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E-Book, Deutsch, Band 48, 76 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

Rüegg Krise der Freiheit

Religion und westliche Welt. Plädoyer für ein gelassenes Verhältnis.

E-Book, Deutsch, Band 48, 76 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

ISBN: 978-3-7965-3562-8
Verlag: Schwabe Basel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Spielregeln für eine pluralistische Gesellschaft

Der vorliegende Essay wirbt für ein gelassenes Verhältnis zwischen Religion und moderner Gesellschaft. Als Vorbild dienen die Wissenschaften. Diese haben sich im Lauf ihrer Geschichte von weltanschaulichen
Fundierungen gelöst. Es gibt heute keine jüdische Physik oder christliche Biologie.
Darum sind Wissenschaftler auch weltanschaulich frei. Ob ein Chemiker oder ein Arzt ein Jude, ein Christ oder ein Atheist ist, spielt für das fachliche Know-how keine Rolle. Diese Gelassenheit ist bedroht. Grund ist
die 'weltanschauliche Polarisierung', wie sie Jürgen Habermas vor einigen Jahren beschrieb. Auf der einen Seite breiten sich naturwissenschaftliche Weltbilder aus, in denen die Menschen zu unpersönlichen Objekten atomisiert werden, auf der anderen Seite wächst die Zahl religiöser Extremisten,
die ihren persönlichen Glauben zu einem Maßstab für alle Menschen machen. Beide Tendenzen gefährden gemeinsam unsere bewährte Rechtsordnung. Auf dem Spiel steht unsere Meinungs- und Glaubensfreiheit, unsere
gesellschaftliche Vielfalt. Die Polarisierung erweist sich nicht nur als eine Bedrohung für unsere individuelle
Freiheit. Sie verdeckt auch die elementare Bedeutung der Religionsfreiheit für pluralistische
Gesellschaften. Diese sind weder mit dem Wunsch nach einem Gottesstaat noch mit dem Wunsch nach einer religionsfreien Zivilgesellschaft vereinbar. Michael Rüegg behandelt dieses Thema im Spannungsfeld von Wissenschaft, Religion und Politik zum einen im Rückgriff auf ‘klassische’ Positionen, u.a. von Hans-Georg
Gadamer, Peter Strawson und Richard Rorty, zum anderen in der kritischen Auseinandersetzung
mit zeitgenössischen Autoren wie Thomas Metzinger, Alain de Botton, Peter Sloterdijk oder Byung-Chul Han.
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Religion
Westliche Welt und Religion
Religion ist rückständig oder gefährlich. Dieses Urteil ist in der westlichen Welt weit verbreitet. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zwei möchte ich hervorheben. Auf der einen Seite haben wir den Sinn für Geheimnisse weitgehend verloren. Digitalisierung und Ökonomisierung beherrschen heute unseren Alltag, unsere Institutionen, unserer Beziehungen. Alles wird optimiert und berechenbar gemacht, einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen, von der Empfängnis bis zum Tod. Auf der anderen Seite erleben wir die Rückkehr religiös motivierter Gewalt. Der Terror ist in unserer Mitte angekommen. Eigentümlich ist dabei, wie sich bei den modernen Gotteskriegern beide Sphären vermischen. Sie zelebrieren nicht nur eine archaische Frömmigkeit, sondern erweisen sich auch als wahre Meister im Gebrauch der Technik. Fortschritt und Fanatismus liefern scheinbar starke Argumente gegen Religion überhaupt. Immer mehr Menschen gehen auf Distanz zu allen Formen des institutionalisierten Glaubens. Augenfällig sind die teils leeren, teils musealisierten Kirchen in unseren Städten. Sie dienen in erster Linie älteren Menschen als Warteraum für den Tod. Die Folge ist, dass immer mehr junge Menschen ohne religiöse Erziehung aufwachsen, ohne die persönliche Erfahrung religiöser Praxis. Europa ist von diesem Schwund der Religion besonders betroffen. Im Grunde kann man diesen Bedeutungsverlust aber in der gesamten westlichen Welt beobachten. Die vorliegende Streitschrift setzt hier an. Ich versuche zu zeigen, dass wir trotz Fortschritt und Fanatismus auch im 21. Jahrhundert gute Gründe haben, religiösen Gemeinschaften einen wichtigen Platz in der modernen Welt einzuräumen. Erstens ist, um einen Gedanken von Jürgen Habermas aufzunehmen, die religiöse Vielfalt ein Gradmesser für unsere individuellen Rechte.1 Ein Blick auf die aktuelle Weltkarte zeigt schnell, weshalb: Nur dort, wo die Menschen die Freiheit haben, zu glauben und zu sagen, was sie wollen, gibt es funktionierende Demokratien. Das gleiche Bild zeigt uns ein Blick auf die Geschichte der letzten zweihundert Jahre. Alle Regime oder Reiche, die die Religionsfreiheit unterdrückten, erwiesen sich ausnahmslos als verbrecherisch. Zweitens befindet sich die westliche Welt in dem schon angetönten Wandlungsprozess von einer technischen zu einer digitalen Zivilisation. Es herrscht in einem gewissen Sinn Ratlosigkeit, wie wir damit umgehen sollen. Wir sind überfordert, ob in der Politik oder im Privaten. Auch hier – sozusagen von Innen – scheint unsere Freiheit bedroht. Der Mensch wird, wie es Byung-Chul Han thematisiert, immer mehr zur Ware.2 Die Religionen haben, so behaupte ich, das Potenzial, um hier einen wichtigen Beitrag für die Orientierung zu leisten. Das gilt besonders für das Judentum und das Christentum. Diese bejahen grundsätzlich Wissenschaft und Technik als Gaben der Schöpfung, ohne sie deshalb aber zu vergöttern. Darum ist es von allgemeinem Interesse, den religiösen Freiheitsraum zu verteidigen und die Mitglieder religiöser Gemeinschaften zu ermutigen, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Weltanschauliche Freiheit
Im Zentrum dieser Streitschrift steht also folgende Behauptung: Wer Religion verteidigt, verteidigt unsere Freiheit. Und umgekehrt: Wer gegen Religion ist, ist gegen Freiheit. Freilich ist es nicht so einfach. Entscheidend ist, dass man zwischen persönlicher Überzeugung und politischer Macht unterscheidet. Für religiöse Menschen heißt das, dass sie sich von der Idee des Gottesstaates loslösen; für nichtreligiöse Menschen, dass sie keine religionsfreie Gesellschaft anstreben. Beide Lager müssen aushalten, dass sie ihre persönliche Überzeugung nicht zu einem Maßstab für alle Menschen machen können. Die Unterscheidung von Macht und Moral ist grundlegende für die westliche Welt.3 Dass sie heute wieder bedroht ist, scheint offenkundig. Zum einen wächst die Zahl religiöser Fanatiker, die nicht nur, aber vor allem aus dem Islam stammen; zum anderen breiten sich religionsfeindliche Weltbilder in der westlichen Welt aus. Aus diesem Grund schlage ich vor, die weltanschauliche Freiheit mit einem Test zu prüfen. Er wird im nächsten Kapitel vorgestellt. Das Vorbild sind die modernen Wissenschaften. Diese haben sich im Lauf ihrer Geschichte von weltanschaulichen Fundierungen gelöst. Es gibt heute keine jüdische Physik oder christliche Biologie. Darum sind Wissenschaftler auch weltanschaulich frei. Ob ein Chemiker oder ein Arzt ein Jude, ein Christ oder ein Atheist ist, spielt für das fachliche Know-how keine Rolle. Der Test selbst ist in gewisser Hinsicht vielleicht eine Provokation. Er ist einfach in der Handhabung und im Grunde unwissenschaftlich. Aber er funktioniert, auch wenn er sicher verbesserungsfähig ist. Wir können ihn genauso auf Privatpersonen anwenden wie auf Institutionen, auf theoretische Konzepte wie auf konkrete Situationen, und schließlich auch auf uns selbst. Flankiert wird der Test von zwei Überlegungen, die helfen sollen, meinen Standpunkt besser zu verstehen. Die eine Überlegung handelt vom menschlichen Flickwerk.4 Es gibt nirgends perfekte Lösungen für unsere Probleme Das ist der Preis der Freiheit. Die andere Überlegung handelt von der Figur des Tausendkünstlers,5 die durch die Geschichte der Menschheit geistert. Darin geht es um unseren Hang, das menschliche Flickwerk überwinden zu wollen. Politische Utopien
Konkret möchte ich am Beispiel von aktuellen Gesellschaftsutopien zeigen, dass unsere weltanschauliche Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen sie immer wieder neu verteidigen. Drei von diesen Utopien sind als soziale Bewegungen organisiert. Es handelt sich um den evolutionären Humanismus, der im Philosophen und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger einen prominenten Fürsprecher hat, den effektiven Altruismus, dessen geistiger Vater der Philosoph Peter Singer ist sowie die School-of-Life-Bewegung, die vom philosophischen Schriftsteller und Unternehmer Alain de Botton gegründet wurde. Abrunden möchte ich die Darstellung dieser politischen Utopien mit der eher individuellen Anleitung zum Menschsein des Philosophen Peter Sloterdijk. Auch er ruft uns auf, neue Regeln für unser Leben und Zusammenleben zu verfassen. Die Auswahl ist nicht zufällig. Bei allen Unterschieden ist diesen Utopien gemeinsam, dass sie sich an Karl Marx oder Friedrich Nietzsche anschließen und Religion überwinden wollen, ganz besonders das Judentum und das Christentum. Diese Wende gegen Religion halte ich, wie gesagt, für eine Wende gegen unsere Freiheit. Im Kern geht es aber um mehr als den Nachweis, dass diese politischen Utopien im Grunde mit den Prinzipien moderner pluralistischer Gesellschaften nicht vereinbar sind. Aktuell stellen sie sicher keine Gefahr für die westliche Welt dar. Ihnen fehlt das revolutionäre Potenzial. Doch sind sie ein Symptom für eine viel tiefere Krise der westlichen Welt und ihrer technischen Zivilisation. Das heißt, in ihnen artikuliert sich ein Prozess, der mit der Neuzeit begann und mit der bereits erwähnten Digitalisierung immer schneller fortschreitet: das Verschwinden der Person. Der Widerstand gegen diesen fatalen Prozess, so meine Behauptung, geht Hand in Hand mit der Verteidigung des religiösen Freiheitsraums. Wer Religion verteidigt, verteidigt also nicht nur die Freiheit, sondern auch die Person. Versuch der Präzisierung
Ich möchte diese einleitenden Gedanken mit drei Bemerkungen abschließen. Das vor allem im Hinblick auf die Gefahr möglicher Missverständnisse. Die erste Bemerkung betrifft die religiöse Vielfalt. Ich werde sie, wie gesagt, mit dieser Schrift verteidigen. Die Verteidigung darf aber nicht als Beliebigkeit missverstanden werden. Die Vielfalt folgt daraus, dass man die Freiheit des Anderen verteidigt, gleich, ob dieser religiös ist oder nicht.6 Man muss also nicht glauben, alle Religionen oder Weltanschauungen seien austauschbar oder gut. Es heißt vielmehr, dass man die Religionsfreiheit auch dann verteidigt, wenn man einen anderen Glauben für falsch oder gar dumm hält. Ebenso ist klar, dass ein liberaler Staat nicht alle Glaubensvorgaben schützen muss.7 Es gibt Missbräuche im Namen der Religionsfreiheit, beispielsweise die Beschneidung von Mädchen. Diese stellt eine Verstümmelung, ein Verbrechen dar. Solche konkreten Fragen zum Missbrauch der Religionsfreiheit sind aber nicht Thema dieser Schrift. Die zweite Bemerkung betrifft meinen persönlichen Glauben. Ich bin römisch-katholisch, habe also zunächst einmal ein eigenes Interesse daran, dass in der westlichen Welt die Religionsfreiheit fortbesteht. Dann aber geht es um mehr als die Verteidigung eines privaten Privilegs. Christen, und für Juden gilt das Gleiche, haben den Anspruch, dass der Glaube anderen Menschen gegenüber mitteilbar ist.8 Glaube ist für sie nicht irrational. Er will teilhaben an politischen Debatten, mitwirken an der Gestaltung der Gesellschaft. Ebenso ist für sie der Glaube nicht auf Vernunft reduzierbar. Er will eigenständig bleiben, ein Mysterium bewahren. Hier stellt sich also die alte Frage nach der Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube. Konkret für unser Thema heißt das:...


Rüegg, Michael
Der Autor
Michael Rüegg, geb. 1969, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Osteuropäische Geschichte in Zürich. 2014 erschien im Schwabe
Verlag seine Dissertation An den Grenzlinien der Wissenschaft. Zur Kritik fataler Zukunftsversprechen von Ganzheitsmedizin und Hirnforschung.

Michael Rüegg, geboren 1969, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Seine Dissertation An den Grenzlinien der Wissenschaft. Zur Kritik fataler Zukunftsversprechen von Ganzheitsmedizin und Hirnforschung erschien 2014 im Schwabe Verlag. Das Verhältnis von Glaube und Wissen, speziell von Christentum und Moderne, gehört zu den Hauptinteressen seines Denkens. Darin spiegelt sich auch die persönliche Auseinandersetzung mit dem Katholizismus.


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