Rolland / Buohler | Über den Gräben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 175 Seiten

Reihe: textura

Rolland / Buohler Über den Gräben

Aus den Tagebüchern 1914-1919

E-Book, Deutsch, 175 Seiten

Reihe: textura

ISBN: 978-3-406-68348-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Als der Sommer 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende findet und lauter nationalistischer Jubel die leiseren pazifistischen Stimmen überdröhnt, zeigt sich Romain Rolland, dessen 150. Geburtstag 2016 begangen wird, von euphorischem Überschwang wie hasserfüllter Hysterie unbeeindruckt. Vom Kriegsausbruch in der Schweiz überrascht, bleibt er bewusst dort, arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz und steht – wie seine legendäre Schrift – 'Über dem Getümmel'. Alsbald scheiden sich an ihm die Geister: Als Symbolfigur wird er entweder aufs schärfste bekämpft oder respektvoll verehrt.
Ein Echoraum dieser Stimmen ist Rollands Tagebuch der Kriegsjahre, das auf einzigartige, vielschichtige und vielstimmige Weise die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Erstmals erscheint nun eine Auswahl aus den weit über 2000 Seiten umfassenden Aufzeichnungen des Nobelpreisträgers von 1915.
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1914
31. Juli 1914 Vevey, Hotel Mooser 3 Uhr 30. Ein am Bahnhof von Vevey ausgehängtes Telegramm des Bundesrats gibt «die allgemeine Mobilmachung in Russland und die Ausrufung des Kriegszustandes in Deutschland» bekannt. Es ist einer der schönsten Tage des Jahres, ein wunderbarer Abend. Die Berge schweben in lichtem und bläulichem leichtem Nebel; das Mondlicht ergießt über den See einen Strom roten Goldes, der von der savoyischen Küste zwischen Bouveret und Saint-Gingolph ausgeht und bis nach Vevey reicht. Die Luft ist lieblich, der Duft der Glyzinien schwebt in der Nacht; und die Sterne funkeln in so reinem Glanz! In diesem göttlichen Frieden und in dieser zarten Schönheit beginnen die Völker Europas das große Morden. Samstag, 1. August Meine Mutter trifft abends um 10 Uhr 30 mit dem letzten Zug ein, der aus Frankreich kommt. Die Mobilmachung Frankreichs ist nachmittags um 4 Uhr 30 verfügt worden, und die Kriegserklärung Deutschlands an Russland ist abends um 7 Uhr überreicht worden. Heute ist Schweizer Nationalfeiertag. Trauriger Feiertag. Die Schweiz ist vielleicht noch mehr von Sinnen als die unmittelbar beteiligten Nationen. Der Landsturm wird heute einberufen und die allgemeine Mobilmachung für Montag verfügt. […] Ein kleines Feuer funkelt auf dem Kamm der Alpen oberhalb von Bouveret; und von der Uferstraße in Vevey steigt die Schweizer Nationalhymne in die schöne Nacht. Der Abend ist noch wunderbarer als gestern. […] Wenn man wie wir zu jedem Rassenhass unfähig ist, wenn man das Volk, das man bekämpfen soll, ebenso achtet wie das Volk, das man verteidigt, wenn man den verbrecherischen und stumpfsinnigen Wahnsinn dieses Krieges sieht und wenn man in sich eine Welt des Denkens, der Schönheit und Güte fühlt, die sich entfalten will, ist es dann nicht das Entsetzlichste, gezwungen zu sein, diese Welt aus einem grässlichen Grunde zu morden? 3.–4. August Deutschland fällt in Luxemburg ein, richtet ein Ultimatum an Belgien. Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrophe der Geschichte seit Jahrhunderten, der Zusammenbruch unserer heiligsten Hoffnungen auf die Brüderlichkeit der Menschen. 5.–7. August Heldentum der Belgier, Einnahme von Lüttich nach erbittertem Widerstand. Belgien muss für Frankreich geheiligte Erde sein. […] Ich finde mich allein, ausgeschlossen aus dieser blutigen Kommunion. Allein versage ich mir meinen Anteil am Leibe des Menschensohnes. Wieder einmal fühle ich mich, wie in der Dreyfus-Affäre, abgesondert von den übrigen Menschen. Und ich suche zu verstehen, warum ich so bin und woher mir diese unheilvolle Gabe kommt, mich keiner der großen Bewegungen der Menschen anschließen zu können. Dennoch bin ich mehr als ein anderer fähig, sie zu fühlen und sie in meiner Kunst zum Ausdruck zu bringen. Das kommt daher, weil meine Seele zweifach ist. Ich habe eine Seele, die sich ständig in diese oder jene lebende Gestalt, außerhalb meiner eigenen, verwandelt. Aber diese Seele, nach der allein man mich kennt und nach der man mich beurteilt, ist nicht ich; sie ist mein Spiel, mit dem ich mich vergesse; so wie in der Liebe verliere ich in der Kunst freiwillig das Bewusstsein für das, was ich bin, um mir fremde Seelen zu eigen zu machen. Ich tue dies nicht aus frivolem Zeitvertreib, sondern aus dem instinktiven und tiefen Bedürfnis heraus, mich selber aus der Sicht zu verlieren, mich vorübergehend der Last meiner Persönlichkeit zu entledigen, um ein wenig Luft zu schöpfen und das Leben zu genießen … das Leben der anderen. 22. August Mein Leid ist eine Summe von Leiden, so dicht und gedrängt, dass es mir keinen Raum mehr lässt zum Atmen. Da ist das Zermalmen meines Frankreichs, sein endgültiger Untergang. Da ist das Schicksal meiner Freunde, die vielleicht tot sind oder verwundet. Da ist das Entsetzen über alle diese Leiden, die herzzerreißende Gemeinschaft mit all diesen Millionen Unglücklichen. Da ist der seelische Todeskampf, den mir der Anblick dieses Bankrotts der Zivilisation, dieser wahnwitzigen Menschheit verursacht, die ihre kostbarsten Schätze, ihre Kräfte, ihren Genius, ihre höchsten Tugenden, ihre Glut heldenhafter Hingebung dem mörderischen und stumpfsinnigen Götzen des Krieges opfert. Da ist die Leere, die mir das Herz abdrückt, die Leere, in der jedes göttliche Wort fehlt, jeder Strahl Christi, jeder moralische Führer, der über dem Getümmel den Gottesstaat zeigt. Und, um zum Ende zu kommen, die Nutzlosigkeit meines Lebens, die Vergeblichkeit meines Werks. Ich möchte einschlafen und nicht mehr die Augen öffnen. […] Der allgemeine Hass hier richtet sich gegen Österreich. Ich glaube, seine verschlagene Diplomatie und seine erbärmliche Politik haben nicht einen Anhänger in Europa. 29. August Die Spaltung zwischen der französischen Schweiz und der deutschen Schweiz verschärft sich. In der deutschen Schweiz mehren sich die Bekundungen von Deutschfreundlichkeit. […] Die Nachricht von der Zerstörung Löwens macht mich krank. Welcher Wahnsinn treibt diese Deutschen in ihren moralischen Ruin? Jeder Schritt, den sie tun, gräbt einen Abgrund von Hass. Wollen sie denn über Trümmer herrschen? Sie rechtfertigen von vornherein die schlimmsten Vergeltungsmaßnahmen; sie beschleunigen das Kommen der Kosaken und der Gelben. Dieses Verbrechen zwingt mich, aus meinem Schweigen herauszutreten. Ich schreibe an Gerhart Hauptmann (Samstag, den 29. August 1914). Da wenig Aussicht besteht, dass ihn dieser Brief erreicht, schicke ich je eine Abschrift an das Journal de Genève, an die Times und an La Voce in Florenz. Samstag, 12. September Die Marneschlacht (zwischen Meaux und Nancy), die seit fünf Tagen andauert und in die zwei Millionen Mann verwickelt sind, endet mit einem Sieg auf der ganzen Linie. Es ist, als habe man uns eine Last vom Herzen genommen. Beim Verlassen des Redaktionsbüros kann ich zum ersten Male seit Monaten wieder die Dinge und die Menschen sehen, den Markt auf dem Platz, den vom Föhn aufgewühlten See … […] Übrigens kann ich mich nur über den französischen Sieg freuen. Die deutsche Niederlage kommt mich hart an; ich kann nicht ohne Traurigkeit an alle diese Leiden denken. […] Man sagt übrigens, dass die Bayern unbeschreibliche Dinge getan haben. Seit drei Jahrhunderten hat sich in keinem Krieg des Abendlandes eine solche Grausamkeit gezeigt. Taten aus Wildheit und Sadismus, Verstümmelungen, das Vergnügen, nicht nur zu töten, sondern leiden zu machen. [Mitte September] Mehr noch als über die rohe Gewalt der Deutschen bin ich über ihre unerhörte Ungeschicklichkeit verblüfft. Sie sind selber ihre schlimmsten Feinde; sie tun alles, um sich verhasst zu machen, und hinterher wundern sie sich darüber; keinerlei Kenntnis von der Psyche anderer Völker. […] Amtliche deutsche Presseagenturen haben der Welt mit absichtlicher Übertreibung gemeldet, Löwen sei «nur noch ein Haufen Asche». Sie gedachten, auf diese Art die Welt in Schrecken zu versetzen! Sie haben sie in Empörung versetzt. [20. September] Die Kathedrale von Reims von Artillerie beschossen und niedergebrannt (20. September). Der Hass steigt wie eine Flut. 24. September Jean-Richard Bloch, der verwundet ist, schreibt mir aus dem Vorstadtlazarett von Montpellier (16. September): […] Als ich, um einen Befehl von meinem Hauptmann einzuholen (ich wusste nicht, dass er tot war), hinter der Hecke aufstand, wo wir, Tote und Lebendige, platt auf dem Bauch lagen, wurden mir im selben Augenblick der Tornister zerfetzt, die Schulterriemen durchschnitten, das Käppi durchlöchert, der Mantel zerfasert und der linke Arm durchschossen. In der Nacht haben wir uns aus dieser kritischen Lage zurückziehen können, indem wir unter den Kugeln eine halbe Stunde lang bis zu unseren Vorposten durch den Dreck krochen … 26. September Langer Besuch von Igor Strawinski. Plaudernd verbringen wir drei Stunden im Garten des Hotel Mooser. Strawinski ist ungefähr dreißig; er ist klein, sieht kränklich, hässlich aus, hat ein gelbes, mageres und abgespanntes Gesicht, eine schmale Stirn, hochstehendes und spärliches Haar, zusammengekniffene Augen hinter einem Zwicker, eine fleischige Nase, dicke Lippen, ein im Vergleich zur Stirn unverhältnismäßig langes Gesicht. Er ist sehr intelligent und in seinem Benehmen ungekünstelt; er spricht mühelos, obwohl er manchmal dabei nach den französischen Worten sucht; und alles, was er sagt, ist persönlich und überlegt (wahr oder falsch). Der erste Teil unserer Unterhaltung bezieht sich auf politische Fragen. Strawinski erklärt, Deutschland sei kein barbarischer Staat, sondern abgelebt und entartet. Er beansprucht für...


Romain Rolland (1866–1944) war ein Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, Biograf und Musikkritiker französischer Abstammung und europäischer Gesinnung. Berühmt wurde er mit seinem zehnbändigen, in den Jahren 1904 bis 1912 erschienenen Roman 'Jean-Christophe', der wie kein anderes Werk seiner Zeit konsequent die Idee einer deutsch-französischen Freundschaft verfolgt. 1916 wurde ihm – rückwirkend für 1915 – der Nobelpreis für Literatur verliehen, 'als Anerkennung für den hohen Idealismus seines dichterischen Werkes und für die Wärme und Wahrhaftigkeit, mit der er die Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit dargestellt hat'. Zu seinen weiteren Werken zählen u.a. Biografien von Michelangelo, Händel, Beethoven, Tolstoi, Essays über Gandhi und das pazifistische Drama 'Die Zeit wird kommen'.


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