Rohner | 42 Grad | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 228 Seiten

Rohner 42 Grad

Erzählungen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85787-967-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 228 Seiten

ISBN: 978-3-85787-967-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es sind Geschichten vom Ausbrechen aus dem gewohnten Leben und von Ereignissen, die alles ins Wanken bringen: Viola Rohner beherrscht es, auf wenigen Seiten ganze Schicksale zu kondensieren. Wunderbar gelassen, bisweilen lakonisch und stets durchdrungen von einer sanften Melancholie, erzählt sie von Frauen rund um den Globus, die an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Zwei Geschwister begeben sich auf die Spuren ihrer verstorbenen Mutter. Eine Krankenschwester übernimmt im australischen Outback eine schwere Aufgabe. Eine junge Frau flieht vor ihrem Stiefvater und versucht im hohen Norden Schottlands zum ersten Mal, einem Mann zu vertrauen. Eine verlobte Schweizerin lässt sich auf einer Bahnfahrt in Russland auf ein erotisches Abenteuer ein ...

Viola Rohner, geboren 1962, studierte Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften und Psychologie in Zu?rich und Berlin. Absolventin des Dramenprozessors am Theater Winkelwiese. Literaturveranstalterin und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift 'entwu?rfe'. Längere Aufenthalte in Dänemark und den USA. Sie arbeitet als Gymnasiallehrerin und ist Leiterin des Bildungsgangs Literarisches Schreiben am BiZE Zu?rich. Viola Rohner verfasst Prosa (bisher 'Unkraut' und 'Alles Gute und auf Wiedersehen'), Theaterstücke und Kinderbücher und erhielt mehrere Werkbeiträge und Auszeichnungen, etwa den Lilly Ronchetti-Preis des AdS. Sie lebt in Zu?rich und Innsbruck.
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Happy Halloween


»Happy Halloween, happy Halloween«, hörte Melissa eine laute Stimme rufen, als sie mit ihren Kindern vor der Haustür von Sam und Lucy stand. Durch den Vorhang ihrer Perückenhaare, die ein Luftzug durcheinanderwirbelte, sah sie Sam nur undeutlich, aber sie hatte das ungute Gefühl, dass er gar nicht verkleidet war. Vielleicht hätte man an die Party doch nur etwas ›Verkleidetes‹ mitbringen sollen, statt sich selbst zu verkleiden. Eine weisse Gespenstertorte oder grüne Hähnchenkeulen in roter Blutsauce oder eine Spinne aus Würsten. Sachen, die sie in einem Kochbuch gesehen hatte.

Sam nahm Melissa das Backblech mit den Napfkuchen ab, das sie mit beiden Händen umklammert hielt, und fragte langsam: »Where is Bernd?« Melissa nickte. Sie wusste, dass das Nicken falsch war, aber das englische Wort für ›Büro‹ fiel ihr einfach nicht ein, nur das Wort ›room‹ erschien in ihrem Kopf. Aber ›room‹ passte nicht. Auch Wörter wie ›today‹, ›good evening‹ und ›weekly‹ waren unbrauchbar. Hilfesuchend sah sie sich nach ihren Kindern um. Aber Simon, Aline und Lina waren bereits im Haus verschwunden.

Melissa starrte Sam an, der ihr freundlich zulächelte. »He comes later«, brach es plötzlich aus ihr heraus, und der Satz erschien ihr wie ein kleines Wunder. Er passte und war vollkommen makellos.

Sam nickte und ging mit den Napfkuchen ins Haus. Er hatte verstanden.

Melissa rückte ihre Perücke zurecht und strich sich die langen Kunsthaare aus dem Gesicht.

Als Sam zurückkam, sah sie, dass er tatsächlich nur Jeans und ein T-Shirt trug. So war er immer gekleidet. Er hatte nicht einmal seine Haare mit Gel frisiert, wie am Morgen, wenn sie ihn von ihrem Küchenfenster aus zur Arbeit fahren sah. Er führte Melissa ins Wohnzimmer, das voller Menschen war, und erleichtert stellte sie fest, dass doch die meisten Gäste verkleidet waren: Hexen, Zombies und ein Dracula waren versammelt, und in einer Ecke stand ein Henker, der ein schwarzes Tuch über seinem Kopf trug. Auch Susan, die sich angeregt mit einer orange- und einer grünhaarigen Hexe unterhielt, war verkleidet. In ihren hochgebundenen Haaren steckte eine amerikanische Flagge, und ihr Gesicht war mit roter, blauer und weisser Farbe bemalt. Rund um ihren fülligen Körper hatte sie eine karierte Tischdecke geschlungen, behängt mit Topflappen, Schwingbesen, Kochlöffeln und anderen Küchenutensilien. Susan sah aus wie die Juxversion einer Miss America oder der Freiheitsstatue.

Sam und Lucy hatten die Stühle und die beiden Sofas an die Wände gerückt und in der Mitte ihres Wohnzimmers einen langen Tisch aufgestellt, auf dem alle möglichen Esswaren aufgetürmt waren: bunte Sandwiches, Torten, Cupcakes, Salate, Suppen. Und zuoberst thronte ein riesiger Kürbis mit einem aufgerissenen, gezackten Mund.

»Isn’t it great?« Lucy deutete auf den Kürbis und packte Melissas Hand. »Sam is getting better, every year! He is an artist!« Lucy trug ein Batikhemd, das ihr fast bis zu den Knien hing, und Melissa überlegte, ob das eine Verkleidung war oder nicht. Normalerweise trug Lucy gebügelte Bluejeans und T-Shirts mit Kragen und Knöpfen, genau wie Sam.

Lucy gab Melissa einen Teller, nickte ihr zu und sagte lächelnd: »Help yourself.« Melissa verstand. Etwas unschlüssig betrachtete sie ein Regiment von grünen Schinkenröllchen und eine Schale, beladen mit halbierten Eiern, auf denen ein Schwung blauer Mayonnaise ragte. Sie entschied sich nach langem Überlegen für ein grünes Schinkenröllchen und ein wenig später für etwas, das wie Karottensalat aussah.

Bei ihrem Rundgang um den Tisch entdeckte sie Aline und Lina in ihren Feenkostümen, die sich Marshmallows auf kleine rosarote Teller häuften, und Simon, der, als Indianer verkleidet, mit einem Kriegsbeil hinter zwei kleinen Piraten herrannte, in denen sie unschwer die beiden übergewichtigen Jungen von Susan erkennen konnte. Melissa wusste, dass sie Glück hatte mit ihren Kindern. Sie liessen sich wie Stecklinge verpflanzen. Egal wo sie waren, sie streckten ihre Wurzeln aus, reckten ihre Köpfe der Sonne entgegen und wuchsen weiter. Sie hatten keine Anpassungsschwierigkeiten wie Kinder anderer Expats, die sich mit den vielen Umzügen und dem Lernen neuer Sprachen oft schwertaten. Man konnte mit ihnen problemlos von einem Land ins andere ziehen. Sie schienen sich selbst zu genügen. Immer wieder gruppierten sie sich auf rätselhafte Weise neu um einen unsichtbaren Kern in ihrer Mitte.

»Oh, Cinderella!«, hörte Melissa eine laute Stimme hinter sich und drehte sich um. Es war Susan. »Come on, Cinderella, sweetie.« Mit ihrer Patschhand klopfte sie neben sich auf das Sofa, und Melissa setzte sich schnell. Sie war froh, dass Susan hier war. Sie war die einzige Person, die sie neben Sam und Lucy kannte. Sie wohnte mit ihrer Familie am hinteren Ende des Mohan Circle in einem der schmalen Townhouses und arbeitete in der Verwaltung der Siedlung. So hatten sie sich auch kennengelernt. Susan war beauftragt worden, ihnen das frei stehende zweistöckige Haus am Rand des Parks zu zeigen, das sie seit vier Monaten bewohnten. Sie hatte ihnen die Klimaanlage erklärt, die Heizung und das Müllentsorgungssystem, und am Schluss der Führung hatte sie sie auf einen Rundgang durchs Quartier mitgenommen, auf dem sie ihnen auch den Spielplatz am Ende des Parks nahe der I-75 gezeigt hatte. Seither trafen sich Susan und Melissa fast jeden Abend auf diesem Spielplatz, und es hatte sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Während Susan ununterbrochen redete, beaufsichtigten sie die Kinder, die zwischen bunt angemalten Spielgeräten hin und her jagten, sich versteckten und plötzlich wieder von irgendwoher hervorschossen. Dass Melissa kaum etwas sagte, schien Susan nicht zu stören.

Sam kam mit einem Lightbeer in der Hand auf Melissa zu. »Your European food is just incredibly delicious«, sagte er und leckte seine Fingerspitzen. »Very, very delicious.« Melissa nahm lächelnd das Bier entgegen und sagte: »Thank you.« Sie war froh, dass sie wenigstens diesen Satz immer beherrschte.

Sie beobachtete, wie die anderen Gäste das Bier tranken. Es wurde mit einem schnellen Griff geöffnet und direkt aus der Dose getrunken. Das Bier schmeckte süsslich und bitter zugleich und kribbelte auf ihrer Zunge. Als Melissa den Arm wieder senkte, bemerkte sie die Russspuren auf ihrem Handrücken, die Simon mit einem Stück Grillkohle gemalt hatte. Ihre Aschenputtelverkleidung war viel zu übertrieben. Ausser Susan, ihr und den Kindern trugen alle Gäste nur vorgefertigte Kostüme aus dem Supermarkt. Sie bestanden im Wesentlichen aus Plastiknasen und Brillen, die man leicht abnehmen und in der Handtasche verstauen konnte, wenn man sie nicht mehr brauchte. Melissa konnte ihre Verkleidung nicht einfach abstreifen.

»Go ahead«, rief Susan, stupste Melissa an und hielt ihr einen ausgehöhlten Kürbis, der mit Fleischbällchen gefüllt war, unter die Nase. Dann griff sie selbst hinein und stopfte gleich drei auf einmal in ihren Mund. Laut schmatzend redete sie auf Melissa ein und gestikulierte dabei unentwegt mit ihren fettigen Fingern. Melissa verstand einzig das Wort ›baby‹.

Bestimmt sprach Susan wieder vom Baby aus der Trailerhome-Siedlung, das von seinen Eltern zu Tode gequält worden war. Seit Tagen war es Thema Nummer eins der lokalen Medien und der ganzen Nachbarschaft.

Plötzlich verstummte Susan und begann vor Aufregung mit ihren Füssen zu zappeln, die wie bei einem Kind den Boden nicht richtig berührten. Sie kniff Melissa in den Arm, und als diese ihrem Blick folgte, sah sie, dass der Henker eben im Begriff war, sein schwarzes Tuch langsam zu heben. Er rollte den Stoff vorsichtig hoch, hielt inne, und einen Moment später erschien sein verschwitzter Kopf, an dem helmartig blonde Haare klebten. Susan klatschte vor Begeisterung in die Hände, und der Henker schaute etwas verlegen in die Runde, die ihn staunend begrüsste. Auch Melissa erkannte ihn jetzt. Er war der Nachbar, der ganz am Anfang des Mohan Circle in einem der kleinen beigen Reihenhäuschen wohnte. Jeden Abend, wenn sie mit den Kindern vom Spielplatz an ihm vorbei nach Hause ging, stand er auf seiner Terrasse und briet sich ein Steak auf einem riesigen schwarzen Gasgrill. Und als wäre die Enthüllung des Henkers ein Zeichen gewesen, nahmen nun auch die Hexen ihre warzigen Plastikgesichter ab, und die beiden Zombies und der Dracula legten ihre Plastikgebisse auf den gläsernen Salontisch in ihrer Mitte, auf dem sie jetzt einträchtig einen Kreis bildeten. In der grünhaarigen Hexe erkannte Melissa die Frau, die ihre Kinder jeden Morgen mit einer Kaffeetasse in der Hand zum Schulbusstopp brachte. Die orangehaarige Hexe, den Dracula und die Zombies hatte sie noch nie gesehen. Vielleicht wohnten sie gar nicht in der Nachbarschaft.

Melissa beobachtete, wie die Katze von Sam und Lucy unter dem Glastisch sass und zu den drei Gebissen hochsah. Das Licht der elektrischen Kerzen, die auf dem Tisch standen, leuchtete in ihren gelben Augen, und ihr...


Viola Rohner, geboren 1962, studierte Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften und Psychologie in Zu¨rich und Berlin. Absolventin des Dramenprozessors am Theater Winkelwiese. Literaturveranstalterin und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift "entwu¨rfe". Längere Aufenthalte in Dänemark und den USA. Sie arbeitet als Gymnasiallehrerin und ist Leiterin des Bildungsgangs Literarisches Schreiben am BiZE Zu¨rich. Viola Rohner verfasst Prosa (bisher "Unkraut" und "Alles Gute und auf Wiedersehen"), Theaterstu¨cke und Kinderbu¨cher und erhielt mehrere Werkbeiträge und Auszeichnungen, etwa den Lilly Ronchetti-Preis des AdS. Sie lebt in Zu¨rich und Innsbruck. www.violarohner.ch.



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