E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Ruhe Mount Caravan
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-401-80569-6
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express:
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-401-80569-6
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Die Neonlampe an der Decke surrte vertraut gegen die Stille des Flures an. Jake lehnte an der Wand neben der Klassenzimmertür, aber sosehr er auch die Ohren spitzte, er hörte nicht das leiseste Wort dahinter. Zwei seiner Mitschüler saßen stillschweigend auf den Stühlen neben ihm. Nervös schaute Jake aus dem Fenster, das ihm gegenüberlag. Draußen verwandelte die diesige Luft die Welt in einen alten Schwarz-Weiß-Film – und genau so fühlte sich hier drinnen auch alles an. Mit einem Seitenblick zu Tyron-»Ich stecke gerne Dinge in Brand«-McShane und dem achtjährigen Mädchen, das seit letztem Monat alle nur noch »Colabomben-Klara« nannten, ließ sich Jake auf einen der unbequemen Holzstühle fallen. Auch wenn ihm keiner gesagt hatte, warum die Heimleitung sie alle ausgerechnet hier vor den völlig verstaubten Leseraum zitiert hatte, lag die Sache auf der Hand: Sie würden Jake rausschmeißen. Ihn, Tyron und Klara, die offiziell größten Problemkinder in St. August. Dabei hatte er diese Woche nicht mal was angestellt. Jake seufzte, zog den Reißverschluss seines grauen Kapuzenpullovers bis zum Kinn hoch und rieb sich die Arme. Selbst wenn die Heizungen maximal aufgedreht waren, hier fröstelte man trotzdem ständig. Von überallher schien sich der Wind durch die Ritzen ins Gebäude hineinzudrücken. Rausschmiss hin oder her, er hasste es zu warten. Sein gesamtes bescheuertes Leben wartete er schon. Immer in der Hoffnung, dass sich endlich etwas ändern würde. Und mit etwas meinte er: am besten gleich alles auf einmal. Seit einem Jahr wohnte er in St. August, der Sorte Heim, in das man kam, wenn alle anderen Kinderheime Englands einen nicht mehr wollten. Okay, St. August war weder wirklich besser noch schlechter als die anderen Heime davor – auch hier gab es ätzende Betreuer, durchgelegene Matratzen und Essen wie Pappe. Nur dass eben die meisten Kinder entweder Schlägertypen waren, Sachen abfackelten oder in ihrer Freizeit dreißig Colaflaschen auf einmal zum Platzen brachten. Wenn man mal eine Woche ohne Abreibung in irgendeiner Form verbringen wollte, musste man sich schon ziemlich schlau anstellen. Und jetzt wurde er sogar hier rausgeworfen. Was soll’s, dachte Jake missmutig. Er war mittlerweile sowieso davon überzeugt, nirgends richtig hineinzupassen. Deshalb gab er sich auch keine große Mühe mehr, Freunde zu finden oder sich einzureden, dass das nächste Heim jetzt sein neues Zuhause sein würde. Inzwischen sprachen ihn die Lehrer schon gar nicht mehr auf seine vielen Heimwechsel an und Jake versuchte auch nicht, es zu erklären. Er hatte eben seine Schwierigkeiten damit, das zu tun, was von ihm erwartet wurde. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihm meistens genau die Bemerkungen herausrutschten, die niemand hören wollte. In jedes Fettnäpfchen, in das er treten konnte, trat er hundertprozentig. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem jede Einrichtung ihn wieder loswerden wollte. Und dann zog er um. Er konnte die Uhr danach stellen: Im Einjahrestakt ging es von Heim zu Heim und in St. August war er nun schon fast zehn Monate gewesen. Tyron glotzte ihn gehässig von der Seite an. »Was guckst du denn so, Roberts? War doch klar, dass deine komische Nummer mit Trottel-Dave noch Folgen hat.« Jake drehte sich langsam zu Tyron um. Wie er diesen Typen hasste. »Mann, ihr habt ihn einfach angelogen, damit ihr ihn ins Wasser schubsen könnt. Dabei weiß jeder, dass Dave nicht schwimmen kann!« Tyron zuckte nur die Schulter und grinste. »Der wär schon nicht abgesoffen. Wegen deiner idiotischen Aktion hat er jetzt aber eine fette Beule am Kopf.« »Ja, ist ganz toll, wenn ein anderer den Ärger kassiert für den Mist, den man selbst verzapft hat. Ich wollte nur helfen …« Tyron grunzte zufrieden. »Und wofür schmeißen sie dich wohl raus, hm?« Jake drehte sich genervt weg. »Dafür, dass du die St.-Martins-Laternen der Drittklässler abgefackelt hast? Tolle Leistung.« Tyrons selbstgefällige Miene verpuffte. »Ach, halt doch die Klappe, Jakielein.« Klara hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Leise nuschelte sie in ihre Wasserflasche: »Ich will nicht rausfliegen. Das mit der Cola war doch nur ein Versehen, echt …« Hinter der Tür vom Leseraum drückte jemand die Klinke hinunter. Knarrend schob sie sich auf und ein Mädchen lief sichtlich irritiert heraus. Jake hatte sie schon ein paar Mal hier gesehen. Normalerweise machte sich nach Gesprächen mit der Heimleitung immer ein überlegenes Schmunzeln in ihrem Gesicht breit, aber jetzt wirkte sie nicht so wie sonst, wenn sie eine Abmahnung kassiert hatte. Ganz im Gegenteil, heute sah sie sichtlich mitgenommen aus. Anscheinend nahm St. August gleich Abschied von mehreren Schülern. »Viel Spaß mit den Verrückten«, murmelte das Mädchen und verschwand in Richtung Aula. Direkt dahinter erschien eine Frau in einem schwarzen Kostüm, die Jake noch nie zuvor gesehen hatte. Sie winkte ihn näher. »Jake Roberts?« Während sie ihn musterte, kringelten sich um ihre grünen Augen unzählige Fältchen. Ihr blondes kinnlanges Haar lag so glatt um ihren Kopf, als hätte sie es gebügelt. Genau so, dachte Jake, sah eine Geheimagentin aus … oder die Chefin irgendeiner riesigen Firma. Er nickte steif und folgte ihr in den Raum hinein. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass Mrs Stacy, die Heimleitung von St. August, nirgends zu sehen war. Seltsam. Was sollte das Ganze? »Mrs Stacy war so nett, für dich heute einen Termin mit uns zu vereinbaren. Ich bin Mrs Dana Claus, die Schulleiterin des Mount Caravan Internats.« Sie schüttelte Jake die Hand und winkte ihn weiter zu einem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Jake glaubte, sich verhört zu haben. Internat? Warum ein Internat? »Mr Brookstone und Lady Honoray freuen sich sehr mit mir, dich heute kennenzulernen.« Mrs Claus zeigte mit einer raschen Handbewegung hinter sich in den Raum, in dem eine faltige Frau mit einem Berg voller weißer Locken auf dem Kopf und ein hochgewachsener Mann in Steppweste und ausgebeulten Cordhosen auf zwei Stühlen saßen und ihm neugierige Blicke zuwarfen. Jake fühlte sich plötzlich wie auf einer Theaterbühne. Mrs Claus’ breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Wir würden heute sehr gerne einen Aufnahmetest für unsere Schule mit dir machen.« »Einen … Aufnahmetest?«, wiederholte Jake ungläubig. »Ich soll an Ihre Schule? Ich dachte, ich bin wegen der Sache mit Dave hier …« Mrs Claus lächelte immer noch. »Ganz genau.« Sie wirkte fast amüsiert. »Mrs Stacy hat uns viel über dich erzählt. Und wir glauben, dass du ganz wunderbar in unsere Schule passen könntest.« Oh Gott, das konnte nur bedeuten: Die Leute wollten ihn in eins dieser Schwererziehbaren-Internate verfrachten. »Ich bin aber gar nicht vorbereitet.« »Vorbereitung ist in diesem Fall auch nicht nötig«, gab Mrs Claus zurück. »Der Test wird nicht lange dauern. Alles, worum wir dich bitten, ist, uns vorzulesen, was in diesem Buch steht.« Erst jetzt fiel Jake das überdimensionierte Samtkissen auf, das vor ihm auf dem Tisch lag, und halb darin versunken ein Buch. Es wirkte abgegriffen und viel zu groß. Auf dem ledernen Einband waren zwischen ein paar kryptischen Zeichen ein goldenes »S« und ein »F« eingeprägt. Den Buchdeckel umrahmten fein gearbeitete Goldbeschläge. Mit einem Klack öffnete Mrs Claus die große Schnalle, die es verschlossen hielt. Leise raschelten die vergilbten Seiten vor Jake, während die Frau darin vor- und zurückblätterte. Schließlich schlug sie eine Seite auf und bat ihn näher heran. Jake überlegte für einen kurzen Moment, ob er richtig gehört hatte. Was für ein Test war das denn? Eine Seite vorlesen? Ernsthaft? Aber Mrs Claus nickte ihm nur aufmunternd zu und zeigte wieder auf das Buch. Ungläubig beugte Jake sich darüber. Das Papier war an den Rändern ganz speckig und roch nach einer längst vergangenen Zeit. Er schüttelte die Fragen aus seinem Kopf und begann, die ersten Wörter laut vorzulesen: D…as Buc…h be…g…lei…t…et d…ich u…nd füh…rt … Bevor er den Satz zu Ende lesen konnte, verschwamm plötzlich die Tinte vor seinen Augen. Jake rieb sich die Stirn und versuchte, sich erneut auf das Geschriebene zu konzentrieren. Obwohl er die Augen weit aufriss, erkannte er rein gar nichts mehr auf dem Papier. Es war, als würde er durch Wasser blicken, das alles zu einem unscharfen Brei verlaufen ließ. Kurz hob Jake den Kopf und bemerkte, dass nicht nur Mrs Claus, sondern auch die übrigen Lehrer die Luft anhielten. Er spürte erwartungsvolle Blicke auf sich. Vor allem die alte Frau mit den weißen Locken, die bei näherem Hinsehen irgendwie gruselig aussah, war von ihrem Platz aufgestanden und musterte ihn jetzt mit bohrendem Blick. Das war ein neues Gefühl. Noch nie hatte ihn irgendjemand mit großer Erwartung angesehen. Jake fühlte, wie ihn das total durcheinanderbrachte. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er einen Test nicht verbocken. Er begriff zwar nicht, warum es ihm auf einmal so wichtig war, aber er wollte diese Sache unbedingt gut machen. Immerhin war das hier der erste Aufnahmetest, an dem er je teilnehmen durfte. Jake beugte sich wieder über das Buch und versuchte weiterzulesen, doch die Buchstaben verschwammen inzwischen nicht nur unscharf auf dem Papier, sie dehnten sich aus, zogen sich zusammen und verschmolzen miteinander. Jake spürte, wie ihm von dem Wirrwarr übel wurde. Seine Knie fühlten sich plötzlich weich an und er griff zur Tischkante, um sich an ihr festzuhalten. Was war hier eigentlich los? Da waren Bilder....