E-Book, Deutsch, 600 Seiten
Ruff Ich und die anderen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25805-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 600 Seiten
ISBN: 978-3-446-25805-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mouse erwacht in Betten fremder Männer, ohne sich an den Weg dahin erinnern zu können. Andrew hingegen teilt seinen Körper mit einem sexbesessenen Teenager, einer tollen Tante, grummeligen Cousins und anderen Gestalten. Mit großem Einfühlungsvermögen und schrägem Humor erzählt Matt Ruff die Geschichte zweier junger Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung. Begleitet von jeder Menge "Personal" brechen die beiden zu einem wilden Road Trip in ihre verstörende Vergangenheit auf.
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Erstes Buch Andrew 1 Penny Driver lernte ich zwei Monate nach meinem achtundzwanzigsten Geburtstag kennen – oder zwei Monate nach meinem zweiten, je nachdem, wie man rechnen will. Jake war an dem Morgen, wie an fast jedem Morgen, als erster auf: Er stürmte bei Sonnenaufgang aus seinem Zimmer, polterte die Treppe hinunter ins Gemeinschaftszimmer, und der Lärm seiner Sprünge löste unter den übrigen Seelen des Hauses eine Aufwach-Kettenreaktion aus. Jake ist fünf Jahre alt, und zwar schon seit 1973, als er aus den Trümmern einer toten Seele namens Jacob hervorging; er ist ein erwachsener Fünfjähriger, aber im Grunde seines Herzens noch immer ein Kind, und Rücksichtnahme gehört nicht eben zu seinen Stärken. Jakes Getrampel riß Tante Sam aus dem Schlaf, und sie fluchte sofort los; Tante Sams Fluchen weckte Adam im Zimmer direkt nebenan; und Adam, der zwar durchaus alt genug wäre, um auf anderer Leute Schlafbedürfnis Rücksicht zu nehmen, sich aber oft dagegen entscheidet, stieß mehrere Variationen von indianischem Kriegsgeheul aus, bis mein Vater gegen die Wand hämmerte und ihm befahl, die Klappe zu halten. Spätestens da waren alle wach. Ich hätte versuchen können, das alles zu ignorieren. Im Gegensatz zu den anderen schlafe ich nicht im Haus, sondern im Körper, und wenn man im Körper ist, sind selbst die lautesten Hausgeräusche lediglich ferne Echos in Andy Gages Kopf, und sie lassen sich beliebig ausblenden – es sei denn, sie kommen von der Kanzel. Aber Adam weiß das natürlich, und jedesmal, wenn ich versuche, den Wecker zu überhören, ist er in Null Komma nix draußen auf der Kanzel und kräht wie ein Hahn, bis ich den zarten Wink verstanden habe. An manchen Tagen lasse ich ihn krähen, bis er heiser wird, nur damit er nicht vergißt, wer hier der Boß ist; aber an diesem bestimmten Morgen klappten meine Augen auf, sobald Jake den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Das Zimmer, in dem ich schlief – in dem der Körper schlief –, befand sich in einem renovierten Haus aus der Jahrhundertwende in Autumn Creek, Washington, vierzig Kilometer östlich von Seattle. Das Haus gehörte Mrs. Alice Winslow, die meinen Vater schon 1992 als Pensionsgast aufgenommen hatte, als es mich noch gar nicht gab. Wir hatten einen Teil des Erdgeschosses gemietet. Die Wohnung war groß, aber vollgerümpelt, was eine unvermeidliche Begleiterscheinung einer multiplen Persönlichkeit ist, selbst wenn man sich alle Mühe gibt, seine realen, materiellen Besitztümer nicht über ein notwendiges Minimum hinaus anwachsen zu lassen. Vom Bett aus sah ich, ohne auch nur den Kopf zu bewegen: Tante Sams Staffelei, Pinsel und Farben und zwei unbemalte Leinwände; Adams Skateboard; Jakes Plüschpanda; Seferis’ Kendoschwert; meine Bücher; meines Vaters Bücher; Jakes kleines Regal mit Büchern; Adams Playboy-Sammlung; Tante Sams Stapel von Reproduktionen; einen Farbfernseher mit Fernbedienung, der früher meinem Vater gehört hatte, aber mittlerweile in meinen Besitz übergegangen war; einen Videorecorder, der zu drei Fünfteln mir, drei Zehnteln Adam und einem Zehntel Jake gehörte (lange Geschichte); einen CD-Player, der zur Hälfte mir, zu einem Viertel meinem Vater, einem Achtel Tante Sam und je einem Sechzehntel Adam und Jake gehörte (noch längere Geschichte); ein Gestell mit CDs und Videokassetten unterschiedlicher Provenienz und Zugehörigkeit; und einen Rollkorb voll schmutziger Wäsche, auf die niemand Anspruch erheben wollte, die aber größtenteils meine war. Das alles konnte ich sehen, ohne auch nur die Augen zu bewegen; und außer dem Schlafzimmer gab es noch ein Wohnzimmer, einen großen begehbaren Schrank, ein Bad, das durchaus die Bezeichnung »Vollbad« verdient hätte (wenn Sie den Kalauer verzeihen), und die Küche, die wir uns mit Mrs. Winslow teilten. Die Küche war allerdings nicht so vollgerümpelt; Mrs. Winslow kochte uns die meisten Mahlzeiten und achtete streng darauf, daß unsere persönlichen Lebensmittelvorräte nicht mehr Platz beanspruchten als ein Kühlschrankfach und zwei Regale in der Speisekammer. Ich stand auf und verfügte uns ins Bad, damit das Morgenritual beginnen konnte. Als erstes kamen die Zähne dran. Aus unerfindlichen Gründen macht es Jake richtig Spaß, sie zu putzen, also laß ich ihn immer: Ich zog mich auf die Kanzel zurück und überließ ihm solange den Körper. Ich blieb allerdings wachsam. Wie schon gesagt, ist Jake ein Kind; Andrew Gages Körper aber ist erwachsen, eins siebzig groß, und er hängt auf Jakes Seele wie ein viel zu großer Anzug. Jake bewegt sich darin ziemlich unbeholfen und hat oft Schwierigkeiten, die Entfernung zwischen seinen Extremitäten und der Außenwelt richtig einzuschätzen; und da wir nun mal nur den einen Schädel haben, wäre es für uns alle tragisch, wenn er sich bücken müßte, um einen heruntergefallenen Zahnpastatubenverschluß aufzuheben, und sich dabei den Kopf am Waschbecken einschlüge. Also ließ ich ihn nicht aus den Augen. An diesem Morgen lief die Sache ohne Unfälle ab. Er putzte uns die Zähne mit gewohnter Gründlichkeit: hin und her, rauf und runter, ohne einen einzigen Zahn auszulassen, nicht mal einen von den problematischen ganz hinten. Ich wünschte, er könnte die Prozedur mit der Zahnseide auch gleich übernehmen, aber das ist denn doch ein bißchen zu schwierig für ihn. Ich nahm den Körper wieder an mich und absolvierte eine kurze Sitzung auf dem Klo. Das ist meistens meine Aufgabe, gelegentlich bittet mein Vater allerdings, sie übernehmen zu dürfen – sich genüßlich auszukacken, sagt er, gehört zu den wenigen Dingen von draußen, die er wirklich vermißt. Adam stellt sich manchmal ebenfalls zur Verfügung, gewöhnlich unmittelbar nachdem der neuste Playboy gekommen ist; aber alles in allem lasse ich ihn nicht häufiger als ein-, zweimal im Monat ran, weil die anderen sich aufregen könnten. Nach dem Stuhlgang kam die Morgengymnastik. Ich legte mich auf die Badematte und übergab an Seferis, damit er sein Training absolvierte: zweihundert Sit-ups, gefolgt von zweihundert Liegestützen, davon die letzten hundert abwechselnd mit dem rechten und dem linken Arm. Als ich von der Kanzel zurückkehrte, empfingen mich schmerzende Muskeln und schweißnasse Haut, aber ich beklagte mich nicht. Der Körper hat einen richtigen Waschbrettbauch, und ich kann schwere Lasten heben. Als nächstes ließ ich Tante Sam und Adam je zwei Minuten lang unter die Dusche. Früher hatten sie sich darin abgewechselt, wer zuerst durfte, aber Tante Sam mag das Wasser viel heißer als Adam, und Adam »vergaß« ständig, die Temperatur entsprechend zu regulieren, bevor er den Körper abgab, also heißt es jetzt jeden Morgen: erst Tante Sam, dann Adam, dann ich – und Adam weiß ganz genau: wenn er mir Eiswasser oder Seife in den Augen hinterläßt, kann er sich sein Duschprivileg für eine Woche abschminken. Als ich an die Reihe kam, seifte ich mich rasch ein (die anderen geben sich eher selten mit richtigem Waschen ab), spülte und trocknete mich ab und ging dann ins Schlafzimmer zurück, um mich anzuziehen. Mein Vater kam auf die Kanzel heraus, um mir bei der Kleiderwahl zu helfen. Außerhalb der Wohnung ist der Körper ausschließlich mir unterstellt, also müßte es eigentlich in meiner alleinigen Verantwortung liegen, was tagsüber getragen wird, aber Tante Sam meint, ich hätte, was Kleidung anbelangt, nicht den geringsten Geschmack, und ich glaube, mein Vater hat deswegen irgendwie Schuldgefühle. »Nicht das Hemd«, riet er, nachdem ich die Sachen aufs Bett gelegt hatte. »Beißt es sich mit der Hose?« fragte ich und versuchte, mich an die Faustregel zu erinnern. »Ich dachte, Bluejeans passen zu allem.« »Tun sie auch«, sagte mein Vater. »Aber manche Sachen beißen sich mit allem, sogar mit Bluejeans.« »Du findest es häßlich?« Ich hob das Hemd hoch und sah es mir kritischer an. Schottenkaro: rot und grün auf knallgelbem Grund. Ich hatte es mir nebst ein paar anderen Schnäppchen im Winterschlußverkauf besorgt, und ich fand, daß es fröhlich aussah. »Es ist häßlich«, sagte mein Vater. »Wenn es dir wirklich gefällt, kannst du es ja in der Wohnung tragen, aber ich würde dir nicht empfehlen, es der breiteren Öffentlichkeit zuzumuten.« Ich war unschlüssig. Das Hemd gefiel mir tatsächlich, und ich kann es nicht ausstehen, auf etwas zu verzichten, bloß weil es einen schlechten Eindruck auf andere Leute machen könnte. Andererseits habe ich ein starkes Bedürfnis, einen guten Eindruck zu machen. »Es ist deine Entscheidung«, sagte mein Vater geduldig. »Na gut«, sagte ich, immer noch widerwillig. »Dann zieh ich eben was anderes an.« Wir zogen uns fertig an. Schließlich band ich mir die Uhr um und verglich die Uhrzeit mit dem Wecker auf meinem Nachttisch. 7:07, sagte der Wecker, MON 21. APR. Was Wochentag und Datum betraf, war meine Uhr derselben Meinung, was die Uhrzeit anging, weniger. »Zwei Minuten auseinander«, stellte mein Vater fest. Ich zuckte die Achseln. »Die Armbanduhr geht nach«, erinnerte ich ihn. »Dann solltest du sie reparieren lassen.« »Ist nicht nötig. Sie ist gut so, wie sie ist.« »Die Uhr vom Videorecorder solltest du auch in Ordnung bringen.« Das war ein ewiger Zankapfel zwischen uns beiden. Mein Vater hatte früher Dutzende von Uhren gehabt, die verhindern sollten, daß er Zeit verpaßte; mir bereitete das allerdings weniger Kopfzerbrechen, da mir meines Wissens nie auch nur eine einzige Sekunde entgangen war, und deswegen hatte ich den Bestand auf eine Uhr pro Zimmer reduziert. Diese Entscheidung hatte Anlaß zu erheblichen Auseinandersetzungen...