michael sich. Wir brauchen eine Frau fürs Haus, vor allem jemanden, der für Almuth da ist. Sie kommt bald in ein Alter, in dem sie eine Mutter nötiger braucht als alles andere.
Und Vera war bestimmt eine gute Mutter. Ihre Tochter Ellen hing an ihr, holte sie häufig vom Betrieb ab. Man sah, wie gut die beiden sich verstanden. Und Almuth hätte dann eine Schwester, mit der sie über alles sprechen konnte, was sie bewegte und beschäftigte.
Tausendmal gedacht, tausendmal für richtig befunden, und doch blieb in Michael ein Unbehagen zurück, wenn er daran dachte, Vera zu heiraten. Er selbst brauchte keine Frau, obwohl er ein Mann in den besten Jahren war.
Ich darf Vera nie zeigen, dass ich sie im Grunde genommen nicht begehre, dachte er. Aber – kann ich das durchhalten? Oder soll ich ihr von Anfang an reinen Wein einschenken, ihr eine Art Geschäft vorschlagen?
Er hielt sie für sehr vernünftig, eine Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand und sich nichts vormachen ließ.
»Das Essen ist fertig«, hörte er Almuths Stimme. »Wo bleibst du so lange, Papi?«
»Ich bin schon unterwegs.« Mit einem Seufzer griff Michael nach dem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. »Riecht gut«, behauptete er, als er in die Küche kam.
Hanna hatte früher immer im Esszimmer gedeckt, obwohl er es nicht wollte. Sie sollte nicht unnötig arbeiten, aber ihr hatte es Freude gemacht, ihn zu verwöhnen. Ach, Hanna …
Er wusste nicht, dass seine Tochter ihn forschend betrachtete.
»Hast du Ärger gehabt, Papi?«, fragte die Kleine da in seine Gedanken.
»Nein, wieso?«
»Ich dachte nur …«
»Wie war es heute in der Schule?«
»Wie immer. Wir haben einen Aufsatz auf.«
»Vielleicht verlege ich den Betrieb nach Altenhagen. Dann kann ich mittags immer zum Essen nach Hause kommen.«
»Das wäre prima! Ich besuche dich dann auch, wenn ich Zeit habe. Und ich möchte dir auch helfen. Wäsche sortieren und überhaupt alles.«
»Dafür habe ich Frauen. Spiel lieber.«
»Ich will dir aber helfen, damit du mehr Zeit hast. Tante Klara findet auch, dass du zu viel arbeitest. Das würde dich ganz bestimmt krank machen. Du darfst nicht krank werden, Papi, versprich mir das! Als Mami noch gelebt hat, hast du oft gelacht, und jetzt …«
»Ich habe nicht viel zu lachen«, stellte der Vater fest. »Wollen wir am Sonntag irgendetwas unternehmen?«
»An den Brillensee gehen und baden?«
»Warum nicht? Ja …« Michael hielt das Besteck in den Händen, ohne es zu benutzen. »Ich … Wir kriegen am Sonntag Besuch. Eine Mitarbeiterin. Eine Frau Weidemann. Sie ist meine Sekretärin und kümmert sich um alles. Sie hat eine Tochter ungefähr in deinem Alter. Bestimmt haben die beiden auch Lust, mit uns an den Brillensee zu gehen.«
...



