Rüegger / Gysi | Handbuch sexualisierte Gewalt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 722 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm

Rüegger / Gysi Handbuch sexualisierte Gewalt

Therapie, Prävention und Strafverfolgung

E-Book, Deutsch, 722 Seiten, Format (B × H): 170 mm x 240 mm

ISBN: 978-3-456-75658-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Sexualisierte Gewalt ist nicht nur mit vielen Tabus verbunden, sondern bedeutet für die Opfer Schmerz, Ohnmacht, das Aushalten des Geschehenen und das Bewältigen der posttraumatischen Symptome danach. Viele schweigen, einige suchen Unterstützung in Beratung und Therapie und nur wenige strengen ein Strafverfahren an, wovon nur ein kleiner Teil, etwas weniger als 1/5, zur Verurteilung des Täters führt. Dabei ist von einem großen Dunkelfeld auszugehen. Bei der Verurteilung des Täters geht es nicht nur um eine angemessene Strafe; mindestens so wichtig ist die Reaktion des persönlichen Umfelds des Opfers sowie der Gesellschaft. Zugefügtes Unrecht muss benannt werden. Die Basis für eine Verurteilung bildet ein erfolgreiches Strafverfahren, welches das Opfer nicht erneut seine Ohnmacht erleben lässt und schlimmstenfalls retraumatisiert sowie einen fairen Umgang mit dem Täter gewährleistet. In den vergangenen Jahren wurde in vielen Ländern eine große Zahl von Maßnahmen zum verbesserten Vorgehen nach sexualisierter Gewalt vorgenommen. Das vorliegende Handbuch weist basierend auf dem neuesten Stand der psychologischen und psychiatrischen Forschung wie auch der Diskussion in Polizei und Justiz den Weg für ein optimales Vorgehen der verschiedenen Fachpersonen. Es trägt das optimale Vorgehen der verschiedenen Fachleute zusammen und fasst es prägnant zusammen.
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Zielgruppe


Psychiater, Psychologen, Staatsanwaltschaft, Jugendanwaltschaft, Polizei, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, Beratungsstellen, Gerichte, Frauenhäuser, Opferhilfe, Anwälte, Ärzte, Medien, Politiker


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.1
Psychotraumatologie in Sexualstrafverfahren
Jan Gysi Sexualstrafverfahren als ­besondere Herausforderung Sexualstrafverfahren sind für Polizei und Justiz besonders herausfordernde Prozesse (Schafran et al., 2011). Eine Untersuchung mit 42 US-amerikanischen Richtern ergab, dass Richter generell fanden, dass Sexualstrafverfahren schwieriger zu führen seien: aus legalen und technischen Gründen, aufgrund von besonderen persönlichen und emotionalen Herausforderungen, wegen der oft großen öffentlichen Aufmerksamkeit und des erhöhten öffentlichen Drucks (Bumby & Maddox, 1999). Einige Richter beschrieben in dieser Untersuchung, dass das Justizsystem zu wenig sensibel mit Opfern umgehe, dass die Beweisvorschriften Verurteilungen erschwerten und das Verbergen der Wahrheit unterstützten, und dass in der Justiz die psychische Störung der Täter mehr Beachtung finde als die Auswirkungen der Tat auf die Opfer. Schwierig sei im Weiteren, dass die Opfer oft nur ungenügend in Strafverfahren mitwirkten, dass die Glaubwürdigkeit der Opfer häufig schwierig einzuschätzen sei, und dass es in vielen Fällen Widersprüche bei den Beweisen gebe. Auch in Europa scheinen Sexualstrafverfahren eine besondere Herausforderung darzustellen. Ein Hinweis darauf ist der international niedrige Anteil der Verurteilungen nach Anzeigen von Sexualstraftaten. Bei einer Quote an Falschanzeigen unter 10% (Ferguson & Malouff, 2016; Lovett & Kelly, 2009) kommen wir in den deutschsprachigen Ländern auf eine Verurteilungsrate von knapp 20% [Prozentsatz der Verurteilungen in verschiedenen Ländern: Italien 27%, Frankreich 25%, Schweiz: 18%, Österreich: 17%, Deutschland: 13%, Schweden: 10% (Lovett & Kelly, 2009)]. Hochgerechnet würde dies ergeben, dass 70% der Strafverfahren eingestellt werden, obwohl eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung stattgefunden hat. Eine Untersuchung in 26 Ländern der EU zur Frage, zu welchem Zeitpunkt Verfahren eingestellt werden, ergab, dass 41% der Verfahren ohne Anhörung von Opfern und/oder Verdächtigen oder ohne Identifizierung des Verdächtigen eingestellt werden. In je einem weiteren Viertel der Verfahren erfolgte die Einstellung im weiteren Verlauf der Ermittlungen und vor Beendigung der Beweisaufnahme (z.B. wegen mangelnder Kooperation der Anzeigenden), respektive vor Erhebung einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft. In dieser Untersuchung wurden unzureichende Beweislage (30%) und Rückzug oder mangelnde Kooperation der Opfer (27%) als häufigste Gründe für den Abbruch von Verfahren gefunden (Lovett & Kelly, 2009). Faktoren beim Opfer, die zu einer Ver­urteilung des Angeklagten beitragen (Lovett & Kelly, 2009): Geschlecht weiblich Keine Behinderung/Beeinträchtigung Kein Alkoholkonsum Nachweisbare Spuren und Verletzungen Nähe zu Vergewaltigungsmythen Faktoren beim Angeklagten, die zu einer Verurteilung beitragen (Lovett & Kelly, 2009): Migrationshintergrund Alkoholkonsum Vorstrafen Fremdtäter (kein Partner oder Ex-Partner) Nähe zu Vergewaltigungsmythen Seit 1980 bietet das „National Judicial Education Program (NJEP)“ in den USA spezielle Weiterbildungen für Richter über die Grundlagen zu sexualisierter Gewalt an. In einer Umfrage bei Richtern, die diese Weiterbildungen besucht haben, wurde die Frage gestellt, was Richter gerne vor ihrem ersten Sexualstrafprozess gewusst hätten (Schafran et al., 2011). Insgesamt 14 der in dieser Befragung erwähnten Punkte werden in diesem Beitrag kurz vorgestellt und erläutert, zum Teil adaptiert auf die Gegebenheiten in Europa respektive Deutschland, Österreich und der Schweiz. 1. Vergewaltigungsmythen und Stigma­tisierungen als zentrales Hindernis Durch die gesamte Fachliteratur zu Sexualstrafdelikten (speziell in der englischsprachigen Literatur) zieht sich der Hinweis, dass Vergewaltigungsmythen und Stigmatisierungen nachweislich einen negativen Einfluss auf Strafverfahren haben, da sie aufgrund von Voreingenommenheit Misstrauen gegenüber Opfern fördern und in der Folge zu einem Mangel an Objektivität führen (IACP, 2011; Kelly, Lovett, & Regan, 2005; Lonsway & Archambault, 2006/2012; Lonsway, Archambault, & Berkowitz, 2007; Lovett & Kelly, 2009; Oregon, 2009; Schafran et al., 2011). Vergewaltigungsmythen sind vorurteilsbehaftete, stereotype oder falsche Annahmen über Vergewaltigung, Täter und Opfer von Vergewaltigungen (Beispiele für Vergewaltigungsmythen: „Wer vergewaltigt wird, ist immer irgendwie auch selber schuld“, „Die meisten Anzeigen sind falsch“). Opferfeindliche Voreinstellungen beeinflussen, wie Informationen aufgenommen und verarbeitet werden, welche Hinweise in welcher Art und Weise beachtetet werden, und welche Abklärungen erinnert werden. Diese Vergewaltigungsmythen können mit Fragebögen abgeklärt werden (Gerger, Kley, Bohner, & Siebler, 2013). Dieser Mangel an Objektivität und Neu­tralität als Folge der Beeinflussung durch Vergewaltigungsmythen muss nicht unbedingt bewusst ablaufen, er kann sich als unbewusster Prozess entwickeln. Fachleute können durchaus der Meinung sein, dass sie unvoreingenommen auf das Opfer zugehen, obwohl dies bei objektiver Betrachtung von außen nicht mehr der Fall ist. Verschiedene Studien haben Vergewaltigungsmythen sowohl in Polizei und Justiz wie auch in der Psychotherapie nachgewiesen (für eine Übersicht siehe Artikel 1.3 von B. Krahé und Kapitel 1.4 von S. Schwark et al.). Auch bei Rechtsanwälten konnten Vergewaltigungsmythen nachgewiesen werden. In einer Untersuchung fand Werner „einen direkten Zusammenhang zwischen der Aktivierung von Vergewaltigungsmythenakzeptanz und dem Commitment gegenüber einem potentiellen Vergewaltigungsopfer bei Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten“. Je mehr ein Rechtsvertreter in dieser Studie an Vergewaltigungs­mythen glaubte, desto schwächer war der Einsatz für die potentielle Mandantin. Das Ausmaß der Präsenz von Vergewaltigungsmythen zeigte dabei keinen Zusammenhang zu Geschlecht oder Dauer der Berufserfahrung des Rechtsvertreters. Daraus abgeleitet ergibt sich die Empfehlung für Opfer, sich lieber von einem männlichen Rechtsvertreter ohne Vergewaltigungsmythen als von einer Anwältin mit solchen falschen Vorstellungen vertreten zu lassen (Werner, 2010). Betroffene von sexualisierter Gewalt sind in der Regel darauf angewiesen, dass Opferberatungsstellen die von ihnen empfohlenen Rechtsvertreter aus­reichend auf fachliche Kompetenz und Wissen zu Vergewaltigungsmythen abgeklärt haben, da sie dies in einer Notsitua­tion und ohne entsprechende Kenntnisse normalerweise nicht selber herausfinden können. 2. Sexualdelikte sind Machtdelikte Ein zentraler Vergewaltigungsmythos ist die Annahme, dass es bei sexualisierter Gewalt primär um Sex gehe, statt um das Ausüben von Macht und Unterdrückung (Gerstendörfer, 2007). Neuere Konzepte erachten die sexuelle Handlung nur als einen Teilaspekt der kriminellen Handlung, der für sich genommen bereits tiefgreifende psychische und körperliche Konsequenzen für das Opfer hat (siehe auch Kapitel 2.3 von Y. Schlumpf & L. Jäncke sowie Kapitel 2.4 von C. Müller-Pfeiffer) (Herman, 1997; Huber, 2003a, 2003b; Van der Hart, Nijenhuis, & Steele, 2006). In obengenanntem Leitfaden für Richter schreiben Schafran et al: „Sexualstrafverfahren stellen eine außergewöhnliche Herausforderung für die Justiz dar. Dies, weil sie mit einer Vielzahl von tief verankerten ­stereotypen Vorstellungen und falschen Konzepten behaftet sind, welche Gerichtsverfahren aushöhlen können (…). Der weitverbreitete Irrglaube, dass es bei Vergewaltigungen um sexuelle Lust gehe – statt um Macht und Kontrolle –, beeinflusst jeden Aspekt des Umgangs des Justizsystems mit sexueller Gewalt (…). Solche Straftaten durch diese voreingenommene und falsch informierte Optik zu betrachten hat zu tief­greifenden fehlerhaften polizeilichen Ab­klärungen, Strafverfahren, Juryentscheiden, Medienberichten und Reaktionen der Öffentlichkeit geführt“ (Schafran et al., 2011). 3. Weshalb Opfer keine Anzeige erstatten Nicht nur die Verurteilungsrate ist interna­tional sehr niedrig. Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass nur ein kleiner Teil aller Sexualstraftaten überhaupt angezeigt werden. Wie D. Hellmann in diesem Buch schreibt (siehe Kapitel 1.2 von D. Hellmann), ist es schwierig, verlässliche Zahlen zur Prävalenz von sexualisierter Gewalt zu erheben. Generell können wir aber davon ausgehen, dass maximal etwa 20% aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung jemals zur Anzeige gebracht werden (Bundesrat, 2013; Carretta, Burgess & DeMarco, 2015; Tjaden & Thoennes, 2000, 2006). Ein zentrales Problem ist dabei, dass viele Opfer von Sexualstrafdelikten gar nie über ihre Gewalterfahrungen berichten, nicht einmal ihren Angehörigen oder Menschen in Helferberufen. In der „US National Women’s Study“ berichteten 28% der befragten Frauen, die angaben, als Kind verge­waltigt worden zu sein, dass sie nie mit jemandem darüber gesprochen hätten. 47% sprachen über einen Zeitraum von 5 Jahren...


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