Rosenwasser | Herz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Rosenwasser Herz

Feministische Strategien und queere Hoffnung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03973-061-2
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Feministische Strategien und queere Hoffnung

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-03973-061-2
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wir alle können Hoffnung gut gebrauchen - aber ohne eine Auseinandersetzung mit dem, was uns wütend macht, geht das nicht. Anna Rosenwasser widmet sich in Herz. Feministische Strategien und queere Hoffnung den Fragen, die ihr als Aktivistin häufig gestellt werden: Wie können wir uns mit der Realität von Gewalt beschäftigen, ohne unsere Zuversicht zu verlieren? Wohin mit unserer Wut, die bei problematischen Diskussionen aufkommt? Warum fällt es vielen Frauen und Queers so schwer, Raum einzunehmen - und mit welchen Tricks schaffen wir es trotzdem? Die Texte beschreiben heutige Realitäten von Frauen und queeren Menschen mit Einfühlsamkeit und Humor. Sie öffnen Perspektiven, beleuchten allzu oft Missverstandenes und ermutigen, nicht alleine zu verzweifeln, sondern gemeinsam fantasievollen Widerstand zu leisten. Nicht zuletzt gewährt das Buch persönliche Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt einer jungen Nationalrätin.

Anna Rosenwasser, 1990 in Schaffhausen geboren, arbeitet seit 2008 als Journalistin und Schriftstellerin und hat eine eigene Kolumne in der Republik. Von 2017 bis 2020 war sie Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz und setzte sich unter anderem für den Diskriminierungsschutz und die Ehe für alle ein. Davor war Rosenwasser im Vorstand der LGBTQ-Organisation Milchjugend aktiv und hat in Schaffhausen einen queeren Jugendtreff mitgegründet. Ihr Instagram-Kanal gehört zu den meistbeachteten Politkanälen der Schweiz. 2023 wurde sie in den Nationalrat gewählt.
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Bisexueller Trotz


Zu dritt teilen wir uns einen Morgenmantel, den wir wie eine Decke über unsere Beine legen. Luna, Jonas und ich sitzen draußen auf einer Bank vor einem Club. Drinnen läuft eine queere Party, und wir sind ein bisschen nervös angesichts der schönen Anwesenden, besonders Jonas, der beste Freund von Luna, einer Bekannten von mir. Ich habe ihn gerade erst kennengelernt. Amüsanterweise verleiht der Club Morgenmäntel an Leute, die draußen vor dem Club rauchen wollen. Keiner von uns raucht. Aber Jonas hat Feuer-Emojis in den Augen.

»Habt ihr den Typen gesehen, mit dem ich vorhin gesprochen habe? Den im Netzshirt? Genau den. Mit den langen Haaren. Ich kenne ihn!« Jonas beginnt aufgeregt zu gestikulieren. »Von vor acht Jahren! Wir waren im selben Schießclub. Er hat zuerst aufgehört, ich kurz nach ihm.«

Ich weiß, wen er meint. Dieser Schütze ist mir auch aufgefallen. »Der ist wirklich süß«, sage ich. Jonas fingert aufgeregt an seinem Handy herum. Dann zeigt er uns ein Foto des Mannes, auf dem Bild deutlich jünger, die Haare damals kurz, das Lächeln höflich. »Ich habe es mir schon da gedacht!«, japst Jonas. »Schon damals! Dass er vielleicht!«

»Whoa, vor acht Jahren wusste ich selbst noch nicht mal, dass ich bi bin«, sagt Luna. »Wir wussten es quasi alle vor dir, es war so offensichtlich«, lacht Jonas. Sie lacht mit und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. »Luna, weißt du noch, wie ich dich mal gefragt habe? Und du: Sicher nicht, das ist einfach mein Style?«, sagt Jonas. Er will gerade wieder losprusten, da stockt ihm der Atem. »Da. Der Schütze«, sagt er leise. Und tatsächlich, da schreitet er aus dem Club, im gut durchsichtigen Netzshirt mit für diese Uhrzeit erstaunlich wohldrapierten Haaren. Ein wirklich schöner Mensch. »Er ist so heiß«, flüstert Jonas. »Ich wusste es doch, schon damals.« »Wusste er denn, dass du auf Männer stehst?«, frage ich. Lunas Körper neben mir spannt sich plötzlich spürbar an. Jonas reißt seinen Blick vom Schützen los und schaut zu mir. »Ich bin hetero.« Ich nicke, ah, okay.

Warum ist die Situation plötzlich unangenehm?

»Also, ich finde es cool so als Dreier, klar, aber so oneon-one natürlich nicht. Ich unterstütze euch aber voll«, versichert Jonas in Lunas und meine Richtung. Ich nicke, ja, bist ja auch mit uns auf einer queeren Party. Innerlich ist Jonas aber eh schon wieder beim Schützen, sein Blick auf dessen beachtlich muskulösem Rücken, den er uns zugewandt hat, während er wieder in den Club geht. »Wir sollten rein«, sagt Jonas.

Als wir wieder rauskommen, sind wir zu viert. Luna und ich teilen uns auf dem Weg zur Tramhaltestelle einen Becher Wasser, hinter uns Jonas und der Schütze, sie unterhalten sich angeregt. Gerade geht es um die Heteronormativität in der Schieß-Community, welche Frauenbegriffe verwendet werden, um andere Männer abzuwerten, voll daneben, findet der Schütze, voll daneben, findet auch Jonas. »Bist du eigentlich auch gay?«, fragt ihn da der Schütze. Luna verschluckt sich fast am Wasser. »Also, ähm, nicht direkt«, hören wir Jonas murmeln, »eher so: offen … würde ich sagen. Also definitiv offen.« Wir verabschieden uns vom offenen Jonas, der mit dem Schützen mitgeht. In seinen Augen leuchten weiterhin heterosexuelle Feuer-Emojis.

Wenn Luna ihn heute erwähnt, frage ich gerne: »Ah, der heterosexuelle Jonas?« Sie sagt dann: »Ja voll, der mega heterosexuelle Jonas«, und wir lachen kurz. Aber eigentlich ist es nicht zum Lachen. Es ist Teil eines Phänomens, das mir immer wieder begegnet: Menschen, die Anziehung zum gleichen Geschlecht empfinden und sich dennoch unbeirrt als heterosexuell definieren. Das könnte anderen vielleicht egal sein, aber ich finde, das sollte es nicht.

Was heißt das, wenn du dich zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlst, die Norm aber sagt, dass es nur hetero und homo gibt? Du bleibst beim einen oder anderen. Deine eigene, vermeintlich klare Identität sorgt dann potenziell dafür, dass du deine Anziehung nie so auslebst, wie du es könntest, wenn sie wirklich frei wäre. Wenn der heterosexuelle Jonas sich nicht als heterosexuell definieren würde – vielleicht würden der Schütze und er ja ein Paar? Wenn Jonas seine Anziehung zu Männern aber vor sich selbst und vor anderen versteckt, kann das – nachweislich – seine psychische Gesundheit beeinträchtigen.

Es ist an dieser Stelle wichtig, dass wir uns bewusst werden, was »Anziehung ausleben« bedeutet. Sexuelle Orientierung ist nicht das, was du machst, es ist das, was du fühlst, dein Empfinden, über dein Leben hinweg. Du kannst bisexuell sein und dein ganzes Liebesleben lang nur mit Männern Sex haben. Du kannst bisexuell sein und vierzig Jahre lang mit einer Frau verheiratet sein, ohne dass irgendwas mit irgendeinem Mitmenschen passiert. Du kannst bisexuell sein und nie jemandem nahekommen. Und du kannst bisexuell sein und so vielen verschiedenen Geschlechtern konsensuell deine Zunge in den Hals stecken, dass man meinen könnte, du seist ein Vogelmami. Bisexualität hat zwar »Sex« im Wort, meint aber eigentlich nur Anziehung empfinden, Anziehung zu mehr als einem Geschlecht, im Laufe deines wunderschönen Lebens. Bisexualität sagt nichts darüber aus, wie viel oder wie intensiv wir Anziehung empfinden. Du kannst bi sein und gleichzeitig zum asexuellen oder aromantischen Spektrum gehören. Du kannst bi sein und einmal pro Jahreszeit einen Menschen anziehend finden oder einmal pro Stunde, wie ich während meines Eisprungs. Genau so, wie es Heteros gibt, die selten mal einen Mitmenschen attraktiv finden, und Heteros, die oft und intensiv Anziehung empfinden. So verhält es sich bei Schwulen und Lesben auch.

Ich teile nicht die These: Jeder ist doch ein bisschen bi. Das wird gern mit besten Zwinkersmiley-Absichten gesagt, aber es stimmt nicht. Heterosexuelle existieren. Schwule und Lesben existieren. Das müssen alles keine starren Kategorien sein – ich spreche dir deine Heterosexualität nicht ab, wenn du mal einer Person des gleichen Geschlechts hinterherguckst. Bisexuelle sind zwar der zahlenmäßig größte Teil des LGBTQ-Spektrums10, umfassen aber nicht alle.

Ich teile auch nicht die These: Du weißt es nie, bis du es nicht probiert hast. Anziehung kann verspürt werden, ohne dass wir uns ausziehen. Sonst gälten ja alle Heteros bis zum Zeitpunkt ihres ersten Kusses als asexuell. Oder als bisexuell. Also, du kannst auch spüren, wer du bist und welche Anziehung du empfindest, wenn du es nicht ausprobiert hast. Natürlich ermutige ich jeden Menschen, bei Bedarf und Konsens allerlei Abenteuerliches auszuprobieren. Ich habe selbst manche Aspekte meiner Anziehung erst kennengelernt, indem ich sie erlebt habe.

Eine Geschichte dazu: Ein Typ, mit dem ich zur Sekundarschule gegangen bin, hat mir letztens auf WhatsApp geschrieben. »Anna, ich weiss, wir hatten ewig keinen Kontakt mehr, aber ich will dir was erzählen. Ich war mein Leben lang immer mit Frauen zusammen, nice und alles, und habe Queers immer toleriert, aber mehr nicht. Seit zwei Jahren lebe ich in Wien. Und da war einmal einfach dieser Mann. Bäm. Ich war hin und weg. Ich wusste gar nicht, dass das geht. Und er auch. Wir sind jetzt zusammen, ist ein halbes Jahr her. War mega froh um deine Beiträge zu Bisexualität, ich bin so geflasht und hätte nie gedacht, dass mir das passiert. War noch nie so glücklich. Grüsse aus Wien, sag falls du mal hier bist. xx Joël«

Joël hat in dem Moment, in dem er sich in den Typen verliebte, realisiert, dass er sich auch zu Männern hingezogen fühlen kann. Vielen Menschen ergeht es nicht ganz so. Sie empfinden immer mal wieder subtilere Arten der Anziehung. Wenn sie wissen, dass es erstens Bisexualität gibt und zweitens das nichts Schlimmes ist, sondern etwas Neutrales bis Schönes, können sie diese Anziehung einordnen. Oftmals macht uns unsere Identität aber einen Strich durch die Rechnung. »Ich bin ja hetero, aber dieser eine Mann!«, ist eine Aussage von Männern, die ich sehr oft höre, wahlweise auch: »Du weißt ja, ich bin schwul, aber …«, und dann ein Geschwärme über eine Frau, das so gar nicht platonisch anmutet. Mit Anziehung ausleben meine ich, dass ich jedem Mensch wünsche, sich selbst einzugestehen, wenn er Anziehung zu mehr als einem Geschlecht empfindet. Und dass es ihm offensteht, die Anziehung zu mehr als einem Geschlecht als Bisexualität einzuordnen und wahlweise hemmungslos mit allen Geschlechtern rumzumachen.

Viele Menschen stellen sich vor, dass Bisexualität bedeutet, sich sozusagen gleichzeitig zu mehreren Geschlechtern hingezogen zu fühlen, und zwar zu gleichen Teilen. Viele Bisexuelle haben Tendenzen, oder ihre Bisexualität verändert sich im Laufe des Lebens, fühlt sich anders an, drückt sich anders aus. Es ist leider üblich, dass Bisexuelle in monogamen Mann-Frau-Beziehungen glauben, sie seien nicht bi genug. Dabei ist jede Ausprägung von bisexuellem Empfinden bi genug.

Ein weiteres Klischee besagt, dass Bisexuelle gerne promiskuitiv seien, dass wir gerne rumschlampen würden. Es gilt als negativ, dabei ist es eigentlich wertneutral, wie vielen Mitmenschen eine Person nahekommt. Das Missverständnis kommt womöglich daher, dass die meisten Leute meinen, Anziehung sei eine Handlung. Dabei sind Anziehung verspüren und Anziehung ausleben zwei verschiedene Dinge. Anziehung ausleben bedeutet in erster Linie, sie spüren, sie zulassen, sie manchmal sogar einordnen und dann sie nicht abwerten, sondern idealerweise genießen.

Wer die eigene Anziehung weder spüren noch einordnen kann, wer sie unbewusst oder bewusst abwertet, leidet früher oder später. Ich...



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