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E-Book, Deutsch, 344 Seiten

Rosenthal Etablierte und Außenseiter zugleich

Selbst- und Fremdbilder in den palästinensischen Communities im Westjordanland und in Israel

E-Book, Deutsch, 344 Seiten

ISBN: 978-3-593-43258-8
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die palästinensische Bevölkerung vertritt nach außen hin häufig ein homogenes Bild der eigenen nationalen Identität. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieses Bild jedoch als trügerisch und in sich brüchig. Dieser Band nutzt Methoden und Konzepte der soziologischen Biografieforschung und der Figurationssoziologie, um den Nahostkonflikt jenseits der Polarität zwischen "Israelis" und "Palästinensern" zu analysieren. In einem Vergleich von fünf städtischen Regionen wird die Bedeutung von Zugehörigkeit, kollektiven Selbstbildern und unterschiedlicher Formen sozialer Differenzierung ergründet.
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Inhalt

Vorbemerkung 9
1. Einleitung? (Gabriele Rosenthal) 11

Stimmen aus dem Westjordanland

2. Wir-Bilder und kollektive Gedächtnisse im Westjordanland (Gabriele Rosenthal) 23
3. Zum Brüchig-Werden des homogenisierenden Wir-Diskurses: Christen in Bethlehem und Ramallah (Hendrik Hinrichsen, Johannes Becker, Gabriele Rosenthal) 43
4. Der homogenisierende Wir-Diskurs und die gesellschaftliche Positionierung der Flüchtlingslager (Arne Worm, Hendrik Hinrichsen, Ahmed Albaba) 63
5. Das Sprechen von Außenseitern: Gegendiskurse, Selbst- und Wir-Bilder stigmatisierter schwuler Männer im Westjordanland (Arne Worm, Hendrik Hinrichsen) 91
6. Stimmen von ehemaligen politischen Häftlingen und von ihren Familien im Westjordanland (Gabriele Rosenthal, Ahmed Albaba) 117

Stimmen aus Ostjerusalem

7. PalästinenserInnen in Ostjerusalem (Johannes Becker, Arne Worm) 149
8. Bekenntnisse zur Altstadt und widerstrebendes Erleben (Johannes Becker) 167

Stimmen aus Israel

9. PalästinenserInnen in Israel (Nicole Witte) 197
10. Palästinensische Stimmen aus Haifa (Nicole Witte) 211
11. Palästinensisch-Sein in Jaffa: Wir-Bilder und Zugehörigkeiten einer drusischen und einer beduinischen Israelin (Rixta Wundrak) 243

Collective Narratives

12. Encounters between Past and Present: Collective Narratives and Identity Strategies of Muslim and Christian Palestinians in Israel (Adi Mana, Shifra Sagy, Anan Srour, Serene Mjally-Knani) 273
13. Israeli and Palestinian Narratives: Challenges and Opportunities (Mohammed S. Dajani Daoudi, Zeina M. Barakat) 295

Glossar 313
Transkriptionszeichen 324
Literatur 325
Autorinnen und Autoren 341

Inhalt

Vorbemerkung 9

1. Einleitung? (Gabriele Rosenthal) 11

Stimmen aus dem Westjordanland

2. Wir-Bilder und kollektive Gedächtnisse im Westjordanland (Gabriele Rosenthal) 23

3. Zum Brüchig-Werden des homogenisierenden Wir-Diskurses: Christen in Bethlehem und Ramallah (Hendrik Hinrichsen, Johannes Becker, Gabriele Rosenthal) 43

4. Der homogenisierende Wir-Diskurs und die gesellschaftliche Positionierung der Flüchtlingslager (Arne Worm, Hendrik Hinrichsen, Ahmed Albaba) 63

5. Das Sprechen von Außenseitern: Gegendiskurse, Selbst- und Wir-Bilder stigmatisierter schwuler Männer im Westjordanland (Arne Worm, Hendrik Hinrichsen) 91

6. Stimmen von ehemaligen politischen Häftlingen und von ihren Familien im Westjordanland (Gabriele Rosenthal, Ahmed Albaba) 117

Stimmen aus Ostjerusalem

7. PalästinenserInnen in Ostjerusalem (Johannes Becker, Arne Worm) 149

8. Bekenntnisse zur Altstadt und widerstrebendes Erleben (Johannes Becker) 167

Stimmen aus Israel

9. PalästinenserInnen in Israel (Nicole Witte) 197

10. Palästinensische Stimmen aus Haifa (Nicole Witte) 211

11. Palästinensisch-Sein in Jaffa: Wir-Bilder und Zugehörigkeiten einer drusischen und einer beduinischen Israelin (Rixta Wundrak) 243

Collective Narratives

12. Encounters between Past and Present: Collective Narratives and Identity Strategies of Muslim and Christian Palestinians in Israel (Adi Mana, Shifra Sagy, Anan Srour, Serene Mjally-Knani) 273

13. Israeli and Palestinian Narratives: Challenges and Opportunities (Mohammed S. Dajani Daoudi, Zeina M. Barakat) 295

Glossar 313

Transkriptionszeichen 324

Literatur 325

Autorinnen und Autoren 341


Vorbemerkung

Der vorliegende Band beruht auf einer von deutschen, palästinensischen und jüdisch-israelischen SozialwissenschaftlerInnen zwischen 2010 und 2015 durchgeführten Forschung zu Palästinensern und Israelis in unterschiedlichen Figurationen von Etablierten und Außenseitern sowohl im Westjordanland als auch in Israel.
Wir möchten uns bei den vielen Menschen in Israel und Palästina bedanken, die zu einem Gespräch mit uns bereit waren und uns Einblicke in ihr Leben und in ihre je persönliche Geschichte gewährten. Ohne ihre Unterstützung wären unsere Forschung und dieses Buch nicht möglich gewesen. Aus Gründen des Datenschutzes können wir ihre Namen leider nicht nennen. Da eine Identifizierung der Personen vermieden werden soll, sind alle Namen der von uns interviewten Menschen, ebenso von deren Angehörigen und Freunden maskiert wie auch andere persönliche Daten stark verändert.
Ebenso möchten wir uns bei allen MitarbeiterInnen bedanken, die neben den AutorInnen dieses Bandes in unserem Projekt zeitweise mitarbeiteten, Interviews und erste Analysen durchführten. Dazu gehörten: Mariam Abdul Dayem (Tel Aviv), Eva Bahl (Göttingen), Amany Bawardy (Nazareth), Michal Beckenstein (Tel Aviv), Khansaa Diab (Jerusalem), Isabella Enzler (Göttingen), Filip Habib (Berlin), Yahya Hijazi (Jerusalem), Tal Litvak-Hirsch (Beer Sheva), Majd Qumsieh (Bethlehem), Amina Rayan (Berlin), Sveta Roberman (Jerusalem), Katharina Teutenberg (Göttingen) und Aida Saifi (Jerusalem).
Ganz ausdrücklich sei an dieser Stelle auch jenen palästinensischen MitarbeiterInnen aus dem Westjordanland für ihre Hilfeleistung und Mitarbeit gedankt, die aufgrund des Boykotts der Kooperation mit israelischen Universitäten, dem sich mittlerweile alle universitären Einrichtungen des Westjordanlands angeschlossen haben, und der während unseres Projekts zunehmenden Zurückweisung jeglicher Zusammenarbeit mit jüdisch-israelischen WissenschaftlerInnen und Institutionen hier nicht namentlich genannt werden möchten. Nach den Richtlinien zum Boykottaufruf werden Kooperationen mit israelischen Forschungseinrichtungen - jedoch nicht automatisch mit deren Mitgliedern als individuelle WissenschaftlerInnen oder Personen - mit der Begründung zurückgewiesen, dass akademische bi- und multilaterale Projekte auf einer falschen Symmetrieannahme "zwischen Unterdrückern und Unterdrückten", "Kolonisatoren und Kolonisierten" beruhen würden, daher "intellektuell unredlich und moralisch verwerflich" seien und zur "Normalisierung" beitrügen.
Auch wenn die einzelnen Kapitel dieses Bandes jeweils unter den Namen der hauptverantwortlichen Verfasserinnen und Verfasser erscheinen, möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass die in den Kapiteln 1 bis 11 präsentierten empirischen wie theoretischen Erkenntnisse, die in dem qualitativ arbeitenden und von der Herausgeberin geleiteten Team erarbeitet wurden, sowohl bei der Analyse und Deutung von empirischen Befunden als auch bei der Formulierung ›theoretischer‹ Synthesen auf Diskussionen im gesamten Team beruhen.
1. Einleitung?
Gabriele Rosenthal

Immer wieder erlebe ich in Israel, dass meinen MitarbeiterInnen und mir jemand - wie zum Beispiel ein jüdischer Taxifahrer, den man in Westjerusalem um eine Fahrt nach Ostjerusalem bittet - unaufgefordert seine Meinung über ›die Araber‹ im Lande kundtut. Diese Äußerungen sind nicht selten äußerst unfreundlich, vorurteilsbeladen und wenig differenzierend. Manchmal erfolgt jedoch die ergänzende Bemerkung: "Die Christen sind ja etwas anders."
Die Unterscheidung der Palästinenser in ›Araber‹ und ›Christen‹ verweist auf zwei sehr wesentliche Merkmale der in Israel nicht selten sowohl im Alltag als auch in den Medien oder in politischen und wissenschaftlichen Kontexten zu erlebenden Diskurse über ›die Palästinenser‹. Zum einen wird mit dem Verweis auf ›die Araber‹ eine sehr weitumfassende Generalisierung und auch Homogenisierung des Bildes über sie - wir sprechen in Anlehnung an Norbert Elias von Sie-Bildern - vorgenommen. Zum anderen findet dann jedoch wiederum eine Differenzierung zwischen ›Arabern‹ und ›Christen‹ statt, die damit die christlichen Palästinenser aus der Gruppierung der Palästinenser ausschließt.
Mit anderen Worten ist das Fremdbild über die Palästinenser in den herrschenden Diskursen in Israel homogenisierend, stark verallgemeinernd und spaltend zugleich. Hierbei gilt zu bedenken, dass es generell zu den typischen Machtquellen der Etablierten gehört, dass sie in der Lage sind, sozial wirksam zu definieren, wie die einzelnen Gruppierungen eingeteilt werden und damit auch, wer zu einer ›Minderheit‹ gehört und wer nicht bzw. wie überhaupt ›Minderheiten‹ definiert sind. Dass ihre eigenen Interessen - im Sinne eines ›divide et impera‹ - dabei nicht zu kurz kommen, versteht sich fast von selbst. Während die circa 20 Prozent der ›arabischen Israelis‹, wie sie in der offiziellen Amtssprache Israels ohne Bezug auf ihre Selbstdefinition kategorisiert werden, im medialen, alltagsweltlichen, politischen und auch wissenschaftlichen Diskurs als ›Minderheit‹ bezeichnet werden (vgl. Kook 2002: 66ff.), gehören dagegen viel kleinere Gruppierungen von jüdischen Israelis - aus sehr unterschiedlichen Regionen dieser Welt - entsprechend dieser Definition zur ›Mehrheit‹ der Juden des Landes.
Entscheidend ist auch, dass Juden mit arabischer Abstammung nicht zur Gruppierung arabischer Israelis gezählt werden. Der Diskurs darüber beginnt sich jedoch seit etlichen Jahren immer stärker zu öffnen und manche jüdische Israelis, deren Familien aus arabischen Ländern stammen, positionieren sich inzwischen in den Medien sowie im wissenschaftlichen Diskurs als arabische Juden (vgl. Shenhav 2006; Shohat 1999). Die nicht-jüdischen ›arabischen‹ Israelis werden in administrativen Kontexten und auch in den hegemonialen öffentlichen Diskursen wiederum unterteilt in unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppierungen. Zwar ist seit 2005 in den von der israelischen Regierung ausgestellten Personalausweisen israelischer Staatsangehöriger kein direkter Hinweis auf die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit mehr eingetragen, doch die Spaltungspolitik gegenüber Christen und Muslimen hat sich in den letzten Jahren weiter verstärkt. So wurde im Februar 2014 im israelischen Parlament, der Knesset, ein Gesetz verabschiedet, das zum ersten Mal christliche Araber als eine spezifische Minderheit definiert. Des Weiteren und damit in Verbindung stehend werden innerhalb Israels verstärkt Debatten über eine Verpflichtung christlich-israelischer Palästinenser zum israelischen Militärdienst geführt (vgl. McGahern 2011; Newman 2014).
Eine weitere Segregation bedeutet der Status der Palästinenser in Ostjerusalem, die zwar von den israelischen Behörden eine Jerusalemer ID (Identity Card) erhalten, nach der gängigen Rechtsauffassung israelischer Gerichte jedoch als ›staatenlos‹ gelten (vgl. Kap. 7). Ebenso werden religiöse und ethnische Differenzierungen in der Politik israelischer Regierungen geschickt zu einer weiteren Segmentierung der palästinensischen Gesellschaft genutzt (vgl. Lybarger 2007a; Shehadeh 2007).
Dieses keineswegs neue Instrument einer ›diskursiven‹ Trennung von Mehrheits- und Minderheitsgruppierungen und einer daraus folgenden zunehmenden Spaltung und Zersplitterung der jeweiligen Minderheiten ist im israelisch/palästinensischen Kontext auch deshalb wirksam, weil ein gemeinsames Wir-Bild als Palästinenser - ähnlich wie bei sehr vielen anderen nationalen Wir-Gruppen - ein relativ junges und sich noch sehr im Wandel befindliches Phänomen ist, das sich erst um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert herum zu formieren begann (vgl. Khalidi 1997; Kimmerling/Migdal 2003; Krämer 2002: 151ff.).
Aufgrund der politischen Situation bzw. des andauernden politisch motivierten und politisch instrumentalisierten Diskurses über die Fraglichkeit einer palästinensischen Nation, der politisch motivierten Homogenisierung zu einer Gruppe ›der Araber‹, die ja ›theoretisch‹ auch in Jordanien oder irgendeinem anderen arabischen Land leben könnten, ist es für die Palästinenser wichtig, sich selbst als eine Wir-Gruppe sowohl in Bezug auf die Abgrenzbarkeit ihrer Gruppe von Anderen als auch in Bezug auf deren Einheitlichkeit zu verstehen und darzustellen. Insbesondere in den von uns geführten Gesprächen im Westjordanland - in schwächerer und anderer Ausformulierung hingegen in Israel (vgl. Kap. 4) - wird von den PalästinenserInnen ein sehr homogenisierendes und auch harmonisierendes kollektives Selbst- und Fremdbild gezeichnet (vgl. Kap. 2) und versucht, die Risse in diesem Bild, in dem es keine ›Differenzen‹ zwischen den verschiedenen Gruppierungen von Palästinensern geben soll, argumentativ zu überdecken. Während wir feststellen konnten, dass PalästinenserInnen im Westjordanland den Versuch unternehmen, auch sich selbst gegenüber, bzw. im Innenverhältnis der Gruppierung dieses Wir-Bild einer konfliktfreien Einheit und der Abschwächung bis hin zur Leugnung von spannungsgeladenen Konfliktlinien zwischen verschiedenen Gruppierungen aufrechtzuerhalten, deutet sich in unseren Interviews in Israel an, dass oft auch die palästinensischen Israelis (inklusive der Drusen und Beduinen) dieses Bild insbesondere gegenüber den jüdischen Israelis oder auch den VertreterInnen der sogenannten westlichen Welt präsentieren (vgl. Kap. 4). Sie vertreten zwar ein homogenisierendes Bild über die PalästinenserInnen im Westjordanland, benennen jedoch weit stärker die Differenzen in der Gruppierung der israelischen PalästinenserInnen (vgl. Kap. 9).
Unsere zwischen 2010 und 2014 in Israel und im Westjordanland durchgeführte Forschung konzentrierte sich darauf, die in verschiedenen geographischen Kontexten geltenden Regeln der Diskurse über die Wir-Gruppe der PalästinenserInnen und der entsprechenden Wir- und Selbstpräsentationen zu rekonstruieren. Dabei gingen wir auch der Frage nach, wer diese Regeln verletzt und weshalb. Relativ schnell wurde uns dabei deutlich, dass insbesondere Menschen, die sich in ihrer Lebenswelt in einer mehrfachen Außenseiterposition befinden, das fast durchgängig vertretene Wir-Bild ›Wir Palästinenser haben keine internen Konflikte, wir haben nur Konflikte mit den jüdischen Israelis‹ nicht bedienen und über Konflikte zwischen verschiedenen Gruppierungen berichten (vgl. insbesondere Kap. 8; 10; 11). Diese Interviews halfen uns dabei, die Brüche in diesem harmonisierenden Wir-Bild zu rekonstruieren. Wir interessierten uns dabei für die Konfliktlinien zwischen verschiedenen Gruppierungen in der palästinensischen Gesellschaft, für ihre Kollektivgeschichte und vor allem auch die je individuelle Geschichte von Angehörigen verschiedener Gruppierungen.
Im Westjordanland (vgl. Kap. 2) untersuchten wir (palästinensische ForscherInnen aus Israel und aus dem Westjordanland sowie deutsche ForscherInnen) die Lebensgeschichten von PalästinenserInnen sowie die alltäglichen Interaktionen zwischen Christen und Muslimen wie auch zwischen anderen soziologisch unterscheidbaren Gruppierungen der Bevölkerung - zum Beispiel zwischen den Flüchtlingen von 1948 und den ›Alteingesessenen‹, zwischen Menschen aus den Städten und den aus den Dörfern Hinzugezogenen oder zwischen PalästinenserInnen aus Israel und aus dem Westjordanland. Wir konzentrierten uns dabei auf die Städte Bethlehem und Ramallah einschließlich der in der Nähe liegenden ?Flüchtlingslager. Auch in der Altstadt von Jerusalem (vgl. Becker 2013; Kap. 8) sowie in Haifa (vgl. Witte 2014; Kap. 10) und Jaffa (vgl. Wundrak 2012; Kap. 11) forschten wir (auch mit jüdisch-israelischen KollegInnen) zu unterschiedlichen Gruppierungen von jüdischen Israelis und Palästinensern. Dabei lag der Akzent auf den Perspektiven und Erfahrungen von PalästinenserInnen als Mitglieder verschiedener Gruppierungen und lokaler Gruppenkonstellationen (palästinensische und jüdische Israelis, muslimisch-palästinensische und christlich-palästinensische Israelis im jeweiligen lokalen Kontext einer muslimischen oder christlichen oder jüdischen Mehrheit). ?
Unser Forschungsprojekt zielte somit auf die Untersuchung der sozialen Beziehungen und Interaktionsdynamiken zwischen Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppierungen, die in einem Verhältnis von gegenseitigen obgleich zumeist ungleichen Abhängigkeiten zueinander stehen. Dabei wurde unter anderem der Frage nachgegangen, ob und inwiefern numerische Mehrheitsverhältnisse mit der Konstitution einer Etablierten-Außenseiter-Figuration korrespondieren - also inwiefern numerische Minderheiten zugleich Außenseitergruppierungen im Sinne Norbert Elias' darstellen. Mit einem sozialkonstruktivistischen und figurationssoziologischen Ansatz versuchten wir, das Interdependenzgeflecht zwischen Menschen, das dynamische Netzwerk von Beziehungen und Abhängigkeiten sowie die sich im Wandel befindenden ungleichen Machtbalancen zwischen Etablierten und Außenseitern zu rekonstruieren. Macht ist dabei nicht als ein statischer Gegenstand zu verstehen, sondern hat einen relationalen Charakter und ist prozesshaft-dynamisch zu interpretieren. So können AkteurInnen nicht nur in verschiedenen Figurationen in sehr unterschiedlichem Maße an Machtbalancen partizipieren, sondern ihre Teilhabe an Machtbalancen unterliegt immer - außer vielleicht bei extrem kurzlebigen sozialen Figurationen - auch Wandlungsprozessen.
Im gegebenen historischen Kontext von Israelis und Palästinensern interagieren dieselben Individuen oftmals in sehr unterschiedlichen sozialen und lokalen Kontexten. Dabei handeln sie manchmal als Mitglieder von Gruppierungen ethnopolitischer oder religiöser Außenseiter und bei anderen Gelegenheiten als Mitglieder der Etablierten. Betrachten wir beispielsweise eine Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft und christlicher Religionszugehörigkeit, die in einem ›arabischen‹ Dorf mit christlicher Bevölkerungsmehrheit in Israel lebt. Diese interagiert mit jüdischen Israelis in allen sozialen Settings in Israel als Mitglied einer Gruppierung von Außenseitern in diesem Staat, während sie innerhalb ihres Dorfes gegenüber den muslimischen Mitbürgern als Mitglied der lokalen religiösen Mehrheit und damit oft auch der Etablierten in diesem Dorf handelt. Im Westjordanland wird eine Christin in den meisten lokalen Kontexten zwar zur religiösen Minderheit gehören und dennoch kann sie in bestimmten lokalen Kontexten, wie zum Beispiel in Bethlehem, zur lokalen Gruppierung der vorwiegend christlichen Etablierten in dieser Stadt gehören. Nehmen wir dagegen das Beispiel eines Palästinensers aus der Altstadt Jerusalems mit ›Jerusalemer ID‹, so befindet sich dieser zwar in einer vergleichsweise machtstärkeren Position als ein Palästinenser aus einem Flüchtlingslager im Westjordanland, doch sehr deutlich - wie unsere Interviews zeigten - in der Position eines Außenseiters gegenüber der Gruppierung der Palästinenser aus dem Norden Israels mit israelischer Staatsbürgerschaft. Diese beispielhafte Aufzählung ließe sich noch deutlich erweitern (zum Beispiel um die Beduinen, die Drusen und die verschiedenen Denominationen des Christentums, Palästinenser mit hohen Bildungsabschlüssen oder großem ökonomischen Kapital im Unterschied zu jenen mit geringer Schulbildung oder geringem ökonomischen Kapital) und zeigt die ausgesprochene Komplexität der Interaktionsbeziehungen innerhalb des Forschungsfeldes.?Diese Komplexität bedarf damit auch eines Forschungsdesigns, das die jeweils unterschiedlichen Figurationen, also wer mit wem und in welchem regionalen Kontext interagiert, in den Blick nimmt und vor allem auch eine sorgfältige und dem historischen Einzelfall gerecht werdende Analyse, die die subjektiven Perspektiven, Handlungsgeschichten und Biographien der einzelnen Akteure berücksichtigt (vgl. Rosenthal 2012). Neben biographisch-narrativen sowie thematisch-fokussierten Interviews führten wir daher in unterschiedlichen Alltagskontexten auch teilnehmende Beobachtungen durch, insbesondere in solchen Kontexten, in denen wir die Interaktionen zwischen Angehörigen verschiedener Gruppierungen in den Blick nehmen konnten. Darüber hinaus setzte das von Shifra Sagy geleitete Team standardisierte Fragebögen ein, um der Frage nach der Beziehung zwischen muslimischen und christlichen Palästinensern (vgl. Kap. 12) sowie zwischen Palästinensern aus Israel und aus dem Westjordanland nachzugehen (vgl. Mana u.?a. 2014). In diesen beiden quantitativen Studien zeigten sich in der Beantwortung der gestellten Fragen die Brüchigkeit des harmonisierenden Wir-Bildes und die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Gruppierungen von Palästinensern noch klarer und es wurde der Bedarf der Abgrenzung der eigenen Gruppierung von der anderen insbesondere bei den christlichen PalästinenserInnen deutlich.
Bei der Auswertung unserer mit qualitativen Instrumenten erhobenen Daten gingen wir insbesondere den folgenden Fragen nach: Was sind die für ihr Beziehungsgeflecht konstitutiven Faktoren innerhalb der beobachtbaren Interaktionen zwischen Mitgliedern der Gruppierungen von Außenseitern und Etablierten, welche konkreten Erfahrungen sind damit verbunden und auf welche Weise haben diese Erfahrungen ihr Leben und ihre Deutungsmuster einschließlich der Muster ihrer biographischen (Selbst-)Deutungen verändert?
Man könnte uns nun vorwerfen, dass wir mit unserem Anliegen, die ungleichen Machtbalancen zwischen verschiedenen Gruppierungen von PalästinenserInnen sowie die potentiellen aber auch gelebten Konfliktlinien zu rekonstruieren, im Grunde genommen die Spaltungsversuche der israelischen Politik unterstützen und damit die Wir-Gruppe der Palästinenser schwächen. Dagegen glauben wir, dass das Verschweigen bzw. die Tabuierung von internen Konflikten in den öffentlichen Diskursen kollektive Konflikte unter den PalästinenserInnen zumindest auf lange Sicht fördert bzw. deren Verschärfung langfristig begünstigt und so deren politische Solidarität und kollektive Handlungsmacht eher gefährdet als ein offener (obgleich in der Form disziplinierter) Diskurs über Interessensunterschiede, Konflikte, verschiedene Perspektiven und Meinungsdifferenzen unter ihnen. Aus einer sorgfältigen Analyse der Konfliktpotentiale ergibt sich dagegen unseres Erachtens die Chance, Möglichkeiten der Konflikttransformation auch auf der Ebene des Alltags aufzuzeigen. Die Anerkennung der Differenzen und Konflikte sowie der Versuch einer offenen, gemeinsamen und konstruktiven Bearbeitung der resultierenden Spannungen unter den PalästinenserInnen könnten gerade auch eine Ressource für ein gemeinsames Handeln gegen Spaltungsversuche sein und zur politischen Solidarität unter ihnen beitragen. Dafür ist es jedoch zunächst notwendig herauszufinden, welche Arten von Konflikten überhaupt beobachtet werden können, welche Gruppierungen in welchen lokalen oder regionalen Kontexten miteinander in Konflikt stehen und ob es Anzeichen für konstruktive Veränderungen der Muster der Interaktion und der Auseinandersetzung gibt. Anders ausgedrückt: Bieten die gruppenspezifischen, familialen und lebensgeschichtlichen Konstellationen und die situativen Kontexte Chancen für eine beginnende Ablösung von rigiden Mustern der Interaktion und für Konfliktlösungen, die Vertrauen schaffen und fördern statt es beschädigen oder untergraben? Diese Überlegungen lassen sich wohl auch auf viele andere Fälle übertragen - auf Beziehungen sowohl innerhalb als auch zwischen Wir-Gruppen.
Aufgrund dieser Überlegungen versucht der vorliegende Band vor allem, dem Anliegen gerecht zu werden, verschiedenen Gruppierungen von PalästinenserInnen, die im Westjordanland und in Israel leben, eine Stimme zu geben. Wir werden sowohl deren zum Teil recht unterschiedliche gegenwärtige Lebenssituationen, aber auch divergente familien- und lebensgeschichtliche Verläufe aufzeigen und ebenfalls auf erlittene Diskriminierungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft eingehen. Unser Ziel ist es dabei allerdings nicht zu individualisieren. Vielmehr wollen wir - wie auch in anderen Forschungsfeldern - aus einer soziologischen Perspektive aufzeigen, inwiefern die beobachteten Differenzen bedingt sind durch die jeweiligen Zugehörigkeiten zu verschiedenen sozialen Gruppierungen und durch deren Verflechtungen mit anderen Gruppierungen - sowie bedingt durch die damit zusammenhängenden mehrfach verschränkten Figurationen, die sie (ungewollt oder gewollt, mit oder ohne Wissen) mit jüdischen Israelis bzw. der israelischen Gesellschaft und dem israelischen Staat zusammen bilden.
Diesem Anliegen dient auch die Struktur dieses Bandes, in dem wir in den Kapiteln 2 bis 11 auf die von uns rekonstruierten Gruppierungen und die einerseits oft konfliktbeladenen, aber andererseits oft gegenseitig stützend wirksamen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppierungen im jeweiligen lokalen bzw. regionalen Kontext (Westjordanland, Altstadt von Jerusalem, Jaffa und Haifa) eingehen. Die quantitative Untersuchung unter der Leitung von Shifra Sagy über die Beziehungen zwischen muslimischen und christlichen PalästinenserInnen wird in Kapitel 12 vorgestellt. Den Abschluss des Bandes (Kap. 13) bildet ein Beitrag von Mohammed Dajani und Zeina Barakat, die die Unterschiede zwischen den beiden einflussreichsten Großnarrativen, dem israelisch-jüdischen und dem palästinensischen, aufzeigen.

Stimmen aus dem Westjordanland

2. Wir-Bilder und kollektive Gedächtnisse im Westjordanland
Gabriele Rosenthal

2.1 Der homogenisierende Wir-Diskurs
Als wir im Herbst 2010 mit unseren Interviews und teilnehmenden Beobachtungen in Ramallah und Bethlehem sowie in den angrenzenden ?palästinensischen Flüchtlingslagern begannen, zeigte sich das fast durchgängig und vehement vertretene Wir-Bild ›Wir Palästinenser haben keine internen Konflikte, wir haben nur Konflikte mit den Israelis‹ recht schnell und sehr deutlich. Wenn im Laufe eines Gesprächs auf Konflikte zwischen Gruppierungen unter den PalästinenserInnen oder auch auf Probleme wie einen zunehmenden Drogenkonsum und Kriminalität im eigenen Viertel verwiesen wird, schließt sich meist eine Argumentation an, die die Israelis dafür verantwortlich macht.
Die argumentativen Ausführungen zu diesem harmonisierenden Wir-Bild wurden von uns zunächst vor allem dadurch provoziert, dass wir in den ethnographischen Interviews im Kontext unserer teilnehmenden Beobachtungen teilweise bewusst die in diesem geographischen Kontext als politisch ›inkorrekt‹ geltende Frage nach der Religionszugehörigkeit stellten. Diese Frage wurde ebenso wie eine Frage nach dem Verhältnis zwischen Altansässigen und Flüchtlingen automatisch als eine Frage nach Konflikten zwischen diesen Gruppierungen interpretiert und mit ausführlichen Argumentationen über ein gutes Zusammenleben zurückgewiesen. Die Frage nach der Religionszugehörigkeit oder generell die Frage nach dem Verhältnis von verschiedenen Gruppierungen zueinander wird leicht als eine Infragestellung der palästinensischen Nation wahrgenommen und evoziert den Bedarf, ein harmonisches und homogenes Bild über die Wir-Gruppe der PalästinenserInnen zu vertreten, die ihre gemeinsame leidvolle kollektive oder je gleichartige individuelle Geschichte und Gegenwart verbindet. Trotz der bemühten Betonung der harmonischen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppierungen werden nun dennoch durchgängig Spannungen angedeutet. Wir stehen also vor dem Dilemma, dass wir mit Fragen nach den Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppierungen etwas ansprechen, was einerseits die Differenzen betont und die Bemühungen um ein gemeinsames Wir-Bild in Frage stellt und andererseits jedoch erhebliche Bedeutung für den Alltag in Ramallah und Bethlehem hat und in den biographischen Interviews meist von den Befragten auch ohne Anstoß von außen in der einen oder anderen Weise thematisiert wird.
Die Frage nach der Religionszugehörigkeit gilt auch dann nicht als angemessen, wenn sie von einem Palästinenser in offener Form an einen anderen Palästinenser gestellt wird. Dennoch wurde der Bedarf unserer Gesprächspartner sehr deutlich, mit Hilfe von indirekten Fragen nach dem Herkunftsort oder dem Familiennamen die kollektiven Zugehörigkeiten unserer palästinensischen KollegInnen zu erfahren, die sowohl aus dem Westjordanland als auch aus Israel kommen, sowohl Christen als auch Muslime sind und sowohl aus altansässigen Familien als auch aus Flüchtlingsfamilien stammen. Die Auswertung der Interviews verdeutlichte - wie ich es unter anderem am Beispiel einer muslimischen Flüchtlingsfamilie diskutierte (Rosenthal 2012) oder wie wir es mit der in diesem Band vorgestellten christlichen Familie Khadir (vgl. Kap. 3) aufzeigen -, dass die kollektiven Zugehörigkeiten von uns Interviewern eine Rolle für unsere Befragten spielten. Vor allem zu Beginn der Interviews wirkte sich dies auf die Rahmung der Gespräche aus und bestimmte damit auch zunächst die Wahl der angesprochenen Themen.
Ein weiteres mit der Relevanz dieses Wir-Bildes verbundenes Phänomen war, dass sich auch in den narrativ-biographischen Interviews unsere Befragten - obwohl wir uns sehr um eine narrative Gesprächsführung bemühten - nur selten auf längere Erzählungen im Sinne des Erzählens von einer Geschichte zur nächsten Geschichte einließen, die wenigen Erzählungen weit mehr auf kollektiv tradierte Geschichten als auf eigenerlebte Geschehnisse verwiesen bzw. eigenerlebte Erfahrungen nur dann erzählerisch ausgebaut wurden, wenn sie dem kollektiven Gedächtnis und dem kollektiv erwünschten Wir-Bild entsprachen. Es wurde in den Interviews in erster Linie argumentiert, vor allem über das Leiden unter der israelischen Besatzung. Dabei wurde uns gegenüber ein recht stereotypes kollektives Gedächtnis vertreten, das kaum familiengeschichtliche Bestandteile und mehr oder weniger immer die gleichen kollektiven Daten enthält - insbesondere die ?Nakba im Kontext der israelischen Staatsgründung 1948, die ?Erste und die ?Zweite Intifada.
Hinsichtlich der erheblichen Relevanz der Nakba im kollektiven Gedächtnis gilt es zu berücksichtigen, dass zwischen dem Beginn der Kämpfe in Palästina mit Bekanntwerden der UNO-Resolution im November 1947, dem ?Krieg ab Mai 1948 bis zur Unterzeichnung des letzten Waffenstillstandsabkommens im Juni 1949 etliche Tausende Palästinenser ihr Leben und circa 700.000 - 750.000 Palästinenser ihr Land verloren und flüchteten sowie die überwiegende Mehrheit der über 400 verlassenen palästinensischen Dörfer "durch gezielte Aktionen von Armee und jüdischen Siedlern" zerstört wurden (Krämer 2002: 376). Angesichts des relativ kleinen Territoriums ungefähr von der Größe Hessens, um das es hier geht, und der damals viel geringeren Bevölkerungsdichte sind 700.000 Flüchtlinge eine ausgesprochen große Anzahl. So betrug die gesamte Bevölkerung des späteren ?Mandatsgebiets Palästina am Ende des Ersten Weltkrieges - also vor den größeren Einwanderungsphasen von Juden aus Osteuropa - weniger als 700.000.
Die in den Interviews mit den Flüchtlingen und ihren Nachkommen - das heißt ihren Kindern, jedoch kaum noch bei ihren Enkeln (vgl. Rosenthal 2012) - deutlich werdende starke Verbundenheit mit den Herkunftsorten, in denen sie oder ihre Familien bis 1948 oder 1967 gelebt haben, hat neben der erheblichen Relevanz im politischen Diskurs und der allgemein hohen Bedeutung von ›Land‹ in agrarwirtschaftlich geprägten Kontexten und ländlichen, durch Ackerbau oder Forstwirtschaft geprägte Regionen, etwas damit zu tun, dass das Selbstbild von Palästinensern deutlich explizit verbunden ist mit ihrem Land. Dies zeigt sich unter anderem in der Redewendung: "My land is my identity", die bereits in der britischen Mandatszeit in den 1920er Jahren bei der Einführung von Ausweisen (›identity cards‹) belegt ist (Turki 1988: 65). Der palästinensische Schriftsteller Fawaz Turki führt weiter aus: "The foundation of Palestinian culture and inner history, as expressed in literature, poetry, rhetoric, folk tales, song, dance, and political theory, is rooted in this worldview of man and land as two components of the same system, expressing the life process." Die Verbindung zwischen der palästinensischen ›Identität‹ und dem Land bzw. der Bedeutung des verlorenen Landes durchzieht zum Beispiel sehr prominent das Werk des zeitgenössischen Lyrikers Mahmud Darwisch (vgl. Ahmed u.a. 2012).
Der Krieg von 1967, der erneut dazu führte, dass schätzungsweise mindestens 200.000 Palästinenser aus dem Westjordanland, aus Ostjerusalem und Gaza flüchteten und im Westjordanland viele Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden, wurde dagegen in den Interviews im Westjordanland - im Unterschied zu unseren Gesprächen in der Altstadt von Jerusalem (vgl. Becker 2013) - kaum erzählerisch ausgebaut und meist wurde auch erst auf Nachfragen der Interviewer davon berichtet. Diejenigen, die von sich aus dieses Thema erzählerisch in den Interviews einführten, sind in der Regel Altansässige aus etablierten christlichen Familien, die davon berichten, dass sie den meist muslimischen Flüchtlingen Unterschlupf und Nahrung anboten. Sie erzählen davon nicht zuletzt auch, um die hohe und selbstverständliche Solidarität der Christen im Westjordanland gegenüber den muslimischen Flüchtlingen zu verdeutlichen. Mit anderen Worten, das Sprechen über 1967 dient in diesen Fällen wiederum als Beleg des harmonisierenden kollektiven Gedächtnisses. Dagegen erfahren wir in den Interviews kaum etwas über den - meistens als vorschnell erlebten - Rückzug der jordanischen Armee aus dem Westjordanland und überhaupt wird über den für die PalästinenserInnen sehr enttäuschenden Verlauf dieses Krieges kaum gesprochen. Von daher nehmen wir an, dass die Nicht-Thematisierung dieser in der Geschichtsschreibung des Nahostkonflikts als Wendepunkt angesehenen Periode hinsichtlich der Hoffnung auf einen militärischen Erfolg der arabischen Armeen - im Arabischen als ?Naksa bezeichnet - unter anderem mit der enormen Enttäuschung oder Desillusionierung des Wunsches nach einer möglichen Rückkehr in die Heimatdörfer und -städte der Familien oder Personen zusammenhängt.
Neben den in den Interviews in sehr stereotyper Weise präsentierten kollektivgeschichtlichen Daten wurde uns in fast allen biographischen ähnlich wie in den ethnographischen Interviews wiederholt versichert, dass es zwischen verschiedenen Gruppierungen von Palästinensern keine Konflikte gebe, im Konflikt befinde man sich nur mit Israel, den Israelis, den israelischen Soldaten oder Siedlern oder allgemein mit den Juden (Hinrichsen/Worm 2012; Rosenthal 2012). Dies erfolgte, obwohl etliche dazu im Widerspruch stehende Erlebnisse erzählt wurden oder wir auch gemeinsam mit den Interviewten dem widersprechende Alltagssituationen erlebten. Ob nun Christen oder Muslime, Alteingesessene oder Flüchtlinge, im Lager oder in den Städten lebende Menschen, stets wird das Bild eines friedlichen Zusammenlebens dieser Teilgruppierungen in der palästinensischen Wir-Gruppe vertreten: Es wird zu Gunsten der Existenz einer harmonischen Beziehung zwischen verschiedenen Gruppierungen argumentiert und die dennoch häufig angedeuteten Spannungen werden in ihrer Bedeutung abgeschwächt oder explizit geleugnet. Die familien- und lebensgeschichtlichen Wir- und Selbstpräsentationen sind durchzogen von der argumentativen Reproduktion und Verteidigung dieses Wir-Bildes, der Benennung der zentralen kollektivgeschichtlichen Ereignisse des ihm zugehörenden kollektiven Gedächtnisses sowie von einzelnen Belegerzählungen, die das Leiden unter der israelischen Fremdherrschaft oder Besatzung verdeutlichen sollen. Aufgrund dieser Rahmung der Gespräche kann es somit auch nur schwer zu längeren Erzählketten kommen und nur durch eine konsequent narrative Gesprächsführung gelingt manchmal die Hervorlockung von Erzählungen über biographische Bereiche, die nicht in dieses thematische Feld gehören.
Dieses Wir-Bild einer harmonischen und meistens auch einer homogenen Wir-Gruppe, die auf eine gemeinsame Geschichte zurückblickt, findet sich auch in recht deutlicher und stereotyper Form in Gesprächen mit Experten, wie zum Beispiel Vertretern palästinensischer NGOs, die besonders darin geübt sind, ihre schwierige Lebenssituation bzw. die der Palästinenser gegenüber VertreterInnen der ›westlichen‹ Welt darzustellen und wie Rixta Wundrak (2012) es im Zusammenhang von Jaffa diskutiert, quasi als SprecherInnen oder politische RepräsentantInnen ihrer Communities agieren. So reagierte zum Beispiel ein Angestellter eines Lagerkomitees, nachdem er die mangelnde Unterstützung durch die beiden benachbarten Stadtgemeinden andeutete, auf eine Nachfrage hierzu wie folgt: "Wir haben keine Konflikte mit A-Stadt oder mit B-Stadt - wir sind ein Volk, wir haben eine Religion." Trotz der Anwesenheit des christlichen palästinensischen Projektmitarbeiters Anan Srour - dessen Religionszugehörigkeit in den Gesprächen meist wahrgenommen wurde - geht dieser Interviewpartner so weit und spricht nicht nur von einem Volk, sondern auch von einer Religion.
Wir interpretierten diese Befunde zunächst in erster Linie als durch die Anwesenheit der deutschen ForscherInnen bedingt, die für die palästinensischen GesprächspartnerInnen die so genannte westliche Welt repräsentieren. Zweifellos sind unsere in dieser Region geführten alltagsweltlichen Gespräche und biographischen Interviews erheblich durch den Nahostkonflikt und die damit zusammenhängenden mehrfach verschränkten Figurationen zwischen Palästinensern, jüdischen Israelis und Vertretern der so genannten westlichen (christlich geprägten) Welt bestimmt. Das Sprechen über die eigene Familien- und Lebensgeschichte wird daher gerahmt mit der Präsentation der nationalen Wir-Gruppe sowie ihres kollektiven Schicksals und ist damit eingebettet in die und verschränkt mit der übermächtigen Figuration mit den jüdischen Israelis und durch die damit verbundenen, stark von Gewalt geprägten Frontstellungen und Machtungleichheiten. Um nun der Frage nachzugehen, inwiefern dieses harmonisierende Wir-Bild und kollektive Gedächtnis durch eine Interaktionsrahmung aufgrund der nationalen Zugehörigkeit der InterviewerInnen bestimmt wird, wurden im weiteren Verlauf der Forschung verstärkt Interviews und teilnehmende Beobachtungen geführt, an denen nur palästinensische ForscherInnen aus unserem Team anwesend waren. Dabei zeigte sich ein ähnlicher Befund, vor allem was die Dominanz des auf bestimmte historische Daten konzentrierten oder gar reduzierten kollektiven Gedächtnisses, die Fokussierung auf das Leiden der Wir-Gruppe unter der israelischen Fremdherrschaft und die Harmonisierung der Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen der Wir-Gruppe betrifft. Dieses harmonisierende Bild wird von PalästinenserInnen auch im internen Diskurs, zumindest im öffentlichen und halböffentlichen Diskurs und auch in der Interaktion zwischen Christen und Muslimen oder zwischen Alteingesessenen und Flüchtlingen vertreten, und offenbar versuchen sie teilweise auch, sich selbst dessen zu versichern und in gewisser Weise so zu ›beruhigen‹. Solche Bemühungen um kollektive Selbstvergewisserung durch die Vorstellung einer konfliktfreien Wir-Gruppe werden häufig bei heftigen oder gewaltsamen kollektiven Konflikten besonders relevant und müssen hier stets vor dem Hintergrund der staatlichen israelischen Politik der Spaltung der nichtjüdischen Bevölkerung gesehen werden. Dies führt dazu, dass PalästinenserInnen sehr darauf bedacht sind, Versuche abzuwehren, sie in verschiedenartige so genannte Minderheiten klassifizierend zu teilen, die der ›kulturell‹ und sozio-politisch kaum weniger heterogenen Konfliktpartei der ›jüdischen‹ Israelis machtlos gegenüberstehen. Sie reden in den Begegnungen mit den ForscherInnen gegen diese (mehr oder minder absichtlichen) Spaltungsversuche an, indem sie immer wieder betonen, dass sie eine Gemeinschaft seien, in der niemand aufgrund seiner Religion oder seines Status als Flüchtling oder Altansässiger oder wegen seines rechtlichen Aufenthaltsstatus diskriminiert werde.
Das Forscherteam konnte allerdings auch die Beobachtung machen, dass sich diese eingeübte und verfestigte Präsentation eines harmonisierenden Wir-Bildes bei wiederholten Begegnungen manchmal etwas auflöste oder bei einem zweiten Interview nicht mehr bedient wurde und die Erinnerungsprozesse anders gerahmt waren (wie zum Beispiel ›Mein Leiden unter dem frühen Tod meines Vaters‹) oder die erwähnte dominante Form des Diskurses über die Wir-Gruppe der Palästinenser in manchen Interviews überhaupt nicht erkennbar war. So wurden zum Beispiel manche Erstinterviews von den Befragten bereits als eine Art therapeutisches Gespräch definiert, um über erlittene Diskriminierungen - zum Beispiel als homosexueller Mann - sprechen zu können oder waren davon bestimmt, die eigene diskriminierte Wir-Gruppe (zum Beispiel ›wir homosexuelle Palästinenser‹) gegenüber einem ›westlichen‹ Interviewer zu präsentieren, dem man mehr Toleranz gegenüber Schwulen zuschreibt als dem eigenen Umfeld (vgl. Kap. 5). Im Laufe der Forschung wurde zunehmend deutlich, dass diese Rahmung des Interviews als Gespräche, in denen man sich einmal über die eigenen Probleme oder die Diskriminierung der eigenen Wir-Gruppe (bzw. einer Gruppierung, der man zugerechnet wird) aussprechen kann, von Außenseitern in der palästinensischen Gesellschaft gewählt wurde, wie beispielsweise Menschen in bi-nationalen Ehen, als ›homosexuell‹ definierte Männer oder jene, die viele Jahre im Ausland gelebt haben und sich in gewisser Weise fremd in Palästina fühlen. Generell können wir davon ausgehen, dass Gespräche mit Außenseitern, die sich in einer mehr oder weniger großen Distanz gegenüber ›ihrer‹ eigenen Wir-Gruppe befinden oder sich ihr nicht zugehörig oder sich von ihr ausgeschlossen, diskriminiert oder marginalisiert fühlen, die Chance ermöglichen, von Bestandteilen der kollektiven Geschichte und ihrer Deutungen zu erfahren, die in den herrschenden Diskursen ausgeblendet oder an den Rand gerückt werden sollen (vgl. Bogner/Rosenthal 2012).
Aufgrund dieses empirischen Befundes suchte das Forscherteam gezielt nach Interviewten, die zu den Außenseitern in der palästinensischen Gesellschaft gehören. Dabei konnte die Annahme weiter empirisch gefestigt werden, dass insbesondere Menschen, die sich in ihrer Lebenswelt in einer mehrfachen (und dadurch in verhältnismäßig hohem Grad ›individualisierten‹) Außenseiterposition befinden, dazu tendieren, das harmonisierende Wir-Bild in ihren biographischen Selbstthematisierungen nicht zu bedienen. Das gilt in diesem Fall häufig für diejenigen, die nicht nur Außenseiter sind gegenüber den Altansässigen im jeweiligen lokalen Kontext, gegenüber den Angehörigen der etablierten Großfamilien, den Menschen mit einer Staatsangehörigkeit und relativ unbeschränktem Reiserecht und gegenüber vor allem den Israelis, sondern zudem noch weitere zugeschriebene Merkmale haben, die eine soziale Außenseiterposition begründen können (wie zum Beispiel eine konfessionelle, sexuelle oder politische Außenseiterposition, eine Behinderung oder eine vom Umfeld negativ bewertete Abstammung, etwa aus einer konfessionellen Mischehe). Häufiger erzählen sie mehr und oft viel mehr über ihre ›individuellen‹ Erlebnisse, die nicht im thematischen Feld ›Leiden unter der israelischen Fremdherrschaft‹ stehen, kommen in einen längeren Erzähl- und Erinnerungsfluss und thematisieren vor allem auch Konflikte sowie Spannungen zwischen den verschiedenen palästinensischen Gruppierungen. Sie thematisieren, dass sie sich (im lokalen Kontext) als Christen oder Muslime oder als Bewohner der Flüchtlingslager diskriminiert fühlen, sprechen über die Spannungen zwischen Altansässigen und Flüchtlingen am Ort oder zwischen Christen und Muslimen. Im deutlichen Unterschied zu den Wir- und Selbstdarstellungen, die sich vorwiegend am harmonisierenden Wir-Bild bzw. dem dominanten Diskurs der palästinensischen Wir-Gruppe über die relevanten Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses orientieren und damit durch die Figuration mit den jüdischen Israelis bzw. dem Staat Israel bestimmt sind, erzählen diese Außenseiter mehr von ihrer eigenen spezifischen Lebensgeschichte und orientieren sich mehr an ihren persönlichen biographischen Relevanzen. Ihre Präsentationen sind bestimmt durch die Figuration zwischen ihnen als (durch ihre soziale Position) verhältnismäßig ›individualisierte‹ Außenseiter und der Wir-Gruppe der etablierten Palästinenser - wobei (dies sei hier betont) auch für sie und ihre Selbstdeutungen die Figuration zwischen ihnen und dem Staat Israel ebenso wirksam ist und in bestimmten Kontexten das von ihnen präsentierte Wir- und Selbstbild massiv prägt, vor allem in den Kontexten ›politischer‹ Diskurse.


Gabriele Rosenthal ist Professorin für Qualitative Methoden an der Universität Göttingen.

Gabriele Rosenthal ist Professorin für Qualitative Methoden an der Universität Göttingen.


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